6


»... immer noch steigt aus der Sixtinischen Kapelle schwarzer Rauch auf zum Zeichen, daß noch immer kein Nachfolger für Papst Johannes XXIII. gekürt worden ist. Ein Sprecher des Kardinalskollegiums sagte heute morgen -«

Ted schaltete das Radio aus, als er das Haus Nathan Hollands vor sich auftauchen sah. Es stand auf einer Anhöhe unter Palmen und Sykomoren. Ted steuerte den Lincoln die steile Auffahrt hinauf und schaltete den Motor aus, noch ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war.

Nathan Hollands Haus war eines der schönsten im Viertel. Als leitender Angestellter einer großen Versicherungsgesellschaft konnte er sich das Personal leisten, das nötig war, um Haus und Garten das ganze Jahr über tadellos instand zu halten.

Ted war der Mann sympathisch. Näher gekommen waren sie sich erst, seit Mary sich im vergangenen Sommer mit Mike angefreundet hatte. Seither waren er und Lucille mehrmals bei Nat zum Abendessen eingeladen gewesen und im Dezember zu einer Weihnachtsparty. Es war bewundernswert, dachte Ted, wie Nat es schaffte, seine drei Söhne großzuziehen, das große Haus in Ordnung zu halten und dabei noch seiner anspruchsvollen Stellung bei der Versicherungsgesellschaft gerecht zu werden.

Geistesabwesend starrte Ted auf die sauber gestutzte Hecke, die das Grundstück umgrenzte. Lucille hatte heute morgen nicht ein einziges Wort gesprochen. Stöhnend war sie beim Rasseln des Weckers auf gestanden, ins Bad gegangen und hatte erst einmal vier Aspirin geschluckt. Später hatte sie wortlos Kaffee gemacht und eine Platte mit Toast und Schinken hingestellt, die keiner anrührte. Sie hatte sehr schlecht ausgesehen, das Gesicht eingefallen und fahl, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Auch als Ted ihr seine Absicht mitgeteilt hatte, Nathan Holland aufzusuchen, hatte sie mit keinem Wort reagiert.

Ted fühlte sich kaum besser als Lucille. Er hatte so starke Kopfschmerzen wie schon lange nicht mehr, sein ganzes Leben erschien ihm plötzlich sinnlos und verfehlt.

Er legte einen Moment den Kopf aufs Steuerrad und erinnerte sich mit einem scharfen Stich des Schuldbewußtseins an den vergangenen Abend. Lucille war schon eingeschlafen gewesen, als das Telefon geläutet hatte. Es war Amy gewesen, die wissen wollte, ob etwas passiert sei. Der Firmunterricht war schon seit einer halben Stunde aus, und Mama war immer noch nicht gekommen, um sie abzuholen.

Ted hob den Kopf vom Steuerrad und kniff die Augen zu. Amy, wir haben dich vollkommen vergessen ...

Der ganze Abend war so schrecklich und unwirklich gewesen, wie ein böser Traum. Er wünschte, er hätte ihn einfach vergessen können. Aber er wußte auch, daß im Erinnern das

Gefühl war, und das Gefühl gab ihm den Willen und die Kraft weiterzumachen. Er mußte mit Nathan Holland sprechen. Das war der einzige logische nächste Schritt. Vielleicht würden sie gemeinsam eine Lösung finden.

Als sich die Haustür plötzlich öffnete, fuhr Ted zusammen. Er zog den Zündschlüssel ab und sprang aus dem Wagen.

»Hallo, Nat.« Er winkte kurz.

Nat lachte. »Ich dachte doch, ich hätte Sie vorfahren gehört. Kommen Sie rein.«

Ted hatte Nat gleich nach dem Aufstehen angerufen, um diesen Termin mit ihm zu vereinbaren. Als Nat vorgeschlagen hatte, er solle zu ihm ins Büro kommen, hatte Ted erklärt, er zöge es vor, mit ihm allein zu sein. Daraufhin hatten sie ausgemacht, daß sie sich um elf bei Nat treffen würden.

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte Ted nach der Begrüßung.

»Aber das ist doch selbstverständlich.« Nat schloß die Haustür und ging seinem Gast ins kühle Wohnzimmer voraus. »Ich war heute morgen schon im Büro und nehme mir jetzt eine lange Mittagspause. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

»Ja, gern. Sind die Jungen zu Hause?«

Nat, der schon auf dem Weg zur Küche war, drehte sich kurz um. »Mike und Matt sind in der Schule, aber heute ist früher Schluß, weil morgen der letzte Schultag ist. Ich denke, die beiden werden gegen Mittag heimkommen.«

»Ja ...« Ted sah sich zerstreut im Wohnzimmer um. »Ich weiß .« Er ging zum Sofa und setzte sich. »Und wo ist Timothy?« rief er.

»Der ist bei den Nachbarn, beim Schwimmen. Er hat ja schon seit einer Woche Ferien. Ich komme sofort, Ted, machen Sie es sich bequem.«

Der Rat war gut gemeint, aber Ted war so angespannt, daß er wie auf Kohlen saß. Lucilles Worte vom vergangenen Abend wollten ihm nicht aus dem Kopf. »Du bist ihr Vater. Tu etwas, damit sie dieses Ding los wird.«

Er hatte nicht die Absicht, einen solchen Weg einzuschlagen. Gestern abend war es ihm, vom Scotch benebelt, beinahe wie eine Erlösung erschienen; schnell und heimlich das Leben im Keim ersticken, ehe es aufblühen konnte. Fort mit dem Schmutz, ehe andere auch nur ahnen können, daß er da ist. Aber im nüchternen Licht des Morgens hatte Ted bei der Vorstellung einer Abtreibung nur Abscheu empfunden, und er war überzeugt, daß auch Lucille die Ungeheuerlichkeit ihrer Worte bewußt geworden war.

Als Nat mit dem Tablett kam, auf dem Kaffee und Kuchen standen, riß Ted sich zusammen und sah ihm lächelnd entgegen.

»Es ist schön, Sie mal wieder zu sehen«, sagte Nat. »Wie geht es Lucille und den beiden Mädchen?«

»Oh - gut. Und Ihnen und den Jungen?«

»Könnte nicht besser sein.«

Ted trank einen Schluck von seinem Kaffee, dann umfaßte er seine Tasse mit beiden Händen und sah den Mann an, der ihm gegenüber in einem tiefen Sessel Platz genommen hatte. Nathan Holland war ein großer, robuster Mann Anfang Fünfzig mit einer weißen Löwenmähne und einer tiefen Baßstimme, die einem Sänger oder Schauspieler hätte gehören können.

»Was macht das Versicherungsgeschäft, Nat?«

»Ich kann mich nicht beklagen. Und die Börse?«

Ted starrte stirnrunzelnd in den dampfenden Kaffee. So konnte das nicht weitergehen. Er setzte seine Tasse nieder und sah Nat direkt in die grauen Augen.

»Ich bin nicht aus geschäftlichen Gründen hergekommen, Nat. Es ist leider eine sehr ernste Sache.«

Nat nickte nur.

»Ich habe ein schlimmes Problem, Nat, und ich möchte Ihnen sagen, daß dieser Gang mir nicht leichtgefallen ist.«

Nat stellte seine Tasse auf den Tisch und sah sein Gegenüber ernst an.

»Was gibt's denn?«

Ted überlegte, wie er es formulieren sollte. Aber es gab nur eine Möglichkeit. »Meine Tochter ist schwanger.«

Nats Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Es war, als hätte er nicht gehört. Dann sagte er: »Was?«

»Ich sagte, meine Tochter ist schwanger.«

»Welche?«

Ted zog die Brauen zusammen. Welche? »Mary. Mary ist schwanger.«

»Aber das ist doch -« Nat schlug sich mit beiden Händen auf die Knie und lehnte sich zurück. »Das kann ich nicht glauben.«

Ted starrte auf seine Hände hinunter. »Ich weiß. Ich kann es auch nicht glauben. Es ist .« Er schüttelte den Kopf.

»Ted.« Nats Stimme war gedämpft. »Seit wann wissen Sie es?«

»Seit gestern nachmittag.«

»Und es steht außer Zweifel? Ein anderer Arzt würde vielleicht -«

»Nein. Lucille war mit Mary bei zwei Ärzten. Sie stellten beide das gleiche fest.«

Eine lange Zeit verging, ehe Nat endlich fragte: »Was sagt Mary denn dazu?«

Plötzliche Wut wallte in Ted auf; die Wut über die eigene

Ohnmacht. Er sprang auf und ging mit langen Schritten zum offenen Kamin. Einen Ellbogen auf den Sims gestützt, starrte er in die dunkle Öffnung.

»Sie leugnet es«, sagte er leise. »Das macht es noch schlimmer, Nat. Mary behauptet steif und fest, sie könne gar nicht schwanger sein.«

Nat nickte ernst und teilnahmsvoll. »Ich könnte mir denken, daß das meistens die erste Reaktion ist in so einem Fall. Das arme Kind, sie muß schreckliche Angst haben.«

Irgendwo im Haus tickte leise eine Uhr. Aus der Küche kam das Brummen des Kühlschranks. Im Garten zwitscherten ein paar Vögel. Endlich brach Nat das Schweigen.

»Ich weiß, warum Sie hergekommen sind, Ted«, sagte er leise. »Sie glauben, es war Mike.«

Er holte tief Atem. »Ja.«

»Okay. Reden wir darüber.« Ted hob den Kopf und sah den Mann im Sessel an. Ihre Blicke trafen sich flüchtig, dann wandten sie beide die Gesichter ab.

»Nat, bitte glauben Sie mir eines«, sagte Ted. »Ich beschuldige ihn nicht. Mary hat nie etwas darüber gesagt. Sie bestreitet, schwanger zu sein. Wenn sie es tut, um jemanden zu schützen, dann möchte ich wissen, um wen es sich handelt. Ich möchte es ans Licht bringen, damit sie nicht länger zu lügen braucht. Und Mike - nun ja, es erschien uns am wahrscheinlichsten.«

Nat Holland hatte das Gefühl, als hätte sich soeben eine schwere Last auf seine Schultern gesenkt. Wie ein müder, alter Mann stand er auf. »Gut, Ted, wir werden mit Mike sprechen. Und dann?«

Ja, und dann? Ted hatte keine Ahnung. Was taten Väter in einer solchen Situation? Was tut man mit einer Tochter, die noch nicht einmal die Schule abgeschlossen hat und ein Kind erwartet? Was sagt man ihr? Wie verhält man sich zu ihr? Was ist mit den Nachbarn? Mit der Kirchengemeinde? Wie soll es mit der Schule weitergehen? Wie versteckt man sie? Und was geschieht, wenn das Kind da ist?

Wieder hörte er die Worte, die Lucille am vergangenen Abend gesprochen hatte. Nein! Er ging vom Kamin weg und kehrte zur Couch zurück, schlug mit der Faust auf die Lehne.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Nat. Ich weiß es einfach nicht.«

»Uns wird schon etwas einfallen, Ted. Beruhigen Sie sich. Wir kümmern uns um Mary.«

Ja, dachte Ted trostlos, aber wer kümmert sich um uns?

Als sie die Hintertür knallen hörten, drehten sich beide um und blickten wie gebannt in Richtung zur Küche. Schranktüren wurden geöffnet und wieder zugeschlagen, der Kühlschrank wurde aufgezogen und wieder geschlossen, ein Glas klirrte, eine Tüte knisterte. Dann erschien Mike an der Wohnzimmertür, in der einen Hand ein Glas Milch, in der anderen einen Teller mit Ingwerkeksen.

»Hallo!« rief er erstaunt und blieb stehen. »So eine Überraschung. Hallo, Mr. McFarland. Wieso bist du um diese Zeit zu Hause, Dad?«

»Mike, wir möchten mit dir sprechen. Kannst du dich einen Moment zu uns setzen?«

»Aber klar.« Doch als er näherkam und ihre Gesichter sah, blieb er erneut stehen. »Was ist denn los?« fragte er beinahe erschrocken. »Ist was passiert?«

»Setz dich, Mike.«

Er sah von seinem Vater zu Ted McFarland und wieder zurück zu seinem Vater. »Okay .«

Als alle drei sich gesetzt hatten, Mike aufs Sofa neben Ted, räusperte sich Nat und sagte: »Mike, Mr. McFarland ist wegen einer sehr ernsten Sache hier. Und wir denken, daß sie dich betrifft.«

»Okay, Dad.«

»Mary McFarland ist schwanger.«

Wieder das Schweigen der Ungläubigkeit. Mit großen Augen, die so grau waren wie die seines Vaters, starrte der siebzehnjährige Mike den Vater seiner Freundin an. Dann sagte er das gleiche wie vorher Nat. »Was?«

»Mary McFarland ist schwanger.«

»Ach -« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Hör auf, Dad. Das glaub ich nicht.«

»Es ist wahr.« Ted beobachtete aufmerksam das Gesicht des Jungen.

»Das gibt's doch nicht! O Mann!« Mike sprang auf und ging von den beiden Männern weg. »Mein Gott -«

»Mike«, sagte Nat, »bist du es gewesen?« Mike wirbelte herum. »Was?«

»Sag die Wahrheit, Mike.«

Mike blickte in die bitter ernsten Gesichter der beiden Männer und bekam Angst. »He, Dad, hör mal -« Er breitete in hilfloser Gebärde beide Hände aus. »Ich kann's nicht gewesen sein. Ehrlich. Mary und ich haben nie -«

»Mike!« Nat stand auf und trat seinem Sohn zornig gegenüber. »Hast du Mary Ann geschwängert?«

»Wirklich, Dad, ich -« Er sah sich gehetzt im Zimmer um. »Nein! Es ist nicht möglich. Wir haben nie was miteinander gemacht.«

»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen!« Nats Gesicht war hochrot. »Ich hab doch gehört, wie du am Telefon bei deinen Freunden mit deinen Eroberungen angegeben hast. Ich hab gehört, wie du Rick vom Mulholland Drive erzählt hast. Wofür hältst du mich eigentlich, Mike?«

Der Junge wich langsam vor seinem Vater zurück. Ein schrecklicher Gedanke keimte in Ted auf, ein Gedanke, auf den er bis jetzt nicht gekommen war.

Man hatte ihm seine Tochter verdorben.

Und Mike Holland hatte vor seinen Freunden noch damit angegeben, daß er es getan hatte.

»Mike«, sagte er mühsam beherrscht. »Mike, es ist nur natürlich, daß du es leugnest. Etwas anderes habe ich nicht erwartet. Aber um Gottes willen, Junge, Mary versucht, dich zu schützen und geht dabei selbst durch die Hölle.«

»Mr. McFarland, ich war es nicht!« Mikes Gesicht war angstverzerrt. »Ehrlich. Ich hab nie was mit Mary getan -«

»Wieso hast du dann vor deinen Freunden damit angegeben?«

»Sie hat mir überhaupt nicht erlaubt, sie anzufassen.«

Ted sprang vom Sofa hoch. Das Blut dröhnte ihm in den Ohren. »Kannst du nicht wenigstens ein Mann sein und dich dazu bekennen?«

Nat drehte sich um. »Versuchen wir, ruhig zu bleiben, Ted. Wir sind doch erwachsene Leute. Wir können die Situation im Griff behalten.«

Ted drückte sich die Fäuste auf die Augen. Im Geist sah er Mikes große, grobe Hände auf Marys zarter Haut; sah, wie er sich auf sie legte und in sie hineinstieß wie ein schwitzendes Vieh. Wut, Verwirrung und Eifersucht drohten Ted zu überwältigen.

»Jetzt mal mit der Ruhe«, sagte Nat vernünftig. »Wir müssen die Wahrheit herausbekommen. Mike, sag mir jetzt offen

und ehrlich - hast du mit Mary geschlafen?«

»Nein, Vater.« Mike wich noch einen Schritt zurück. »Ehrlich, sie hat mir nie erlaubt -«

»Du hast vor deinen Freunden damit angegeben, Mike, und jetzt leugnest du es?«

»Mensch, Dad, ich mußte denen doch irgendwas erzählen. Ich konnte doch nicht sagen, daß Mary mich nicht ranläßt -«

Mit einem Riesensprung stürzte sich Ted McFarland auf den Jungen. Während dieser zurücksprang, packte Nat Ted und umschlang ihn mit beiden Armen.

»Du Scheißkerl!« brüllte Ted. »Du mußtest den anderen was erzählen? Mary hat dich nicht rangelassen?«

»Ted!« donnerte Nat, der immer noch Mühe hatte, Ted zu halten. »Beruhigen Sie sich! Kommen Sie, beruhigen Sie sich doch.«

Ted erschlaffte mit einem Schlag. Keuchend stand er da, den Blick voller Haß und Wut auf Mike gerichtet. Nat ließ ihn los und trat einen Schritt zurück.

»Wutausbrüche führen zu nichts«, sagte er ruhig.

Teds Atem wurde ruhiger.

»Okay«, sagte Nat. »Setzen wir uns wieder.«

»Gib endlich zu, was du meiner Tochter angetan hast«, zischte Ted zornfunkelnd. »Wenn du dir schon eingebildet hast, Manns genug zu sein, um mit ihr zu bumsen, dann sei jetzt auch Manns genug, um dich dazu zu bekennen.«

»Ehrlich, Mr. McFarland, ich -«

»Mike«, sagte Nat bestimmt, »setz dich jetzt erst einmal. Komm, Junge, setz dich, damit wir in Ruhe reden können.«

Den Blick mißtrauisch auf Ted gerichtet, setzte sich Mike auf die Sofakante. Dann setzten sich auch die beiden Männer wieder.

Nats tiefe Stimme war ruhig und klar, als er zu sprechen begann. »Mary ist schwanger, Mike. Du bist seit fast einem Jahr ihr fester Freund und hast allen deinen Freunden erzählt, du hättest mit ihr geschlafen. Nein, unterbrich mich jetzt nicht, mein Junge. Ich sage nicht, daß ich dir nicht glaube, Mike, aber darum geht es hier nicht. Hier geht es um die Verantwortung. Du fandest, du wärst erwachsen genug, um dich damit zu brüsten, daß du mit Mary geschlafen hast; jetzt mußt du dich erwachsen genug zeigen, die Konsequenzen zu tragen und die Verantwortung zu übernehmen.«

»Aber das Kind ist nicht von mir, Dad.«

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß es darum nicht geht, Mike. Du hättest deinen Freunden gegenüber nicht das große Mundwerk haben sollen. So wie die Dinge liegen, ist das Kind so gut wie deines.« Nat holte einmal tief Atem und ließ die Luft langsam wieder heraus. Dann sah er Ted an. »Alles in Ordnung? Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Nein ...« Teds Stimme war heiser. »Nein, Nat, ist schon gut. Es tut mir leid - ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren ist.«

»Lassen Sie nur. Ich versteh es. Also, was wollen wir jetzt tun?«

Tun? Handeln? Eine Entscheidung treffen? »Ich weiß nicht, Nat. Ich hatte noch gar keine Zeit -«

»Haben Sie mit Pater Crispin gesprochen?«

»Noch nicht.«

Nat beugte sich vor und legte Ted die Hand auf den Arm. »Wir werden schon eine Lösung finden, Ted. Wir müssen überlegen, was mit Mary und dem Kind geschehen soll. Ich weiß noch nicht - sie sind beide noch so jung für eine Ehe, aber wenn das -«

»Nein, keine Notheirat, Nat.«

»Vielleicht kann Pater Crispin helfen. Wir suchen ihn zusammen auf.«

Ted sah die Anteilnahme und die Besorgnis in den grauen Augen Nat Hollands und straffte seine Schultern. »Ich muß mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ehe ich mit Pater Crispin spreche. Lucille und ich müssen uns erst wieder fassen. Es ging alles so schnell.«

»Was sagt der Arzt?«

»Wozu?«

»Über das Kind, Ted. Wann ist es soweit?«

»Oh - ach so.« Wann waren sie in Dr. Wades Praxis gewesen, um Mary abzuholen? War das erst gestern abend gewesen? »Er sagte, Januar.«

Keiner sprach mehr. Nach einer Weile stand Ted schwerfällig auf. Er sah auf Mike hinunter. Sein Zorn und seine Wut waren verraucht. Der Junge sah alt aus.

Nat brachte Ted zur Tür. »Es tut mir leid, Ted. Wirklich. Ich fühle mich verantwortlich. Und Mike -« seine Stimme zitterte ein wenig - »ich weiß noch nicht, was ich da tun werde. Aber wir werden eine Lösung finden, Ted. Verlassen Sie sich darauf. Rufen Sie mich an. Halten Sie mich auf dem laufenden.«

Ted war nicht fähig, dem anderen ins Gesicht zu blicken. »Ich berichte Ihnen, was Pater Crispin meint«, sagte er leise.

Jonas Wade nahm seine Brille ab und legte sie auf den Tisch. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich den Nasenrücken, um die durch das lange Tragen der Brille entstandenen Einkerbungen wegzumassieren. Dann sah er nachdenklich auf die Zeitschriften hinunter, die vor ihm ausgebreitet lagen.

Er hatte ihn gefunden, den Bericht, den er vor einigen Jahren gelesen und an dessen Inhalt er sich nur noch bruchstückhaft erinnert hatte. Aber er hatte noch mehr gefunden; ein Artikel hatte zum nächsten geführt, immer neue Zeitschriften hatte er sich geholt, und jetzt saß er im stillen Lesesaal der Bibliothek allein vor einem Tisch, auf dem ein ganzes Dutzend aufgeschlagener Hefte verstreut lagen.

Und was hatten sie ihm schließlich nach zwei Stunden konzentrierter Lektüre sagen können?

Erst hatte er den Truthühnern nachgespürt. Der Artikel im Scientific American vom Februar 1961 enthielt im wesentlichen das, was Bernie ihm bereits gesagt hatte. Danach: Science Newsletter, November 1957. Hier wurde berichtet, daß die Anzahl der Fälle von Parthenogenese bei solchen Truthennen und Hennen gestiegen war, die mit einem neuen Serum gegen Geflügelpocken geimpft worden waren. Man hatte beobachtet, daß mit dem Serum geimpfte Vögel aus unbefruchteten Eiern gesunde und normale Junge ausgebrütet hatten. Den Auslöser für diese Entwicklung hatte man jedoch nicht bestimmen können. Man war sich nicht darüber einig, ob der Impfstoff selbst oder ein unbekannter, in dem Serum enthaltener Stoff der Aktivator war.

Jonas hatte also Bernies parthenogenetische Truthennen gefunden und ebenso die Antwort auf die Frage, die Bernie ihm nicht hatte beantworten können: Nein, die Wissenschaft wußte nicht, was die Ursache für das Wachstum der unbefruchteten Eizelle war.

Nach einigem Suchen hatte Jonas auch den Bericht entdeckt, um dessentwillen er ursprünglich hierher gekommen war.

Im Jahr 1955 hatte in England eine dreißigjährige Frau behauptet, ihre Tochter jungfräulich gezeugt zu haben; die

Empfängnis, erklärte sie, hätte während eines Bombenangriffs im Krieg stattgefunden. Dr. Stanlex Balfour-Lynn vom Queen Charlotte Maternity Hospital und Dr. Helen Spurway Dozentin für Eugenik am University College in London, hatten den Fall auf gegriffen und durch ihre Untersuchungen Genetiker und Embryologen auf der ganzen Welt aufmerksam gemacht.

Die Behauptung der Frau konnte nur durch Blut- und Serumuntersuchungen an der Tochter sowie durch eine langzeitliche Hautverpflanzung bestätigt oder widerlegt werden. Hautverpflanzungen von einem Menschen auf einen anderen waren einzig bei eineiigen Zwillingen möglich; in allen anderen Fällen wurde die fremde Haut abgestoßen, auch wenn es sich um Mutter und Kind handelte, da die Zellen des Kindes immer auch Antigene des Vaters enthielten.

Die Chromosomenuntersuchungen erwiesen, daß die genetische Struktur bei Mutter und Tochter identisch war. Jedoch die Hautverpflanzung gelang nicht. Dies allerdings sei kein schlüssiger Gegenbeweis, erklärten die Befürworter der Parthenogenese; das Mißlingen der Verpflanzung könne alle möglichen Komplikationen zur Ursache haben und sei nicht eindeutig auf das Vorhandensein männlicher Antigene zurückzuführen.

Jonas nahm sich noch einmal den Lancet vom 5. November 1955 vor. Diese hochangesehene englische Fachzeitschrift hatte sich in einem eingehenden Bericht mit der Kontroverse befaßt, und der Autor hatte widerstrebend zugeben müssen, daß »wir unsere Überzeugung, spontane Parthenogenese bei Säugetieren sei ein Ding der Unmöglichkeit, vielleicht doch noch einmal überdenken müssen«. Der in Jonas' Augen entscheidende Satz lautete: »Es ist möglich, daß manche der ledigen Mütter, deren Starrsinn in alten Büchern angeprangert wird ...

die Wahrheit gesprochen haben.«

Selbst beim Lancet, wo man Dr. Spurways Behauptungen anfänglich verlacht hatte, hatte man schließlich eingestehen müssen, daß es möglich sein konnte ...

Jonas legte die Zeitschrift aus der Hand und rieb sich die Augen. Die ganze Sache war äußerst unbefriedigend; einerseits hatte er mehr gefunden, als er erwartet hatte, andererseits jedoch weit weniger, als er sich erhofft hatte. Nach einigen Monaten lebhafter Kontroverse und weitreichender Publicity -Time, Newsweek und sogar der Manchester Guardian hatten über den Fall berichtet - hatte der Aufruhr sich gelegt, und bald krähte kein Hahn mehr danach.

Bewiesen ist gar nichts, hatte die schwerfällige wissenschaftliche Gemeinde erklärt; es gibt ja nichts als negative Beweise - die Zellen des Kindes enthalten dies nicht oder jenes; aber um eine Theorie zu erhärten, bedarf es positiver Beweise. Doch woher sollte man die nehmen?

Acht Jahre waren seitdem vergangen. Wissenschaft und Forschung hatten in der Zwischenzeit Riesenschritte gemacht. Es mußte doch irgendwo irgend jemanden geben ...

»Faszinierend«, sagte Bernie ohne große Überzeugung.

Sie saßen in einem Straßencafe in Westwood Village bei einem Bier. Jonas hatte Bernie eine Stunde zuvor angerufen und ihn gebeten, sich dort mit ihm zu treffen.

»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Faszinierend?«

»Was willst du denn hören, Jonas?«

Jonas schüttelte den Kopf. Er hatte Bernie die Kopien der Artikel gezeigt, ihm seine Vorstellungen erläutert. »Es ist zum Verrücktwerden, Bernie. Je mehr ich lese, desto weniger weiß ich.«

»Das ist natürlich ziemlich deprimierend, aber wenn du mich für den Experten hältst, der dir deine Fragen zu dieser Sache beantworten kann, muß ich dich enttäuschen.« Er wischte sich den Bierschaum von den Lippen. »Aber lassen wir mal den Spurway-Fall beiseite, denn da konnte ja in den Augen der hohen Wissenschaft nichts bewiesen werden. Hast du denn sonst noch irgend etwas über Parthenogenese bei Säugetieren gefunden?«

»Nichts. Es drehte sich immer nur um Elritzen, Seeigel, Eidechsen und Vögel. Bei Geiern findet die Fortpflanzung in der Natur manchmal durch Parthenogenese statt. Darüber weiß ich jetzt eine ganze Menge. Aber über die höheren Tiere habe ich nichts gefunden.«

»Hm.« Bernie runzelte die Stirn und hüllte sich in Schweigen.

»Ich brauche deine Hilfe, Bernie.«

»Wozu? Bist du so sicher, daß das Mädchen die Wahrheit sagt? Schau mal, Jonas, die entscheidende Frage ist doch, ob Parthenogenese bei Säugetieren überhaupt möglich ist. Habe ich recht? Man kann von Truthühnern nicht einfach auf Menschen schließen. Aber -« er hob belehrend seinen dicken Zeigefinger - »von, sagen wir, Mäusen sehr wohl. O ja, ganz entschieden. Und ich glaube, ich weiß, wo du da was finden kannst.«

Bernie wischte sich die Hand an einer Papierserviette ab und zog ein in Leder gebundenes Notizbuch aus der Innentasche seines Tweedjacketts. Er klappte es ganz hinten auf und schrieb etwas hinein. Dann riß er die Seite heraus und reichte sie Jonas.

»Mit dieser Dame solltest du dich mal unterhalten. Sie ist hier an der Universität.«

Jonas las den Namen. »Henderson, Embryologin. Ist sie gut?«

»Eine Kapazität. Du kannst sie praktisch zu jeder Zeit in ihrem Labor erreichen. Dritter Stock. Du brauchst vorher nicht anzurufen. Sie hat gern Besuch und sie redet gern. Und wenn sie dir sagt, daß Parthenogenese bei Säugetieren nicht möglich ist, mein Freund, dann kannst du dich drauf verlassen, daß es stimmt, und kannst deine hirnverbrannte Idee endgültig ad acta legen.«

Es war ein glühend heißer Tag. Mary lag auf ihrem Bett und starrte zur Lampe in der Mitte der Zimmerdecke hinauf. Sie wünschte, sie hätte ein anderes Zimmer; ihres ging nach Süden. Nicht einmal die Klimaanlage, die das ganze Haus kühlte, brachte da viel Abhilfe.

Sie war heute morgen nicht zur Schule gegangen. Nach einer fast schlaflosen Nacht, in der sie stundenlang geweint hatte, war sie am Morgen mit rasenden Kopfschmerzen und starker Übelkeit erwacht. Obwohl sie seit dem vergangenen Mittag nichts gegessen hatte, hatten die Gerüche von gebratenem Schinken und Kaffee, die aus der Küche kamen, das Gefühl der Übelkeit nur verstärkt, und sie war gar nicht erst hinausgegangen. Sie hatte ihr Zimmer abgesperrt und war den ganzen Tag für sich geblieben. Daß ihre Mutter nach dem gestrigen Tag zum Alltag zurückkehren konnte, als wäre nichts gewesen, war ihr unbegreiflich.

Niemand war an ihre Tür gekommen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach ihr zu sehen. Sie hatte gehört, wie ihr Vater gegen elf weggefahren war, und hatte mittags Amy mit ihrem Schwimmzeug unter dem Arm davongehen sehen. Sie hatte gehört, wie ihre Mutter durch das ganze Haus gegangen war und alle Fenster geschlossen hatte, um dann die Klimaanlage einzuschalten. Danach war sie ins Schlafzimmer gegangen und hatte die Tür zugemacht.

Jetzt wurde es bereits dämmrig, und Mary lag immer noch in ihrem Zimmer. Auch ihre Mutter hatte sich nicht aus dem Schlafzimmer gerührt. Amy war bis jetzt nicht heimgekommen, und ihr Vater auch nicht.

Sie wartete mit Ungeduld und Furcht auf seine Heimkehr, um endlich zu erfahren, was er nun zu tun gedachte. Gestern abend hatte ihre Mutter ihm gesagt, er solle jemanden suchen, damit sie »das Ding loswerden« könnten.

Das Telefon läutete.

Sie lauschte. Nichts rührte sich im Haus. Beim dritten Läuten sprang Mary vom Bett und rannte hinaus. Sie lief zu dem Apparat in der Küche, weil der von den Schlafzimmern am weitesten entfernt war, und hob ab.

»Hallo?« meldete sie sich außer Atem.

»Mary?« Es war Germaine. »Wie geht's dir?«

Mary lehnte sich an die kühle Wand. »Hallo, Germaine.«

»Warum warst du heute nicht in der Schule? Alle haben nach dir gefragt.«

»Mir war wieder nicht gut.«

»Hat der Arzt denn nicht festgestellt, was dir fehlt?«

Mary seufzte. Seit jenem ersten Besuch bei Dr. Wade schien eine unendlich lange Zeit verstrichen zu sein. Germaine wußte von diesem Besuch, aber nicht von dem Befund und auch nicht von dem zweiten Besuch bei Dr. Evans.

»Nein. Es scheint was ganz Mysteriöses zu sein.«

»Hey, wir haben heute unsere Zeugnisse bekommen. Stell dir vor, in Französisch hab ich ein B. Ist das nicht toll? Die fand meinen Aufsatz über den Existenzialismus tatsächlich

gut. Mary? Hörst du mich überhaupt?«

»Ja.«

»Kommst du morgen wieder?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Es ist der letzte Tag, Mary, du weißt doch, da geht's immer hoch her.« Einen Moment trat Schweigen ein. »Okay, dann mach ich jetzt mal Schluß. Ich warte morgen an der Fahnenstange auf dich wie immer, ja?«

»Ja.«

»Und wenn du was brauchst, dann ruf mich an, okay?«

»Ja. Danke.«

Den Hörer in der Hand behaltend, obwohl Germaine aufgelegt hatte, stand Mary da und sah sich wie eine Fremde in der Küche um. Mehrere Schubladen standen offen, auf der Anrichte waren Kaffeeflecken, die Butter auf dem Tisch war halb geschmolzen. Sie drückte auf die Gabel des Telefonapparats, wartete, bis das Freizeichen kam und wählte dann beinahe mechanisch Mikes Nummer.

Timothy meldete sich. »Hier ist das Weiße Haus. Sie wünschen bitte?«

»Hallo, Timmy, ich bin's, Mary. Ist Mike da?«

»Ja, warte, ich hol ihn.«

Sie hörte den Jungen laut nach Mike rufen, hörte eine gedämpfte Antwort, dann wieder Timothys Stimme, »Es ist Mary«. Sie rutschte an der Wand hinunter, bis sie auf dem Boden hockte, und wartete darauf, daß Mike sich melden würde.

»Hallo«, sagte er endlich.

»Mike?« Mary umklammerte den Hörer so fest, daß ihre Finger weiß wurden. »Mike, kannst du gleich mal rüberkommen?«

Seine Stimme kam von weit her. »Mary - ich wollte dich gerade anrufen.«

In seinem Ton war eine Schwingung, die sie beunruhigte. »Mike«, flüsterte sie, »war mein Vater heute bei euch?«

Eine Pause. Dann sagte er: »Ja.«

Sie schluckte. »Dann - weißt du es?«

»Ja.«

Sie schloß die Augen. »Ich muß unbedingt mit dir reden.«

»Ja, Mary, ich will auch mit dir reden. Mary ...« Seine Stimme klang gepreßt und undeutlich, wie durch Watte. »Mein Gott, Mary, ich war total geschockt. Echt, ich hab den ganzen Tag an nichts anderes denken können. Ich meine, es ist so, so unfaßbar, verstehst du? Mary, eins muß ich wissen.«

»Was denn?«

»Mit wem hast du's getan?«

Sie riß die Augen auf. Ihr Blick flog durch die Küche; die Unordnung, die ihre Mutter hinterlassen hatte - so untypisch für sie.

»Mike«, sagte sie angespannt, die Knie bis zur Brust hochgezogen. »Mike, ich hab nichts getan. Ich schwör's dir, ich hab nichts getan. Mit niemandem. Was die Ärzte sagen, ist nicht wahr. Sie irren sich. Aber ich hab solche Angst, und meine Eltern glauben mir nicht. Ich hab keinen Menschen.« Mary schossen die Tränen in die Augen. Sie sah die Küche nur noch wie durch einen Schleier. »Mike, du mußt herkommen, ich brauch dich.«

»Ich kann nicht, Mary. Jetzt nicht -«

»Dann komm ich zu dir. Oder wir treffen uns irgendwo. Ich muß dir das alles erklären. Wir müssen drüber reden. Ich werd damit allein nicht fertig. Ich weiß nicht, was los ist.«

Mary lauschte auf die Stille und mißverstand sie. »Ach, Mike«, flüsterte sie, »bitte tu mir das nicht an .«

Schluchzend sagte er: »Es tut mir so leid, Mary - so verdammt leid. Ich - ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Mary!« rief er. »Es ist mir gleich, ehrlich. Ich steh zu dir, ich schwör's dir. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich heirate dich auch, aber ich muß es wissen. Ich muß es wissen, Mary.« Er hatte Mühe, die Worte herauszubringen. »Warum ein anderer? Warum nicht ich?«

»Mike, bitte! Du verstehst mich nicht. Und ich weiß nicht, wie ich es dir verständlich machen soll.«

»Mary, wenn du mich liebst -« er kämpfte um seine Beherrschung - »wenn du mich liebst, dann sei ehrlich mit mir. Wir müssen aufrichtig zueinander sein, das waren wir doch immer. Keine Geheimnisse, Mary, darum geht's doch, wenn man sich liebt. Wir stehen das gemeinsam durch, ich versprech es dir, aber laß mich nicht außen vor, lüg mich nicht an.«

»Ich lüge nicht -«

»Deinem Vater kannst du erzählen, was du willst, aber mir mußt du vertrauen, Mary. Weißt du eigentlich, wie weh mir das tut? Es tut gemein weh, dich zu lieben und zu wissen, daß du es mit einem anderen getan hast und mir nicht mal so viel Vertrauen entgegenbringst, daß du mir die Wahrheit sagst -«

»Aber ich hab doch gar nicht -«

»Das ist wirklich das Schlimmste! Daß du mir nicht die Wahrheit sagst. Vertrau mir doch, Herrgott noch mal!«

Wieder schloß Mary die Augen und leckte sich die Tränen von den Lippen. Einen Moment lang war die Versuchung groß

- ihm irgend etwas zu erzählen, eine Geschichte zu erfinden, einen anderen Jungen, einen Freund von Germaine vielleicht, einen Freund ihres Freundes Rudy. Wir haben was getrunken, und eigentlich wollte ich gar nicht, und es war auch gar nicht schön, aber nun hab ich's mal getan, und es tut mir leid, du hast keine Ahnung, wie sehr ich es bereue, Mike. Dann würde Mike herüberkommen und sie in die Arme nehmen und trösten ...

»Mike.« Ihre Stimme war ernst und ruhig. »Ich sage dir die Wahrheit. Ich habe nichts getan. Mit niemandem. Sag, daß du mir glaubst.«

Seine Stimme war verzerrt. »Ich kann nicht mehr reden. Ich kann jetzt nicht mehr, Mary. Ich muß nachdenken. Ich muß mir überlegen, was ich tun soll. Alle - mein Vater und meine Brüder - glauben, das Kind wäre von mir. Ich muß nachdenken, Mary.«

Marys Mund formte die Worte: Ich bekomme kein Kind. Aber ihre Stimme versagte.

Mike sprach stockend weiter. »Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen, Mary. Ich muß mir selbst erst klar werden, was ich tun soll. Ich muß erst mal mit mir selber zurechtkommen, verstehst du? Wir müssen zusammenhalten, Mary, aber du willst nicht, du hast kein Vertrauen zu mir, und ich - ich -«

Ihre Stimme war tonlos. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.

Minutenlang blieb sie wie betäubt auf dem Boden hocken, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut. Das Telefon läutete zwölfmal, aber sie hob nicht ab. Dann schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen. »Daddy«, schluchzte sie immer wieder. »Daddy .«

Ted war überrascht, das Haus dunkel vorzufinden, als er nach Hause kam. Er blieb einen Moment lang verwundert stehen und blinzelte in die Dunkelheit, dann knipste er in der Diele das Licht an und ging müde ins Wohnzimmer.

Jetzt brauchte er erst einmal einen Whisky. Dann würde er nachsehen, wo der Rest der Familie war, und danach würde er vielleicht darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.

Als er noch dabei war, sich einzuschenken, hörte er plötzlich lautes Krachen und das Splittern von Glas. Er stellte Flasche und Glas nieder und stürzte hinaus. Der Flur war leer, aber unter der Tür zum Badezimmer der Mädchen schimmerte Licht. Ted rannte hin und legte das Ohr an die Tür. Nichts.

»Mary?« rief er. Alles blieb still. »Amy?« Noch immer rührte sich nichts.

Er versuchte den Türknopf zu drehen. Die Tür war abgeschlossen.

»Wer ist da drin? Antwortet! Mary? Amy?«

Er schlug mit beiden Fäusten an die Tür.

Die Tür des Schlafzimmers öffnete sich. Lucille kam schlaftrunken heraus. »Was ist das für ein Krach -«

»Mary!« Ted schlug fester an die Tür. »Mary! Mach auf!«

Lucille kam zu ihm. »Was ist denn los?«

Ohne sie zu beachten, ging er ein paar Schritte zurück, hob das rechte Bein und trat mit dem Fuß kräftig gegen die Tür. Ein schwarzer Abdruck blieb auf dem Weiß des Holzes zurück. Er trat noch einmal.

»Ted!« schrie Lucille.

Beim sechsten Tritt sprang die Tür auf. Ted stürzte ins Bad. Mary lag in einer Blutlache auf dem Boden. Im Waschbecken fanden sie eine Rasierklinge.

Загрузка...