Am schlimmsten fand sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Ihre Mutter war wenigstens so rücksichtsvoll gewesen, zum Fenster zu gehen und zur Straße hinauszuschauen; aber Ted mußte am Bett sitzen und sie unablässig ansehen. Er erinnerte sie an einen Cockerspaniel.
Marys Arme lagen auf der Bettdecke. Beide Handgelenke und Hände waren verbunden; die Klinge hatte an ihren Fingern ebensoviel Schaden angerichtet wie an den Handgelenken.
Sie war am Abend zuvor auf der Unfallstation zu sich gekommen. Dr. Wade verband gerade ihr Handgelenk, als sie, vom grellen Licht geblendet, den Kopf auf die Seite drehte, seine vertraute Stimme hörte. »Es ist alles gut, Mary«, sagte er ruhig. »Du hast nicht viel Blut verloren. Du bist durch die psychische Belastung ohnmächtig geworden, nicht vom Blutverlust.«
Sie drehte den Kopf wieder zurück, um ihn ansehen zu können. Er lächelte beruhigend. Sie schloß die Augen und schlief wieder ein.
In der Nacht war sie erneut aufgewacht, allein in einem Privatzimmer, einen Plastikschlauch im Arm, der zu einer über ihr hängenden Flasche hinaufreichte. Sie hatte lange wach gelegen und sich zu erinnern versucht. Aber schließlich war sie doch wieder eingeschlafen.
Als sie am Morgen erwachte, war der Schlauch in ihrem Arm nicht mehr da. Eine freundliche Schwester war hereingekommen, hatte eine Schale mit warmem Wasser vor sie hingestellt und ihr behutsam das Gesicht gewaschen, ihre Zähne geputzt und dann ihr Haar gekämmt. Mary hatte das alles schweigend über sich ergehen lassen. Später war dieselbe Schwester mit dem Frühstück gekommen und hatte Mary geduldig gefüttert.
Und dann waren endlich ihre Eltern gekommen. In den Augen ihres Vaters sah sie so viel Verwirrung und Schmerz, daß sie es kaum über sich brachte, ihn anzusehen.
»Wir haben Amy gesagt, du hättest Blinddarmentzündung«, sagte er mit einem kummervollen Blick auf ihre verbundenen Hände. »Deine Mutter hat in der Schule angerufen und das gleiche gesagt. Sie schicken dir dein Zeugnis per Post.«
Sie hielt den Blick auf die in der Zimmerdecke verankerte Metallstange gerichtet, an der ein Vorhang herabhing, den man um das ganze Bett herumziehen konnte. Sie wünschte, sie könnte das jetzt tun. Sich von ihren Eltern abschirmen.
»Mary -«
»Ja, Daddy?«
»Mary, kannst du mich nicht ansehen?«
Sie zögerte einen Moment, dann drehte sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
»Es tut mir so leid, Kätzchen«, sagte er.
»Mir auch, Daddy.«
»Mary.« Ted war sichtlich verlegen. »Mary, ich -«
Sie sah ihn ruhig an. »Daddy, ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich - ich hab's einfach getan.«
»Du hast uns schreckliche Angst gemacht.« Er hätte so gern ihre Hand gehalten. »Mary - Kind, warum bist du nicht zu uns gekommen? Wir sind doch deine Eltern. Du kannst immer
zu uns kommen.«
Ihre Augen waren stumpf und leblos.
»Ich danke Gott«, flüsterte er, »daß ich rechtzeitig nach Hause gekommen bin.«
Sie drehte den Kopf zur Seite. In die Stille des Zimmers drangen die alltäglichen Geräusche des Krankenhauses. Eilige Schritte im Korridor, das Klappern eines Wagens, der vorbeigeschoben wurde; die Stimme des Lautsprechers, über den einer der Ärzte ausgerufen wurde.
Dann klopfte es. Mary stockte das Herz. Wenn es Mike ist, werde ich - Germaine schaute zur Tür herein. »Mary?«
Ted sprang auf. »Dr. Wade hat jeden Besuch verboten.«
»Ja, ich weiß, Mr. McFarland.« Germaine kam ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Ich hab gesagt, ich wäre Marys Schwester. Mary? Ist es dir lieber, wenn ich wieder gehe?«
»Mary ist wirklich nicht in der Verfassung -«
»Ach, Daddy, laß doch. Ich bin froh, daß Germaine gekommen ist.«
Germaine kam ans Bett, sah mit einem Blick die bandagierten Hände. Sie legte ihre Tasche auf einen Stuhl und setzte sich zu Mary aufs Bett.
»Du warst heute morgen nicht an der Fahnenstange.«
Mary lächelte schwach. »Ich hatte was anderes zu tun.«
»Ja, das seh ich. Ich hab bei euch zu Hause angerufen, und Amy sagte, du hättest Blinddarmentzündung, und dein Vater hätte dich ins Encino Krankenhaus gefahren.« Germaine lächelte. »Ich sehe man hat dir den Blinddarm rausgenommen.«
Mary hob die Arme. »Beide.«
»Ach, Mensch, Mary .«
Ted ging ein paar Schritte vom Bett weg und sah ungläubig, wie seine Tochter in Gegenwart der Freundin lebendig wurde.
»Hast du's kurz nach meinem Anruf getan, Mary?«
»So ungefähr, ja.«
»Ach, Mann, warum hast du nichts gesagt? Ich hab gleich gefunden, daß du komisch klingst. Warum hast du nicht mit mir geredet, Mary? Ich bin doch deine beste Freundin.«
»Ich konnte nicht. Es ist alles so schwierig. Ich meine, warum ich es getan habe. Du weißt ja nicht, was -«
Sie begann zu weinen. Impulsiv neigte sich Germaine zu ihr hinunter und drückte ihre Wange an Marys. Ted wäre am liebsten dazwischengefahren, aber er hielt sich zurück. Bekümmert sah er zu, wie Mary, die ihm gegenüber so verschlossen geblieben war, der Freundin die Arme um den Hals legte. Er hörte sie leise miteinander sprechen, wobei Germaine zart Marys Stirn streichelte und ihre Wange küßte.
Nach einer Weile richtete sich Germaine auf, warf das lange Haar zurück und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
»Du hättest es mir doch sagen können, Mary. Du weißt, daß du mit mir über alles reden kannst. Ich hätte dir das schon ausgeredet. Nichts ist so schlimm, daß man deswegen gleich Schluß machen muß.«
»Ich weiß ja ... Ich versteh selbst nicht, warum ich dir nichts gesagt habe. Ich glaube, ich hatte einfach das Gefühl, daß die ganze Welt gegen mich war.«
Ted schluckte seinen Schmerz hinunter.
»Sie glauben mir alle nicht«, fuhr Mary fort. »Da dachte ich wohl, du würdest mir auch nicht glauben. Ich meine, was bedeutet schon mein Wort gegen das von zwei Ärzten.«
Germaine schwieg einen Moment nachdenklich. Dann sagte sie: »Ich kann nicht behaupten, daß ich das Ganze verstehe,
Mary, aber wer bin ich schon, daß ich sagen kann, was wahr ist und was nicht? Wenn du das glaubst, was du sagst, dann gilt es eben. Dann muß ich es auch glauben.«
Mary lächelte dankbar und berührte mit der verbundenen Hand Germaines Wange. Ehe sie etwas sagen konnte, klopfte es wieder an der Tür.
»Herrgott noch mal«, brummte Ted und ging hin, um aufzumachen. Als er Pater Crispin sah, trat er sofort zur Seite und hielt die Tür auf.
»Guten Morgen, Mr. McFarland.«
»Guten Morgen, Pater.«
Die Tür fiel langsam zu, während Pater Crispin, gefolgt von Ted, zum Bett trat. »Guten Morgen, Mary.«
Sie schien sich in die Kissen zurückzuziehen. »Guten Morgen, Pater.«
»Danke, daß Sie gekommen sind«, murmelte Ted. Er blickte zu Lucille hinüber. Sie schien die Ankunft des Priesters gar nicht wahrgenommen zu haben.
Pater Lionel Crispin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, ein stattlicher, fünfzigjähriger Mann mit grauem Haar, das sich am Scheitel lichtete, so daß es aussah, als trüge er die Tonsur des Mönchs. Mit strengem Blick sah er zu Mary hinunter.
»Wie geht es dir heute morgen, Mary?«
»Ach, ganz gut, Pater.«
Er sah zu Germaine hinüber und schürzte leicht die Lippen. »Dein Vater hat mir alles erzählt, Mary. Ich kann nur sagen, ich wollte, du wärst gleich zu mir gekommen. Ich kenne dich seit deiner frühesten Kindheit, Mary. Ich habe dich getauft. Du weißt, daß du mir vertrauen kannst. Wenn du in Not bist, kannst du immer zu mir kommen.«
»Ja, Pater.«
Er beugte sich ein wenig vor und tätschelte leicht ihre verbundene Hand. »Denk daran, Kind, du bist nicht allein. Gott, unser Herr, steht zu dir, wenn du ihn nur darum bittest. Für Sünden kann man Buße tun. Das Leben kann einen neuen Anfang nehmen. Verstehst du, was ich sage, Mary?«
»Ja, Pater.«
Pater Crispin sah das Mädchen mit einem beruhigenden Lächeln an, aber in Wahrheit konnte er nicht begreifen, was hier geschehen war, und war tief beunruhigt. Mary Ann McFarland war in der Grundschule von St. Sebastian eine seiner besten Schülerinnen gewesen. Die Nonnen liebten sie. Sie war die aufgeweckteste und tatkräftigste unter den Mädchen, die zu seiner Jugendgruppe gehörten. Und die Sünden, die sie regelmäßig jeden Samstag beichtete, waren Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was er von den meisten anderen jungen Leuten zu hören bekam.
Aus drei Gründen war er beunruhigt: sie hatte die Sünde des Geschlechtsverkehrs nicht gebeichtet; sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht; und als Schwangere hatte sie damit zugleich einen Mordversuch begangen.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er griff in seine Tasche und zog einen langen schwarzen Rosenkranz heraus. Das silberne Kruzifix blitzte im Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte. Er hielt den Rosenkranz vor ihr hoch und legte ihn ihr dann um die rechte Hand. »Von seiner Heiligkeit persönlich gesegnet.«
»Danke, Pater.«
»Möchtest du heute abend die heilige Kommunion nehmen?«
»Nein - Pater.«
Natürlich nicht, dachte er tief besorgt. Dann müßtest du ja vorher beichten, und du bist noch nicht bereit, dich mir anzuvertrauen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu Ted auf. Zwischen den beiden Männern fand ein wortloser Austausch statt, dann wandte sich der Geistliche wieder Mary zu. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam nicht dazu. Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür geöffnet, und Dr. Wade trat ins Zimmer.
»Guten Morgen«, sagte er, sich im Zimmer umsehend.
Marys Gesicht hellte sich auf, und sie versuchte erfolglos, sich etwas weiter aufzusetzen.
Als Pater Crispin aufstand, sagte Ted: »Dr. Wade, das ist Pater Crispin, unser Geistlicher.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Dann ging Jonas Wade um das Bett herum und beugte sich lächelnd über Mary.
»Und wie geht es meiner hübschesten Patientin heute?«
»Ganz gut.«
»Na, das wollen wir uns mal ansehen.«
Er drehte sich um und nickte den beiden Männern zu. Augenblicklich ging Ted zu Lucille und berührte leicht ihren Ellbogen. Wie im Traum drehte sie sich um und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen.
Germaine rutschte vom Bett und nahm ihre Tasche. »Ich muß los, Mary. Aber ich komm heute nachmittag noch mal.«
Jonas schloß die Tür hinter ihnen allen, dann kam er wieder ans Bett.
Mary sah lächelnd zu ihm auf. Er war nicht das, was man einen gutaussehenden Mann nennen würde, aber sein Gesicht, seine ganze Art hatte etwas, das Mary ansprach.
»Tja Mary, so trifft man sich wieder.« Er setzte sich auf den
Stuhl, den Pater Crispin zurückgelassen hatte und beugte sich vor. »Wie behandeln sie dich denn hier?«
»Gut.«
»Und wie geht es deinen Händen?« Er legte den Rosenkranz weg und nahm ihr linkes Handgelenk, drehte es um und begutachtete den Verband. Dann tat er das gleiche mit der rechten Hand. »Du warst wohl ziemlich außer dir, Mary, als du das tatest, nicht? Diese zweischneidigen Klingen sind gefährlich, wenn man nicht richtig mit ihnen umgeht. Sei froh, daß du keine Sehne erwischt hast.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete Mary. Sie erschien ihm viel kleiner und zarter, als er sie in Erinnerung hatte.
»Möchtest du mit mir darüber sprechen?« fragte er ruhig.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.«
»Weißt du, warum du es getan hast?«
Sie wandte den Blick ab. »Ich glaub schon.«
»Dann sprechen wir darüber.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihm ins Gesicht. »Mein Vater war nicht da. Und Mike -«
»Das ist dein Freund?«
»Ja. Wir sind seit einem Jahr zusammen. Wir wollten später mal heiraten. Er hat mir nicht geglaubt. Genau wie alle anderen.«
»Was meinst du, wenn du sagst, dein Vater war nicht da?«
»Na ja, ich wollte eben, daß er da ist, und er war nicht da.«
»Aber deine Mutter war doch da. Das sagte sie mir.«
»Ja ...«
»Aber du wolltest lieber mit deinem Vater sprechen?«
»Ja.«
»Wußtest du denn nicht, daß er im Büro war? Ich meine, wieso hast du erwartet, daß er zu Hause sein würde?«
Sie senkte die Lider. »Weil er gestern nicht im Büro war. Er war - er war weg und suchte -«
Jonas Wade runzelte die Stirn. »Was suchte er, Mary?«
»Er suchte jemanden, der eine Abtreibung machen kann«, flüsterte sie.
»Oh. Ich verstehe.«
»Darum hab ich's getan.«
»Hast du denn bei niemandem Hilfe gesucht?«
»Ich wollte keine Hilfe. Seit Sie meiner Mutter gesagt haben, daß ich ein Kind erwarte, ist alles ganz furchtbar. Alle sind unglücklich und total verstört. Sogar Pater Crispin. Er hat es nicht gesagt, aber ich hab's ihm angesehen. Alle sind meinetwegen unglücklich. Da dachte ich mir, sie würden alle froh sein, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Mary, Selbstmord ist nie eine Lösung. Du weißt doch, daß deine Eltern es nie verwinden würden, wenn du dir das Leben nehmen würdest.«
»Ach, ich weiß nicht -«
»Natürlich weißt du es. Vielleicht wolltest du sie bestrafen. Hast du daran einmal gedacht?«
Ihre Augen blitzten zornig. »Sie hätten es verdient, oder nicht? Sie glauben mir nicht, obwohl ich die Wahrheit sage. Sie behaupten, daß ich lüge, beschuldigen Mike, reden von Abtreibung. Das ist grauenhaft. Wieso finden sie überhaupt Abtreibung plötzlich in Ordnung?«
»Ich habe den Eindruck, du bist ziemlich zornig über diese ganze Sache.«
»Ich habe nichts Unrechtes getan, Dr. Wade, aber alle behandeln sie mich wie eine Verbrecherin. Schön, wenn sie mich nicht mögen und nicht mehr haben wollen - bitte sehr, das kann ich leicht arrangieren.«
»Mary! Hast du das alles auch deinen Eltern gesagt? Wissen sie, wie dir zumute ist?«
Sie drehte den Kopf wieder zur Seite. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Darum.«
»Das ist keine Antwort.«
»Weil es ihnen sowieso egal ist.«
»Du scheinst zu glauben, daß es mir nicht egal ist.«
Sie riß ihren Kopf herum und sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Ja«, antwortete sie heftig. »Das glaube ich. Ihnen bin ich nicht egal. Sie verstehen mich. Vorgestern abend, als meine Eltern zu Ihnen in die Praxis kamen, um mich zu holen, sagten Sie, sie glaubten nicht, daß ich lüge.«
»Das ist richtig, Mary«, sagte er. »Aber«, fügte er ernst hinzu, »daß heißt noch nicht, daß ich dir glaube. Es ist da ein Unterschied. Ich sagte nur, daß du meiner Ansicht nach selbst glaubst, was du sagst; aber ich wollte damit nicht sagen, daß es wahr sein muß.«
»Das spielt keine Rolle. Das Entscheidende ist doch, daß Sie mich nicht für eine Lügnerin halten, Dr. Wade. Sie glauben nicht, daß ich etwas Unrechtes getan habe.«
Jonas Wade hatte Mühe, seine Beunruhigung zu verbergen. Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er in das junge hoffnungsvolle Gesicht und war einen Moment lang versucht, ihr von seinen Nachforschungen zu berichten. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Es wäre leichtfertig gewesen, ihr schon jetzt etwas davon zu sagen. Er wollte wenigstens warten, bis er mit der Embryologin gesprochen hatte, die Bernie ihm empfohlen hatte.
»Dr. Wade«, sagte Mary leise, »wenn Sie der Ansicht sind, daß ich selbst es glaube, wenn ich sage, daß ich nicht mit einem Jungen geschlafen habe, glauben Sie dann auch, daß ich es wirklich nicht getan habe?«
»Unsere Psyche tut die komischsten Dinge, Mary. Vielleicht hast du etwas getan und erinnerst dich einfach nicht mehr daran.«
Sie schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. »Nein. Ich habe nie mit einem Jungen geschlafen.«
Pater Crispin und die McFarlands saßen draußen im Korridor. »Danke, daß Sie gewartet haben«, sagte Jonas Wade. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Pater Crispin, ich bin Ihnen für Ihren Beistand in dieser Angelegenheit dankbar.«
Er führte sie zum Ärztezimmer, und als alle sich gesetzt hatten, sagte er: »Mr. McFarland, Sie und Ihre Frau müssen jetzt eine wichtige Entscheidung treffen. Pater Crispin und ich sind gern bereit, Sie zu beraten, aber letztlich liegt die Entscheidung allein bei Ihnen.«
Ted, der Lucilles Hand umschlossen hielt, nickte nur.
»Bei einem Selbstmordversuch«, fuhr Jonas Wade fort, »insbesondere bei Minderjährigen, ist es meine Pflicht, der Polizei Meldung zu machen. Es geht dabei nicht um eine Strafverfolgung, sondern um den Schutz des Opfers. Minderjährige werden dabei in der Regel dem Gericht unterstellt, das dafür sorgt, daß sie aus den Verhältnissen herausgenommen werden, die sie zu dem Selbstmordversuch getrieben haben.«
Ted wollte etwas sagen, doch Jonas Wade hob abwehrend die Hand. »Bitte lassen Sie mich zu Ende sprechen. Es ist klar, daß jeder Fall anders liegt. Die Familienverhältnisse, die Lebensumstände, in denen das Kind sich befindet, unterscheiden sich von Fall zu Fall. Sehr häufig kommt einem Kind das Eingreifen der Behörden zugute. Beispielsweise wenn es aus einer unerträglichen häuslichen Situation herausgenommen wird.«
Ted spürte, wie Lucille ihm ihre Hand entzog. Er sah sie an. Ihr Blick war in konzentrierter Aufmerksamkeit auf den Arzt gerichtet.
»Ich bin mir jedoch nicht sicher«, fuhr Jonas Wade fort, »daß in Marys Fall eine behördliche Intervention wirklich in ihrem Interesse wäre. Ich meine, in Anbetracht dessen, was ich über ihr Zuhause und ihre tiefe Verbindung zur Kirche weiß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, diesen Fall zu melden, wenn wir, die wir hier sitzen, gemeinsam eine angemessene und praktische Lösung finden können.«
In dem kleinen Aufenthaltsraum, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch roch, war es einen Moment lang still. Dann fragte Ted leise: »Hat Mary mit Ihnen gesprochen, Dr. Wade?«
»Ja, aber was sie mir sagte, kann ich nicht weitergeben. Sie hat das gleiche Recht wie jeder Erwachsene darauf, daß ihre Mitteilungen im Rahmen des Arztgeheimnisses vertraulich behandelt werden. Eines kann ich und will ich jedoch sagen: Wir müssen rasch handeln.«
»Dr. Wade.« Lucilles Stimme war tonlos. Ihr Gesicht war sehr bleich. »Warum hat sie es getan?«
Er breitete die Hände aus. »Warum fragen Sie das nicht Ihre Tochter?«
Lucille schüttelte nur den Kopf.
»Ich verstehe nicht«, sagte Ted beinahe heftig, »wieso Mary sich Fremden öffnet, Leuten, die nicht zur Familie gehören, und sich weigert, mit uns zu sprechen. Vertraut sie uns denn nicht, Dr. Wade?«
»Mr. McFarland, Ihre Tochter klammert sich im Augenblick an jeden, der bereit ist, ihr zu glauben. Offenbar haben Sie und
Ihre Frau ihr deutlich gezeigt, daß Sie ihrer Behauptung keinen Glauben schenken, deshalb verweigert sie sich Ihnen.«
»Aber es ist doch ausgeschlossen, daß sie die Wahrheit sagt!«
Jonas Wade wiegte den Kopf hin und her. »Dieser Fall hat einige äußerst ungewöhnliche Aspekte. Die Hartnäckigkeit, mit der sie an ihrer Behauptung festhält .« Einen Augenblick lang erwog er, ihnen von seinem Verdacht und seinen Recherchen zu berichten, verwarf es aber wie zuvor bei Mary. Er wollte erst mit Dr. Henderson sprechen. »Außerdem kommt es nicht darauf an, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht. Der springende Punkt ist, daß sie selbst an ihre Unschuld glaubt, und Sie sich weigern, ihr zu glauben.«
»Kommt so etwas häufig vor?« fragte Pater Crispin.
»Höchst selten, Pater. Viele Mädchen behaupten, vergewaltigt worden zu sein, wenn sie nicht eingestehen wollen, daß sie sich auf intime Beziehungen eingelassen haben. Aber daß ein Mädchen beteuert, unberührt zu sein, obwohl an einer Schwangerschaft kein Zweifel besteht, kommt, wie gesagt, äußerst selten vor. In psychiatrischen Fachzeitschriften stößt man hin und wieder auf einen Bericht über einen solchen Fall; wo Frauen bis zur Entbindung und selbst danach noch behauptet haben, niemals mit einem Mann zusammen gewesen zu sein. Meistens sind das Fälle für den Psychiater.«
»Nein!« flüsterte Lucille. »Meine Tochter ist doch nicht verrückt.«
»Das habe ich auch nicht behauptet, Mrs. McFarland. Im übrigen sollte das im Moment nicht unsere Hauptsorge sein. Die Realität sieht doch folgendermaßen aus, Mr. und Mrs. McFarland: Ihre minderjährige Tochter ist schwanger. Sie befindet sich in einem emotionalen Zustand höchster Labilität und braucht Schutz und Hilfe. Sie müssen nun entscheiden, was geschehen soll. Da Abtreibung gesetzlich verboten ist, und ich annehme, daß eine Heirat nicht in Frage kommt -« er machte eine kurze Pause, um ihre Gesichter zu mustern -»bleiben Ihnen nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie behalten Mary zu Hause, oder Sie geben sie fort, bis das Kind geboren ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Ted erschrocken. »Sie weggeben?«
»Meiner Ansicht nach wäre es für Mary das Beste, wenn sie an einen Ort käme, wo sie unter ständiger Aufsicht und Fürsorge ist.«
Er beobachtete die drei Gesichter. Am längsten ruhte sein Blick auf dem Pater Crispins. Er konnte dem Mann ansehen, daß er äußerst erregt war, und er konnte sich auch denken, warum. Nach allem, was er gehört hatte, war Mary Ann McFarland das Muster einer guten Katholikin, hatte dem Gemeindegeistlichen stets getreulich alle ihre Sünden, auch die peinlichsten und geheimsten, gebeichtet. Und doch hatte sie diese eine zum Kummer des Priesters verschwiegen.
»Dr. Wade«, sagte Pater Crispin nach längerem Schweigen, »ich weiß nicht, wozu Sie Mr. und Mrs. McFarland raten werden, aber ich möchte doch sagen, daß mich diese Geschichte tief bestürzt und ich darum einen Vorschlag machen würde.«
»Gern, Pater. Ihr Beistand ist mir, wie ich schon sagte, sehr willkommen.«
»Gut«, sagte Pater Crispin, »dann würde ich folgendes vorschlagen.«