Kapitel 15

Sie hatte sich noch nicht ausgezogen, sondern stand an dem großen Atelierfenster, hatte eine der verschiebbaren Scheiben zur Seite gedrückt und starrte in die Nacht.

Für Monika Horten war das Leben zu einem Rätsel geworden. Jede Stunde, die sie allein war, füllte sie aus mit dem Willen, wegzugehen, zu flüchten vor ihrer Verstrickung, sich irgendwo zu verkriechen, wo man vergessen konnte und weit, weit weg war von aller Schuld und aller Scham. Aber dann stand Ernst Dahlmann wieder vor ihr, sein Lächeln bezauberte, seine Hände streichelten sie, seine Umarmung war wie ein Hineinziehen in selige Geborgenheit . und wieder fand sie sich in diesem Rätsel, warum sie das alles tat, duldete und mitmachte, warum sie ihre Schwester betrog und ihren eigenen Willen verriet. Sie wußte darauf keine Antwort.

Ein Windzug, der ihre Haare flattern ließ, zwang sie, sich umzudrehen.

Die Tür zur Diele war aufgesprungen. Jemand stand in der Finsternis des Zimmers, vor dem dunkelroten Vorhang, der tagsüber die Bettcouch in der Ecke verdeckte.

»Ernst -«, fragte Monika leise und stützte sich gegen die Glaswand.

»Nein -«

»Luise!« Es war ein erstickter Schrei. »Wie ... wie kommst du hier herauf?! Was willst du.«

Langsam trat Luise Dahlmann aus dem Schatten der Nische. Mit ruhigen, sicheren Schritten ging sie auf ihre erstarrte Schwester zu, hielt ihr die Tasche hin und ließ sie, als Monika nicht zugriff, auf den kleinen Tisch fallen, der neben der Staffelei stand und als Palettenablage diente.

»Deine Tasche, Moni -«, sagte Luise freundlich und nickte ihr zu. »Eine schöne Krokotasche übrigens . sie könnte mir auch gefallen.«

Sie sah ihre Schwester noch einmal an, dieses Mal stumm, mit zur Seite geneigtem Kopf, als betrachte sie ein merkwürdiges Bild, in das man einen Sinn hineinlegen muß. Dann wandte sie sich ab und ging hinaus . ohne Zögern, ohne Tasten, ja, sie machte sogar einen Bogen um einen Stapel Zeichenpapier, der auf dem Boden lag.

Mit entsetzensweiten Augen starrte ihr Monika nach. Erst als die Tür wieder zuklappte, löste sich die Lähmung von ihr. Sie stürzte vor, zur Tür, wollte sie aufreißen, wollte etwas schreien . Hilfe! Oder Ernst! Oder Luise! . Es war ihr, als verbrenne sie innerlich, aber dann fehlte ihr doch die Kraft, die Klinke herunterzudrücken und hinaus auf die Treppe zu laufen. Sie warf sich auf die Couch, die Decke über ihr begann sich zu drehen, das Fenster tanzte, die Staffelei, die Sterne am Nachthimmel . mein Herz, dachte sie noch . mein Herz setzt aus, ich sterbe vor Angst . ich sterbe.

Vor der Tür, an das Treppengeländer gelehnt, wartete Luise Dahlmann. Sie wartete darauf, daß Monika herauskam. Als nichts geschah, ging sie zur Tür und legte das Ohr dagegen. Im Atelier war alles still. Kein Schritt, kein Geräusch, nichts.

Sie ist ohnmächtig geworden, dachte Luise. Morgen wird sie zu Ernst sagen: Sie war da, in meinem Atelier, sie hat mir die Tasche gebracht, die Krokotasche, und sie hat gesagt, daß es eine Krokotasche ist. Sie kann sehen, sie kann sehen. Woher soll sie wissen, daß es eine helle Krokotasche ist, die du mir vor drei Wochen erst geschenkt hast.

Und was wird er dann tun?

Luise ging zurück in die Wohnung. Sie wußte nicht, was sie mit der angefangenen Nacht beginnen sollte. Als Blinde hätte sie jetzt zu Bett gehen müssen . als sehende Rache aber trieb sie die Unruhe in der Wohnung umher. Wie ein Raubtier schritt sie den Käfig ab, zu dem das Zimmer geworden war . immer rundherum, an der Wand entlang, die Fäuste gegen die Brust gedrückt, mit leeren Augen, die in den Höhlen brannten, weil die Tränen in der Glut des Hasses wegtrockneten.

Weit nach Mitternacht kam Ernst Dahlmann aus der Apotheke herauf. Er war erstaunt, Luise noch im Zimmer zu finden. Sie spielte sich Tonbänder mit Opern vor. Unter dem Arm trug er eine neue Konstruktion, die er gebastelt hatte und nun auf ihre Wirkung ausprobieren wollte.

»Du bist noch auf, Luiserl?« fragte er und stellte den Apparat auf den Tisch. Es war eine Art Metronom, nur schwang kein Zeiger tik-kend hin und her, sondern ein kleiner Eisenbolzen schlug rhythmisch gegen ein dickes Holzstück. Es klang, als hacke ein Specht seine Höhle in einen Baum. Betrieben wurde der simple Mechanismus durch eine Taschenlampenbatterie. Luise sah das Gerät an, während Dahlmann an den Barschrank ging und sich einen großen Kognak einschenkte.

Welche teuflische Phantasie er entwickelt^ dachte sie. >Er war schon immer ein guter Mechaniker. Man sieht ihm an, wie ehrlich er sich freut, solch eine Satanerie erfunden zu haben.<

»Warum gehst du nicht schlafen?« fragte Dahlmann.

»Ich kann nicht, Ernsti -«

»Nimm eine Dahlodorm -«

»Ich habe so eine innere Unruhe . ich weiß nicht, warum.«

»Die Nerven. Nur die Nerven.« Ernst Dahlmann legte die Hände über seinen künstlichen Specht. Ab morgen wird er klopfen, dachte er. Schon morgen früh, beim Kaffeetrinken, wird es durch den Raum klingen. Tack-tack-tack . immer und immer wieder kleine Hammerschläge auf ihr Hirn, und wir werden sagen: Nein, wir hören nichts. Sollen wir nicht besser doch einen Arzt holen? Wieder Dr. Vierweg? Er kennt sich aus mit den Nerven -

»Komm, leg dich hin«, sagte er laut. Er faßte Luise um die Schulter und führte sie in das Schlafzimmer. Er half ihr sogar beim Ausziehen, und sie machte sich steif, als er sie berührte. Er spürte die Abwehr und zog die Hände zurück.

Wie ein Kind deckte er sie zu, küßte sie auf die Stirn und blieb unschlüssig auf der Bettkante sitzen. Luise beobachtete ihn aus halbgeschlossenen Augen. Die Angst lag ihr wie ein Zentnergewicht auf der Brust, er könne sie wieder in den Arm nehmen und den liebenden Ehemann spielen. Zu der Angst mischte sich der Ekel vor ihm, vor diesem Körper, von dem sie geglaubt hatte, daß er ihr allein gehörte und den sie nun teilte mit der eigenen Schwester. Ein Körper, an dem sie jede Stelle kannte, das Geheimnis einer Ehe, an dem jetzt eine andere Frau teilnahm, die genauso liebevoll über diesen Körper streichelte und sich in die Wärme schmiegte, wie sie es getan hatte. Dieser Gedanke allein konnte sie wahnsinnig machen, trieb ihr das Blut in die Schläfen und ließ ihren Leib zittern.

Ernst Dahlmann schien sich entschieden zu haben. Er erhob sich von der Bettkante, sah noch einmal auf die einschlafende Luise und verließ dann das Schlafzimmer.

Im Wohnraum startete er seine Generalprobe. Er stellte das Gerät auf den Schrank, drückte einen kleinen Kippschalter herunter und schob wartend die Unterlippe vor.

Das Hämmerchen knallte nach vorn gegen das Holz, Batterie, Unterbrecher, Federzug arbeiteten einwandfrei. Der künstliche Specht klopfte und hämmerte.

Tack-tack-tack

Dahlmann knipste den Apparat wieder aus. Dann trank er noch einen Kognak, sah auf die Uhr und beschloß, entgegen seiner Absicht, in der Apotheke zu bleiben, doch hinauf zu Monika zu gehen und nach ihr zu sehen. Um diese Stunde kamen erfahrungsgemäß kaum Nachtkunden ... die Zeit zwischen ein und drei Uhr ist immer ein toter Punkt. Eine Viertelstunde Liebe war dabei zu erobern.

Luise hörte, wie er hinauf ins Atelier ging. Sie setzte sich im Bett hoch und lauschte.

Die Tür klappte, aber schon kurz darauf fiel sie wieder zu. Dahlmann kam ins Schlafzimmer, kaum, daß sich Luise wieder schlafend stellen konnte. Er sah verwirrt aus, ratlos, ging ins Bad, ließ Wasser in ein Glas laufen und schluckte anscheinend eine Tablette zur Beruhigung. Dann ging er wieder hinaus, hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich unter die Stehlampe.

Das Atelier war leer gewesen. Monika war nicht mehr da. Auf der Staffelei lag ein Brief. Ein kurzes Schreiben, das Dahlmann als völlig verworren ansah:

»Bitte, suche mich nicht. Ich komme nie mehr zurück. Ich weiß jetzt, daß Luise sehen kann. Ich weiß es ganz sicher. Sie war bei mir, hier im Atelier. Diese Nacht. Wir haben uns schändlich benommen, ich schäme mich vor mir selbst, ich kann in keinen Spiegel mehr sehen... Was immerauch Du jetzt tun wirst, denke daran: Luise kann sehen!

Monika.«

Ernst Dahlmann las diesen Brief mehrmals, und je öfter er die wenigen Zeilen überflog, um so sicherer war er sich, daß Monikas Nerven einfach durchgegangen waren und daß sie wiederkommen würde, wenn sie sich beruhig hatte. Einzig und allein der Satz: »Sie war bei mir, hier im Atelier. Diese Nacht.«, stimmte ihn nachdenklich und machte ihn irgendwie unsicher.

Er nahm den Brief und ging zurück ins Schlafzimmer. Er drehte das volle Licht an und richtete den Schein der Nachttischlampe auf das Gesicht Luises. Sie sieht und merkt es ja nicht, dachte er dabei. Sie lebt in ewiger Nacht.

Er faßte sie an die Schulter und rüttelte sie. »Luiserl!« rief er. »Luiserl.«

Luise tat, als wache sie auf. Sie starrte in das grelle Licht, ohne ein Zucken, ohne ein Zusammenkneifen der Augen. Es kostete un-menschliche Kraft, in diese Grellheit hineinzustieren, ohne sich abzuwenden oder mindestens die Lider zu schließen.

»Ja ... was ist denn, Ernsti. Wie spät ist es denn? Ist schon Morgen?« Sie stützte sich auf. Sie sah den Brief Monikas in seiner Hand, und sie wußte plötzlich, daß sie allein im Hause waren. Dahlmann hielt ihr den Brief vor die Augen .sie blickte daran vorbei, so schwer es ihr fiel. Mit einem Seufzen lehnte sich Dahlmann zurück und zerknüllte den Brief zwischen den Fingern.

Sie sieht nichts! Wenn alles so sicher wäre wie das! Nur ein Blinder kann in dieses grelle Licht starren, nur eine Blinde wirft keinen Blick auf den Brief der erkannten Rivalin.

»Es ist nichts, gar nichts, Luiserl.«, sagte Dahlmann heiser. »Als ich hereinkam, hast du im Schlaf gestöhnt. Da habe ich dich geweckt. Hast du geträumt.?«

»Nein. Ich habe fest geschlafen.«

»Dann schlaf weiter, Luiserl.« Er küßte sie auf die Augen. »Und wenn du träumst . dann bitte nur von mir.«

Sie nickte und legte sich auf die Seite. Er löschte wieder alle Lichter und ging hinunter in die Apotheke.

Du Lump, dachte sie. Du gemeiner Schuft.

O mein Gott, womit habe ich das verdient?

Und auf einmal konnte sie auch wieder weinen.

Am nächsten Tag entfaltete Dahlmann eine rege Aktivität.

Zunächst verzichtete er nicht auf den Effekt, seinen kleinen künstlichen Specht tacken zu lassen. Beim Frühstück hämmerte er lustig vom Schrank herab, und Luise vollbrachte eine schauspielerische Meisterleistung, indem sie sich die Ohren zuhielt und immer wieder rief:»Es klopft . es klopft. Hörst du es denn nicht?«

Dahlmann verneinte und rief Dr. Vierweg an. »Bitte, kommen Sie doch heute nachmittag vorbei, Doktor«, sagte er im Beisein Luises. »Meine Frau fühlt sich nicht wohl. Nein, kein Ticken . diesmal ist es ein Klopfen.« Er wandte sich zu Luise um. »Hörst du es noch immer, Liebes?«

»Ja -« Dahlmann hob den Hörer wieder ans Ohr.

»Meine Frau sagt eben ja, Doktor. Dabei ist es hier ganz still. Ja, danke. Gegen sechzehn Uhr kommen Sie ... danke, Doktor -« Trotz der Müdigkeit, die durch den Nachtdienst und die Erregung über den Weggang Monikas über ihm lag, fuhr er am Vormittag zu Rechtsanwalt Dr. Kutscher.

Der Anwalt schüttete sich einen Kognak ein, als Dahlmann eingelassen wurde.

»Alkohol am frühen Morgen, Doktor?« lachte Dahlmann.

»Es gibt Klienten, die man nur mit umnebeltem Gehirn ertragen kann -« Dr. Kutscher zeigte mit dem Glas auf Dahlmann und dann auf einen Sessel. »Ruhen Sie sich aus. Sie sehen übernächtigt aus.«

Dahlmann blieb stehen, seine gute Laune verflog. »Sie haben mich nur noch wenige Wochen zu ertragen«, sagte er bissig. »Und dann den einen Tag, an dem ich Ihnen den Scheck für Ihre Bemühungen überreiche -«

»Ich habe mir da einiges überlegt.« Dr. Kutscher setzte sich hinter seinen Schreibtisch und schuf damit eine deutliche Schranke zwischen sich und Dahlmann. »Kennen Sie Friedrich August?«

»Was soll der Blödsinn?!«

»Friedrich August war König von Sachsen. Als er 1918 abdankte, sagte er einen klassischen Satz, der es wert wäre, als elftes Gebot zu gelten: >Macht euren Dreck alleene .<« Dr. Kutscher beugte sich zu Dahlmann vor. »Ich danke ebenfalls ab und verabschiede mich von Ihnen mit diesem königlichen Spruch -«

Ernst Dahlmann biß die Zähne zusammen. Die erniedrigende Behandlung, die er erfuhr, erregte ihn weniger als die Tatsache, daß er jetzt ohne Anwalt dastand.

»Sie lehnen meine Mandantschaft ab -«

»Ihre Klugheit ist verblüffend.« »Und warum?«

»Bitte ersparen Sie mir, Ihnen Erklärungen zu geben, die einige Paragraphen des Strafgesetzbuches verletzen.«

»Sie verteidigen Mörder und Diebe, Ganoven und Zuhälter, Huren und Einbrecher . und hier wollen Sie auf einmal Skrupel haben?!« schrie Dahlmann.

Dr. Kutscher nickte mehrmals. »Genau! Von einem Mörder weiß ich - er hat getötet. Ein Zuhälter kassiert Geld von seiner Mieze, eine Hure vertritt das älteste ambulante Gewerbe, ein Dieb hat geklaut . lauter Tatsachen! Sie aber bleiben anonym, und ich soll Ihnen helfen, nicht aus einer Patsche herauszukommen, sondern einen anderen, Ihre Frau, in den Dreck zu ziehen! Ich soll nicht verteidigen, ich soll mitschuldig werden! Lieber Herr Dahlmann - Sie sehen, zu welcher Höflichkeit ich fähig bin, Sie auch noch >lieb< zu nennen - das kann mit Geld nie bezahlt werden, das ist ein so schmutziges Ansinnen, daß ich versucht bin, Sie einfach hinauszuwerfen.«

Dahlmann atmete schwer. Er war hochrot geworden und zog nervös an seiner Krawatte. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie zur Schweigsamkeit verpflichtet sind.«

»Leider!«

Dahlmann drehte sich schroff um. »Auf Wiedersehen!« keuchte er. Dr. Kutscher hob abwehrend beide Hände.

»Um Himmels willen, bloß das nicht!«

Als Dahlmann hinaus war, trank er noch einen großen Kognak. Auch wenn er es nicht gewollt hatte . er hatte sich mehr aufgeregt, als es wert war. Doch kam er sich erleichtert vor, auch wenn es ihn einige tausend Mark kostete.

Bevor Ernst Dahlmann sich mit der Tatsache befaßte, einen neuen Anwalt zu suchen, rief er aus der Telefonzelle eines Restaurants einen Augenarzt an.

»Ich habe nur eine Frage, Doktor«, sagte er. »Kann man feststellen, ob jemand blind ist oder dieses Blindsein nur simuliert?«

»Wer spricht dort, bitte?« fragte der Augenarzt zurück. Seine Stim-me klang verwundert.

Dahlmann hatte auch diese Frage im voraus überlegt. Seine Antwort kam unverfänglich korrekt.

»Hier spricht Oberinspektor Barth vom Städtischen Ordnungsamt. Wir haben einen Bettler aufgegriffen, der behauptet, blind zu sein, und auch als Blinder bettelte. Sein Benehmen aber ist so, als ob er sehen könne. Was haben wir hier für Möglichkeiten, die Wahrheit zu erfahren?«

Der Augenarzt zögerte und dachte nach. Dahlmann wurde unruhig. Es war möglich, daß der Arzt sich über einen zweiten Apparat mit dem Ordnungsamt in Verbindung setzte.

»Das ist einfach und wiederum nicht«, sagte endlich der Augenarzt. »Man kann durch Augenspiegel, Linsenuntersuchungen und andere Methoden die Funktionsfähigkeit des Auges feststellen. Schwieriger wird es schon, wenn man den Sehnerv untersuchen will. Im allgemeinen ist man gerade bei Augenuntersuchungen auf die Mithilfe des Patienten, also auf dessen Wahrnehmungen angewiesen -«

»Danke, Doktor.« Dahlmann hängte ein. Die Auskunft war unbefriedigend. Sie war sogar in hohem Maße erschreckend. Sie bestätigte, was Monika als fest annahm: Luise war in der Lage, die Blinde zu spielen, und konnte in Wirklichkeit sehen. Woher aber konnte sie sehen? War in Montreux etwas mit ihr geschehen?

Dahlmann fuhr zu Fräulein Erna Pleschke. Sie wohnte in einem möblierten Zimmer in der Nähe des Messegeländes und war nicht zu Hause. Die Wirtin wußte auch nicht, wohin sie gegangen war. »Sie hat von ihrer Chefin ein paar Tage freibekommen, das hat sie mir gesagt«, erzählte sie. »Und einen Freund hat sie auch. Vielleicht machen sie einen Ausflug.«

Dahlmann fuhr weiter. Er besuchte den Nervenarzt Dr. Vierweg und wurde gleich vorgelassen. Das Wartezimmer war leer, Dr. Vierweg schien wenig Patienten zu haben.

»Vorweg, Doktor - was kann man tun?« fragte Dahlmann und machte den Eindruck eines sehr erschütterten Ehemannes. »Wenn sich diese Wahrnehmungen verstärken, wenn sie Tag und Nacht Tik-ken oder Klopfen hört ... was kann man machen?«

»Ich würde dann auf jeden Fall die Einweisung in eine psychiatrische Klinik anraten.« Dr. Vierweg hob bedauernd die Schultern, als Dahlmann ein entsetztes Gesicht aufzog. »Leider, es gibt keine andere Wahl. Stationär haben sie dort die Möglichkeit, durch Medikamente und Schocks diese Psychosen einzudämmen oder sogar zum Verschwinden zu bringen. Das geht aber nur unter ständiger ärztlicher Beobachtung.«

»Und wie lange kann das dauern?«

»Das ist nie im voraus zu sagen.«

»Monate?«

»Möglich.«

»Vielleicht Jahre -«

»Das wollen wir nicht hoffen.«

»Und das Geschäft? Die Apotheke?« Dahlmann raufte sich wie verzweifelt die Haare. »Meine Frau hat alleinige Vollmachten. Ich habe nur das kleine Zeichnungsrecht.«

Dr. Vierweg zögerte. Ihm tat der gebrochene Mann leid, der zu dem Schicksalsschlag der Blindheit nun auch noch den beginnenden Wahn seiner Frau durchstehen mußte. »Im Falle einer Geschäftsunfähigkeit Ihrer Frau könnte man die Entmündigung beantragen.«

»Das geht?« fragte Dahlmann naiv.

»Ja. Aufgrund der ärztlichen Atteste spricht ein Gericht die Entmündigung aus. Es wird ein Vormund bestellt . im speziellen Falle wären Sie das, Herr Dahlmann.«

»Wie schrecklich.« Dahlmann erhob sich. Seine Hand bebte, als er sie Dr. Vierweg reichte. »Es ist furchtbar, an so etwas zu denken. Ich liebe meine Frau -«

Dr. Vierweg war nach dem Weggang Dahlmanns überzeugt, dem Beginn einer kleinen bürgerlichen Tragödie beigewohnt zu haben. Nur sah er das grausame Spiel anders, als es Dahlmann inszenierte.

Nach diesem letzten Besuch machte sich Dahlmann auf eine Rund-reise. Er besuchte alle ihm bekannten Kunden Monikas, denen sie Entwürfe, Plakate, Werbespots und Zeichnungen eingereicht hatte. Bis gegen Mittag fuhr er kreuz und quer durch Hannover. Erst der letzte Auftraggeber, eine Weberei, hatte vor einer Stunde einen Anruf von Monika Horten bekommen. Aus der Lüneburger Heide. Aus Soltau.

Dahlmann bedankte sich mit aller Herzlichkeit. »Sie müssen wissen, daß ich einen Auftrag für Fräulein Horten habe. Eine ganz nette Sache. Ich vertrete die Chemischen Werke Helmstedt, und es ist unser Anliegen, gerade jungen, begabten Künstlern den Weg in die Öffentlichkeit zu ebnen.«

Erst eine Stunde später überlegte der Werbeleiter der Weberei, was ihm dieser seltsame Besucher gesagt hatte. Er schlug im deutschen Branchenverzeichnis nach und fand seinen Verdacht bestätigt. In Helmstedt gab es gar keine Chemischen Werke.

Man soll sich nicht in Dinge hängen, die einen nichts angehen, dachte er. Aber andererseits war Monika Horten ein lieber Kerl, ein aufgewecktes, begabtes Mädel.

Er griff zum Telefon und rief in Soltau an. Gasthof >Grüner Krug<.

Mit bleichem, verweintem Gesicht hörte sich Monika an, was der Werbeleiter aus Hannover zu berichten wußte.

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