10


Der Tag war schwül und dunstig; die Kondensstreifen der Düsenmaschinen am Himmel färbten sich gelb, und die Palmen standen müde und schlaff. Jonas Wade, der im kühlen Sprechzimmer seiner Praxis saß, merkte nichts von der drückenden Hitze draußen. Vor einer Viertelstunde war sein letzter Patient gegangen; jetzt konnte er sich der Arbeit zuwenden, die ihn seit Wochen beschäftigte.

In seiner Aktentasche, die unter dem Schreibtisch zu seinen Füßen stand, waren der Hefter voller Aufzeichnungen, die fotokopierten Artikel, das etwas obskure Buch, das er in einem Antiquariat entdeckt hatte, und sein Notizbuch voller ungeordnet niedergeschriebener Gedanken und Überlegungen, die in lesbare Form gebracht werden mußten. Das ganze Projekt, wenn man es so nennen wollte, lief unter dem Arbeitstitel: >Parthenogenese beim Menschen: Eine Realität<.

Seit acht Wochen beschäftigte er sich mit diesem Thema, seit seinem ersten Gespräch mit Dorothy Henderson. In dieser Zeit hatte Jonas zahllose Stunden in der Bibliothek verbracht und jedes Wort, jeden Bericht, der seine Theorie untermauern konnte, gewissenhaft fotokopiert; er hatte Dorothy Henderson nochmals in ihrem Labor aufgesucht und sich danach im Encino Krankenhaus mit einem Spezialisten eingehend über die neuesten Verfahren zur Hautverpflanzung unterhalten. Aufgrund seiner Recherchen verdichtete sich seine Vermutung, daß Mary Ann McFarland in der Tat eine parthenogene-tische Mutter war, immer mehr. Gleichzeitig jedoch war er sich der Tatsache bewußt, daß seine ganze schöne Theorie in sich zusammenfallen würde, wenn er nicht einen entscheidenden Faktor miteinbezog: das Mädchen selbst.

Er wünschte jetzt, er wäre nicht so schnell bereit gewesen, sie ins St. Anne's Mütterheim schicken zu lassen, und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, daß er das wünschte; er wußte, daß das St. Anne's für Mary das Beste war, ihr Verbleib zu Hause wäre nur für Jonas Wade von Vorteil gewesen.

Es klopfte kurz, dann öffnete seine Sprechstundenhilfe die Tür. »Dr. Wade? Würden Sie noch eine Patientin empfangen?«

Er zog die Brauen hoch und warf einen Blick auf seine Uhr.

»Jetzt noch? Es ist vier Uhr vorbei. Ich wollte gerade gehen. Hat die Frau einen Termin?«

Die Sprechstundenhilfe trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Es ist die kleine McFarland. Sie möchte unbedingt mit Ihnen sprechen.«

»McFarland? Mary Ann McFarland?« Jonas stand auf. »Schicken Sie sie herein.«

»Soll ich noch bleiben?«

»Nein, danke. Aber rufen Sie bitte meine Frau an, ehe Sie gehen, und sagen Sie ihr, daß ich mich etwas verspäten werde.«

Nachdem die Sprechstundenhilfe hinausgegangen war, setzte sich Jonas wieder, und als einen Moment später sich die Tür öffnete und Mary ins Zimmer trat, sah er ihr lächelnd entgegen.

»Hallo, Mary. Komm herein. Setz dich.«

Sie machte leise die Tür hinter sich zu, kam durch das Zimmer, stellte ihren kleinen Koffer ab und setzte sich in einen der Ledersessel vor seinem Schreibtisch.

Sie hatte sich verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie wirkte voller, rundlicher, war nicht mehr das gertenschlanke, etwas kantige junge Mädchen, das er bei ihrem ersten Besuch kennengelernt hatte. Das weiche braune Haar, das in der Mitte gescheitelt war, fiel ihr glänzend über die Schultern, die eine neue sanfte Rundung hatten. Als sie sich setzte, sah er flüchtig die leichte Schwellung ihres Bauches. Er fand sie fraulicher geworden, weicher.

»Das ist wirklich ein Zufall, Mary«, sagte er. »Ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht es dir?«

»Dr. Wade, warum bin ich schwanger?«

Er antwortete nicht gleich. Sein Blick glitt zu ihren Handgelenken. Die Narben waren jetzt kaum noch zu sehen. Dann betrachtete er ihr Gesicht. Die Furcht und die Verwirrung, die er zuletzt in den großen blauen Augen gesehen hatte, waren nicht mehr da. Statt dessen sah sie ihn mit einer ruhigen Selbstsicherheit an, die ihn erstaunte. Die Wandlung, die mit dem Mädchen vorgegangen war, war bemerkenswert.

»Augenblick, Mary. Das letzte Mal warst du vor sieben oder acht Wochen bei mir. Damals hast du bestritten, schwanger zu sein.«

Sie nickte. »Das kann ich jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß ich wirklich schwanger bin. Und ich möchte wissen, wieso.«

Jonas lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er war erregt, aber er stellte seine Frage ganz sachlich. »Du glaubst also immer noch, daß du unberührt bist?«

»Ich weiß es.«

»Und was ist mit St. Anne's?«

»Da war ich die letzten sechs Wochen. Heute bin ich gegangen.«

»Ach?« Er schaute zu ihrem Köfferchen hinunter.

»Meine Freundin Germaine hat mich ein paarmal besucht und mir erzählt, welche Busse sie genommen hat. Ich hab's einfach umgekehrt gemacht.«

»Du bist mit dem Bus gekommen? Die weite Fahrt?«

»Ich mußte ja.«

»Aber - wo sind denn deine Eltern?«

Mary zuckte die Achseln. »Zu Hause, nehme ich an.«

»Wissen sie nicht, daß du von St. Anne's weg bist?«

»Nein.«

Jonas beugte sich abrupt nach vorn. »Du bist einfach aus dem Mütterheim weggegangen und direkt hierhergekommen? Ohne jemandem etwas zu sagen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich nicht mehr dort bleiben wollte.«

»Ich meine, warum bist du direkt hierhergekommen? Warum bist du nicht nach Hause gefahren?«

»Weil ich wissen möchte, wieso ich schwanger bin. Sie sind der einzige, der mir helfen kann.«

»Mary -« Jonas setzte sich wieder tiefer in seinen Sessel und stieß dabei mit dem Fuß an seine Aktentasche. »Mary, du mußt nach Hause. Ohne Erlaubnis deiner Eltern kann ich nichts tun.«

»Das weiß ich. Aber ich mußte einfach zuerst zu Ihnen kommen. Ich meine, ehe ich meinen Eltern sage, was ich für mich beschlossen habe. Sie sind der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann und dem ich vertraue. Ich kann meinen Eltern nicht allein gegenübertreten, Dr. Wade. Jetzt noch nicht.«

Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Er sah das Kindliche hinter der dünnen Fassade erwachsener Selbstsicherheit. Doch keine so tiefe Wandlung, dachte er. Bloß ein Kind, das sich die Maske der Erwachsenen aufgesetzt hat.

»Du brauchtest nicht aus dem Mütterheim wegzugehen, um mit mir sprechen zu können. Du hättest mich anrufen können. Ich wäre zu dir gekommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Doch, ich mußte weg. Ich will die Schwangerschaft zu Hause erleben. Ich möchte bei meinen Eltern und bei meiner Schwester sein. Sie sollen dazugehören.«

»Hast du dir mal überlegt, was sie davon halten werden?«

»Das ist mir gleich, Dr. Wade. Sie müssen mich einfach akzeptieren. Sie haben mich weggeschickt, weil sie meinen

Anblick nicht aushalten konnten. Aber ich laß mich nicht wegpacken wie Mr. Rochesters verrückte Ehefrau. Ich habe nichts getan. Ich bin keine Verbrecherin. Dr. Wade -« Mary beugte sich zum Schreibtisch vor und sah ihn beschwörend an

- »können sie mir sagen, wieso ich schwanger bin?«

Er war hin- und hergerissen. Einerseits drängte es ihn, ihr alles zu sagen, andererseits hielt er es für geraten, sein Geheimnis noch für sich zu behalten.

»Es wird dich vielleicht überraschen, Mary, aber ich habe in den letzten zwei Monaten sehr viel an dich gedacht und mir die gleiche Frage gestellt wie du: Wie bist du schwanger geworden.«

»Ach, Dr. Wade, ich wußte ja von Anfang an, daß Sie mir glauben. Darum bin ich heute zu Ihnen gekommen.«

Jonas konnte den hoffnungsvollen Blick nicht aushalten. Abrupt stand er auf und ging zum großen Fenster. Das Tal zu seinen Füßen war in gelben Dunst getaucht. Er mußte sich einen Moment Zeit nehmen, um sich zu überlegen, wie er die Situation anpacken sollte; ob er ihr sagen sollte, was er wußte, und wenn ja, wie er es ihr am besten sagen konnte.

Mary hatte sich durch die Schwangerschaft verändert, gewiß, sie war reifer geworden. Doch was er ihr zu sagen hatte, würde auch für eine erwachsene Frau schwer zu begreifen und zu verarbeiten sein. Konnte er ihr diese Belastung zumuten? Wie, dachte er, soll ich ihr sagen, daß in ihrem Bauch vielleicht kein Kind heranwächst, sondern eine monströse Masse menschlichen Gewebes?

Um sich noch etwas Zeit zu schaffen, fragte er: »Wie war es denn eigentlich in St. Anne's?«

Er hörte sie seufzen und glaubte eine Spur Ungeduld wahrzunehmen.

»Es war wie im College. In einem Wohnheim. Es ist wirklich ganz schön da. Es hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Krankenhaus. Ich hatte ein Zimmer zusammen mit einem sehr netten Mädchen, und die Nonnen waren immer freundlich. Aber ich gehöre da nicht hin. Die anderen Mädchen waren alle schwanger, weil sie was getan hatten, und sie wußten es auch. Sie haben sogar darüber geredet. Nur bei mir war es anders. Ich war ausgeschlossen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, und am Schluß konnte ich es einfach nicht mehr aushalten, nur rumzusitzen und abzuwarten. Ich muß wissen, wieso ich schwanger bin.«

Erst jetzt drehte er sich endlich um. »Die Ärzte im St. Anne's haben dich doch untersucht, Mary. Was haben sie dir über deinen Zustand gesagt?«

Sie sah ihn groß an. »Was meinen Sie?«

»Nun, man hat dich doch untersucht, nicht wahr?«

»Ja. Einmal in der Woche.«

»Na also. Und was haben die Ärzte gesagt? Haben sie dir gesagt, daß du gesund bist? Daß alles normal verläuft?«

Genauer wollte er nicht werden. Er wollte das Mädchen nicht beunruhigen. Statt dessen würde er gleich morgen vom St. Anne's ihre Unterlagen anfordern.

Mary zuckte die Achseln. »Ich glaub schon, daß alles normal ist. Sie haben gesagt, ich hätte nicht zuviel zugenommen, und geschwollene Füße seien normal. Sie haben nicht viel mit mir gesprochen.«

Jonas fühlte sich unbehaglich, schlecht vorbereitet auf dieses Gespräch, das sich so überraschend ergeben hatte. Er brauchte Fakten, aber er wußte nicht, wie er danach fragen sollte.

»Oh«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. »Sie

haben gesagt, daß das Baby normal und gesund ist.«

Einen Moment lang starrte er sie verständnislos an. »Was?« sagte er dann.

»Ich hab seinen Herzschlag gehört. Einer von den Ärzten war echt nett und .«

Er hörte Marys Stimme gar nicht mehr. Sie hat seinen Herzschlag gehört! Es hat einen Herzschlag!

»Ist was, Dr. Wade?«

Jonas zwinkerte. »Bitte? Nein, nein, entschuldige. Ich war in Gedanken.« Er kehrte zu seinem Sessel zurück und blieb auf die Rückenlehne gestützt stehen. Es hatte einen Herzschlag. Es lebte ...

Jonas setzte sich und zwang sich zur Ruhe. »Mary, du bist, wie ich dir schon sagte, nicht die einzige, die sich fragt, wie du schwanger werden konntest. Ich habe versucht, das Rätsel zu lösen, aber ich habe gemerkt, daß ich es ohne deine Hilfe nicht schaffe.«

»Und wie kann ich Ihnen helfen?«

»Indem du mir ein paar Fragen beantwortest. Versuchen wir es, ja?«

»Natürlich. Heißt das, daß Sie meine Eltern vorläufig nicht anrufen?«

Die Frage traf ihn wie ein Schlag. So eingesponnen war er in sein wissenschaftliches Interesse gewesen, daß er seine Verantwortung als Arzt der Patientin gegenüber völlig aus den Augen verloren hatte. Das Mädchen war durchgebrannt; zweifellos machte man sich inzwischen Sorgen um sie. Er griff zum Telefon.

Fünf Minuten später waren die Nonnen in St. Anne's informiert und beruhigt. Bei den McFarlands hatte sich niemand gemeldet.

»Ich versuche es in ein paar Minuten noch einmal«, sagte Jonas. »Also, kommen wir zu den Fragen, Mary.« Er zog sich einen Block heran und nahm seinen Füller. »Gehen wir zurück zum ungefähren Zeitpunkt der Empfängnis. Wenn wir es richtig angehen, fällt dir vielleicht etwas ein, woran du bisher nicht gedacht hast.«

»Ich hab die ganze letzte Woche darüber nachgedacht, Dr. Wade. Bei der letzten Untersuchung vor acht Tagen sagte der Arzt, daß ich in der sechzehnten Woche bin. Er sagte, die Empfängnis wäre irgendwann in der ersten Aprilhälfte gewesen. Ich hab dann versucht, mich zu erinnern, und ich hab den April noch gut im Kopf, weil Mike zu der Zeit von Verwandten von außerhalb Besuch hatte und wir uns vor Ostern nur zweimal gesehen haben. Und in der Woche drauf nur einmal. Einmal beim Frühlingsfest von St. Sebastian. Das hat am Tag stattgefunden, und wir waren keinen Moment miteinander allein. Das zweite Mal waren wir abends zusammen, und das war bei uns zu Hause im Schwimmbecken. Und dann haben wir uns einmal bei mir zu Hause einen Film im Fernsehen angeschaut. Aber da waren meine Eltern dabei. Wie soll da irgendwas gewesen sein? Selbst wenn ich's hinterher vergessen hätte, wie alle glauben. Wir hatten ja nicht mal eine Gelegenheit, Dr. Wade.«

»Ich weiß, Mary. Da ich aus Erfahrung weiß, daß viele junge Mädchen in einem Fall wie deinem beharrlich leugnen, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, mußte ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, sogar daß du es verdrängst. Aber daran glaube ich nicht mehr.« Er machte eine kleine Pause. »Gut, Mary, jetzt denk nach. Hast du irgendwann im April, um Ostern herum, aus irgendeinem Grund Medikamente eingenommen?«

Sie überlegte einen Moment. »Nein.«

»Hast du eine Spritze bekommen? Oder bist du geimpft worden - gegen die Grippe oder Kinderlähmung oder so etwas?«

»Nein.«

Er machte sich Notizen. »Hast du sonst etwas eingenommen? Vitamine, Hustensaft, Aspirin?«

»Überhaupt nichts, Dr. Wade. Im April ist es mir ja noch gutgegangen.«

»Okay.« Er schwieg nachdenklich. »Hast du dich vielleicht irgendwie verletzt? Bist mit dem Fuß in einen Nagel gestiegen oder so etwas?«

»Nein, überhaupt nichts.«

Er legte den Füller weg und spielte mit dem Gedanken, seine Aktentasche hervorzuholen. Darin waren die Notizen, die er sich bei Dr. Henderson gemacht hatte. Mit ihrer Hilfe hätte er sein Gedächtnis auffrischen und feststellen können, was für mögliche Aktivatoren es noch gab. Aber er wollte Mary nicht beunruhigen. Er -

»Das einzige, was mir im April passiert ist, Dr. Wade, war im Schwimmbecken bei uns zu Hause, als Mike und ich an dem Abend badeten. Da gab's bei der Beckenbeleuchtung einen Kurzschluß, und ich kriegte einen elektrischen Schlag.«

»Was?«

»Ja, ich hab mich fürchterlich erschrocken, aber mir ist nichts passiert. Meine Mutter sagte, eine Frau wäre mal umgekommen, als sie in einem Hotel -«

»Du hast einen elektrischen Schlag bekommen?«

»Ja. Warum?«

Jonas war selbst wie vom Schlag gerührt. Er hatte Mühe, seine Ruhe zu bewahren. Um seine Erregung zu verbergen, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und faltete fest die Hände.

»Wann ist das passiert? Möglichst genau, bitte.«

»Ein paar Tage vor Ostern.«

»Was genau ist passiert? Du warst mit Mike im Schwimmbecken -«

»Nein, nur ich war im Becken. Mike stand oben auf dem Sprungbrett. Es war dunkel, drum hatten wir die Beleuchtung angemacht. Ich weiß nicht, auf einmal fühlte sich das Wasser ganz komisch an, ich kann's nicht beschreiben. Ich bekam einen Riesenschreck und fing an zu schreien. Dann kriegte ich plötzlich keine Luft mehr. Ich erinnere mich, daß Mike mich rausgezogen hat und mir auf den Rücken klopfte. Das war alles.«

Jonas Wade krampfte die Hände so fest ineinander, daß sie weiß anliefen. Das war unglaublich. War es möglich, daß er jetzt alles beisammen hatte?

Bis zu diesem Moment hatte Jonas sich eiserne Zurückhaltung auferlegt und sich nicht gestattet, seinen Hoffnungen freien Lauf zu lassen. Sollte der Traum jetzt Wirklichkeit werden: der aufregendste medizinische Bericht seit - ja, seit wann?

»Dr. Wade?«

Er sah sie an. Wie sollte er es angehen? Wem sollte er seinen Befund zeigen? Welcher Zeitschrift sollte er -

»Dr. Wade?«

»Entschuldige, Mary, mir kam bei dem, was du eben sagtest, eine Erinnerung.« Er setzte wieder sein Arztlächeln auf.

Doch die anfängliche Erregung über das, was er von Mary Ann McFarland gehört hatte, wandelte sich rasch in tiefe Beunruhigung. Die beiden neuen Faktoren, der festgestellte

Herzschlag des Embryos und der elektrische Schlag, die seine These von einer Parthenogenese untermauerten, weckten auch neue Ängste und Befürchtungen. Jetzt konnte es sich nicht mehr um eine wuchernde Gewebemasse, um einen Tumor handeln, der operativ entfernt werden konnte. Es war ein wahrhaft parthenogenetischer Fötus, der da heranwuchs, aber

- war er gesund und normal?

Impulsiv griff Jonas zum Telefon. »Ich versuche jetzt noch einmal, deine Eltern zu erreichen, Mary.«

Im Wohnzimmer war es dunkel geworden. Keiner machte Licht. Ted McFarland saß mit gesenktem Kopf und fragte sich, ob er wirklich alles gesagt hatte. Das Schweigen schien ihm hohl und gespannt, als verlange es nach weiteren Worten. Aber es fielen ihm keine mehr ein.

Lucille, die tief in ihrem Sessel lag und zur schattendunklen Decke hinaufstarrte, hegte die bedrückende Befürchtung, daß zuviel gesagt worden war. Und doch war das eine, was Lucille am dringendsten hatte sagen wollen - es tut mir leid -, nicht ausgesprochen worden.

Mary spürte die Spannung, merkte, daß ihre Eltern mit ihren Emotionen zu kämpfen hatten. Ted, der mit hängendem Kopf und gefalteten Händen dasaß, schien zu beten, und Lucille, dachte Mary, sah aus wie die leidende Dienerin Gottes.

Es war so gut gegangen, wie zu erwarten gewesen war. Vielleicht sogar besser. Höflich und überaus dankbar waren sie in Dr. Wades Praxis erschienen, sehr darauf bedacht, ihm zu zeigen, daß sie es ihm nicht verübelten, daß er der einzige war, dem ihre Tochter Vertrauen schenkte. Sie hatten Platz genommen, und ein Weilchen hatten sie alle vier miteinander gesprochen, wenn auch mit einiger Verlegenheit. Dr. Wade hatte merkwürdig steif und gestelzt gewirkt, als fühle er sich gar nicht wohl und hätte das Verlangen, so schnell wie möglich zu gehen.

Zuerst hatten die drei Erwachsenen Mary zu überreden versucht, wieder ins St. Anne's zurückzukehren. Dann hatte ihr Dr. Wade einen Vortrag darüber gehalten, was eine schwangere Frau zu beachten, wie sie sich zu pflegen hatte, und ihr danach den nächsten Untersuchungstermin auf einen Zettel geschrieben.

Auf der Heimfahrt hatten Mary und ihre Eltern kaum miteinander gesprochen, aber sobald sie zu Hause gewesen waren, hatte Lucille gesagt: »Amy darf von alledem nichts erfahren.«

»Wie willst du es ihr denn verheimlichen?« fragte Mary.

»Wenn wir dich nicht wegschicken können, schicken wir eben deine Schwester weg. Heute übernachtet sie bei Melody. Bis morgen wird mir schon etwas einfallen.«

Mary wollte gerade Protest erheben, als ihr Vater ganz ruhig sagte: »Amy bleibt hier, Lucille. Sie muß es erfahren. Es ist an der Zeit, daß sie die Wahrheit erfährt.«

»Nein!« Lucille war entsetzt. »Nein, das lasse ich nicht zu. Sie ist noch zu klein. Das ist zuviel für sie.«

»Sie ist fast dreizehn Jahre alt, Lucille. Es kann ihr nur guttun, wenn sie Bescheid weiß.«

»Nein, sie soll unschuldig bleiben. Sie tritt nächstes Jahr in Schwester Agathas Orden ein -«

Ted schüttelte nur den Kopf, und Lucille gab auf.

Danach sprachen sie von anderen Dingen, von der Schule, von der Kirche, von all den Orten und Anlässen, wo Mary sich der Öffentlichkeit zeigen mußte. Mary, die über diese Fragen gar nicht weiter nachgedacht hatte, äußerte sich kaum dazu. Sie hatte nur gewußt, daß sie nach Hause wollte. Alles, was damit zusammenhing - der regelmäßige Kirchgang, die Fahrten mit ihrer Mutter zum Supermarkt -, wollte sie einfach von Tag zu Tag bewältigen.

Jetzt hatten sie sich alle leer geredet. Das Haus war dunkel und still. Mary stand auf. Ted hob den Kopf. Sie hatte den Eindruck, daß er zu lächeln versuchte.

»Ich geh in mein Zimmer«, sagte sie leise und nahm ihren Koffer.

Ted sprang sofort auf und packte den Koffer so beflissen wie ein Page, der auf ein Trinkgeld hofft.

Mary wandte sich Lucille zu. »Ich hab Hunger, Mutter. Was gibt's zum Abendessen?«

Sie telefonierte von der Küche aus. »Germaine? Ich bin's. Ich bin wieder zu Hause.«

Germaines Stimme, die so klar klang, als wäre die Freundin mit ihr in einem Zimmer, tröstete sie sofort.

»Mary? Du bist zu Hause? Wieso denn?«

Sie ist ganz nahe, dachte Mary und legte beide Hände fest um den Hörer. Das ist das Gute daran, zu Hause zu sein. Germaine ist in der Nähe. »Ich wollte nicht mehr bleiben. Ich bin heute nachmittag heimgekommen, und ich geh nicht wieder dahin zurück.«

»Ach, Mensch, toll! Dann kriegst du's hier, in Tarzana?«

»Ja. Ich will es haben, Germaine. Ich will mein Kind haben.«

Schweigen.

»Germaine?«

Eine leichte Veränderung in der Stimme. Vorsicht. »Und was sagen deine Eltern dazu?«

Mary sah sich in der Küche um. Das Geschirr war noch nicht gespült. Ein Teller mit kalten Spaghetti, die schon ganz verklebt waren, stand auf der Anrichte.

»Ich weiß nicht genau. Wir haben ein bißchen miteinander geredet, aber sie haben nicht viel gesagt. Beim Essen war's ziemlich peinlich, aber das wird schon wieder werden.«

»Ach, Mary, ich freu mich so, daß du wieder da bist. Ich war richtig einsam.«

»Germaine?«

»Ja?«

»Hast du Mike mal gesehen?«

Pause. »Nur zwei- oder dreimal in der Schule, Mary. Er hat Chemie und englische Literatur. Ich treffe ihn manchmal, wenn ich zu meinem Kurs über amerikanische Verfassung gehe.«

»Amerikanische Verfassung?«

»Das ist ein neuer Kurs. Im September nehme ich politische Wissenschaften, und da ist amerikanische Verfassung Voraussetzung. Häuptling Knopfnase gibt den Kurs.«

»Hat er was zu dir gesagt, Germaine? Über mich?«

»Die alte Knopfnase redet mit keinem ein privates Wort.«

»Germaine -«

»Nein, Mary, Mike hat nichts zu mir gesagt. Du weißt doch, er mag mich nicht.«

»Und die anderen?«

»Keine Ahnung, Mary. Marcie ist außer mir die einzige, die dieses Jahr Sommer kur se nimmt. Die anderen sind wahrscheinlich jeden Tag in Malibu.«

»Germaine, hat mal jemand gefragt -«

»Nicht direkt, aber sie sind bestimmt alle neugierig. Sheila Brabent hat mich vor zwei Wochen mal angerufen und gefragt, ob's stimmt. Ausgerechnet die.«

»Und was hast du gesagt?«

»Na ja, Mary, ich mußte >ja< sagen. Es stimmt ja, oder? Du bist schwanger, nicht?«

»Ja, es stimmt, aber .« Mary seufzte.

»Mary?«

»Ja?«

»Wann kommst du mal zu mir. Es ist verdammt langweilig ohne dich. Rudy ist nach Mississippi gefahren, zu einem Riesenprotestmarsch. Ohne euch beide bin ich total vereinsamt. Meine Mutter fragt, ob du nicht Lust hast, mal zum Essen zu kommen. Wann kannst du kommen?«

Mary fühlte sich etwas besser, nachdem sie aufgelegt hatte, aber nicht so viel besser, wie sie gehofft hatte. Sie mußte eben Geduld haben, dachte sie. Sie hatte ja noch fast fünf Monate, um sich an die neue Situation zu gewöhnen und Möglichkeiten zu finden, mit ihr fertig zu werden. Gott sei Dank, daß wenigstens Germaine sich wie immer verhielt.

Sie wählte die ersten drei Zahlen von Mikes Nummer und legte wieder auf. Noch nicht. Nicht gleich an ihrem ersten Abend zu Hause. Erst wollte sie sich wieder eingewöhnen, dann würde sie mit ihm reden und alles in Ordnung bringen.

Mary lehnte sich an die kühle Küchenwand und schloß die Augen. Vor zwei Monaten hatte sie genau an dieser selben Stelle eine Entscheidung getroffen, und es war die falsche gewesen. Sie drehte den Kopf und sah zum Telefon. Er hat mich vergessen, dachte sie.

Mike suchte im Dunklen nach dem Lichtschalter und drückte ihn herunter. Als das Licht aufflammte, schloß er geblendet die Augen und tappte blind zum Waschbecken. Das kalte

Wasser tat gut. Viel Seife. Er seifte sich bis zu den Ellbogen ein wie ein Chirurg vor der Operation, und dann spülte und spülte er und vermied es dabei die ganze Zeit, den Burschen im Spiegel anzusehen.

Als er fertig war und sich abtrocknete, dachte er mißmutig, Herrgott noch mal, was ist eigentlich in mich gefahren? Er hängte das Handtuch ordentlich wieder über den Halter und sah endlich in den Spiegel, um aufmerksam sein Gesicht zu mustern.

Weicher Flaum bedeckte seine Wangen, aber sein Kinn war immer noch so zart und glatt wie das eines Säuglings. Keine Spur von einem Bart. Er erinnerte sich an den Vortrag, den Bruder Nikodemus ihnen in der siebenten Klasse über die Sünde Onans gehalten hatte.

»Ein sicheres Zeichen dafür, daß jemand dieser Sünde frönt, ist, daß er sehr spät einen Bart bekommt, manchmal sogar überhaupt nicht. Das ist eine Tatsache, Jungen, da gibt's nichts zu grinsen. Die Selbstberührung führt zu einer unnatürlichen Freisetzung bestimmter chemischer Stoffe, die eigentlich der Anregung des Bartwuchses dienen sollten. Da könnt ihr jeden Arzt fragen. Die Selbstberührung ist eine Sünde und eine Beleidigung Gottes, die sich nicht verbergen läßt. Jeder kann euch deutlich vom Gesicht ablesen, ob ihr so etwas tut.«

»Ja, klar ...« murmelte Mike, während er sich mit der Hand über das Kinn strich. Die Jungen der St. Sebastian Schule hatten es damals nicht geglaubt und glaubten es auch jetzt nicht. Trotzdem, er würde sich viel mehr als Mann fühlen, wenn er endlich einen Bart bekäme.

Mike knipste das Licht aus und ging in sein Zimmer zurück. Zwei Dinge quälten ihn, als er sich wieder hinlegte, und nahmen ihm den Schlaf. Das eine war, daß er sich nachgege-ben hatte und nun morgen nicht zur Kommunion gehen konnte. Das andere war Mary.

Die Arme unter dem Kopf verschränkt, versuchte er, wie er das jeden Abend tat, sich Mary vorzustellen. Und während er ihr Bild an die schwarze Zimmerdecke projizierte, bemühte er sich, wie er das ebenfalls jeden Abend tat, den Wirrwarr seiner Gefühle auseinanderzuzupfen, Ordnung zu schaffen, zu verstehen, was in ihm vorging. Am liebsten hätte er eine säuberliche Liste aufgestellt.

Er war zornig. Das lag auf der Hand. Aber auf wen? Auf Mary vielleicht. Auf sich selbst ganz sicher. Und am meisten auf den Kerl, der ihr das Kind gemacht hatte. Und er war unglücklich. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Er hielt es kaum aus vor Sehnsucht. Andere Mädchen interessierten ihn nicht. Er gehörte zu Mary. Neugier. Warum hatte sie es getan und mit wem? Sexuelle Begierde. Er begehrte sie noch genauso heftig wie zuvor, verlangte nach der verbotenen Frucht, die nun in unerreichbare Ferne gerückt zu sein schien. Und etwas wie Scheu war da, vor Mary, der Schwangeren.

Er war geplagt von dem Verlangen, ihr zu verzeihen, aber zu stolz, den ersten Schritt zu tun.

Mit einem Ruck wälzte er sich herum und schlug mit der Faust in sein Kopfkissen. Er war tief getroffen gewesen, als er heute von seinem Vater gehört hatte, daß sie nach Hause zurückgekehrt war, ohne sich bei ihm zu melden. Jetzt war alles noch schlimmer geworden. Solange Mary fort gewesen war, hatte Mike seinen Kummer und seine tiefe Niedergeschlagenheit beherrschen können; jetzt, wo sie wieder da war, kam alles von neuem hoch. Erst der Impuls, sie anzurufen, sie zu küssen, mit ihr zu weinen. Dann Wut. Sie hatte ihn belogen. Danach der Wunsch, sich zu ihr zu setzen und ruhig zu fragen: Warum, Mary? Warum ein anderer und nicht ich?

Hundertmal war er drauf und dran gewesen, im St. Anne's anzurufen. Aber immer, wenn er angefangen hatte zu wählen, hatte er wieder aufgelegt. Hätte er sie nur vergessen können. Warum schnappte er sich nicht einfach die dicke Sherry, die ihm hinterherrannte wie ein Hündchen und von der er bestimmt alles kriegen konnte, was er wollte? Oder Sheila Brabent mit dem großen Busen.

Warum Mary?

Wieder schlug er ins Kissen.

Dann seine Freunde. Diese fürchterliche Entscheidung, ob er die Verantwortung für Marys Schwangerschaft auf sich nehmen oder die Wahrheit sagen und zugeben sollte, daß er nur angegeben hatte. Er wußte nicht, was er tun sollte.

Sein Vater, der von der ganzen Geschichte völlig niedergeschmettert war, bestand immer noch darauf, daß Mike zu ihr stehen und sie heiraten sollte. Und Pater Crispin forderte ihn immer wieder auf, er solle seine Sünde endlich beichten, und glaubte ihm nicht, daß er mit Marys Schwangerschaft nichts zu tun hatte.

Mike hoffte jetzt verzweifelt, daß das Kind gleich nach der Geburt weggegeben würde und zwischen ihm und Mary alles wieder so werden würde, wie es gewesen war. Sie hatte ihn belogen, sie hatte kein Vertrauen zu ihm gehabt, aber er liebte sie immer noch. Er liebte sie mehr denn je.

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