13


Jonas Wade hatte Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war fast Mittag; jeden Moment würde Mary Ann McFarland kommen.

»Okay, Timmy, das wär's!« Er gab dem kleinen Jungen einen leichten Klaps auf die Schulter. »Du warst wirklich tapfer. Jetzt sind alle Fäden raus.«

Der Kleine strahlte, warf einen Blick auf die rote Narbe an seinem Knie und sagte: »Danke.«

Während die Sprechstundenhilfe dem Jungen vom Untersuchungstisch half, ging Jonas in sein Sprechzimmer und schloß die Tür hinter sich. Unruhig und beklommen setzte er sich an seinen Schreibtisch und starrte auf das Krankenblatt, das vor ihm lag. Er hatte beschlossen, Mary heute alles zu sagen.

Die Sprechanlage summte.

Jonas Wade saß über Timmys Krankenblatt gebeugt und schrieb, als Mary leise eintrat, die Tür hinter sich schloß und in einem der Stühle vor dem Schreibtisch Platz nahm. Er blickte kurz auf, um sie zu begrüßen. Die Hände im Schoß gefaltet, saß sie da und wartete geduldig.

Er schrieb weiter; er brauchte Zeit, um sich innerlich auf das Gespräch mit dem Mädchen vorzubereiten. Aber schließlich gab es nichts mehr zu schreiben, und er schlug den Hefter zu und steckte seinen Füller in die Brusttasche seines Kittels.

Mit einem gewinnenden Lächeln sah er Mary an. »Na, das ist aber eine nette Überraschung! Ich habe dich ja vier ewiglange Tage nicht gesehen.«

Sie lachte, und ihre blauen Augen blitzten. »Vielen Dank, daß Sie mir den Termin gegeben haben, Dr. Wade.«

»Wie bist du hergekommen? Ist deine Mutter mitgekommen?«

»Nein, sie hat mir ihr Auto geliehen.«

»Du hast den Führerschein?«

»Ja, seit einem halben Jahr. Meine Mutter gibt mir ihren Wagen ab und zu, wenn ich zum Einkaufen fahre oder in die Bibliothek und so. Und als ich heute sagte, ich müßte unbedingt zu Ihnen, hat sie sich erweichen lassen.«

»Und warum mußtest du denn nun unbedingt zu mir?«

Sie zögerte einen Moment. Ihr Gesicht verriet ihre Erregung. Dann sagte sie schnell und atemlos: »Dr. Wade, ich weiß jetzt, warum ich schwanger bin.«

»Was?« fragte er verblüfft.

»Ich weiß jetzt, warum, und ich weiß auch, wie es gesche-hen ist.«

Er rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Das klingt interessant, Mary. Willst du es mir erzählen?«

Sie schilderte kurz ihr Zusammentreffen mit Pater Crispin vor zwei Tagen und den nachfolgenden Besuch in der Kirche zum gemeinsamen Gebet. »Aber ich konnte nicht beten, Dr. Wade«, erklärte sie mit fliegenden Händen. »Ich hab in meinem Leben nie Mühe gehabt zu beten, aber da konnte ich einfach nicht. Ich habe die Worte runtergeleiert, aber sie hatten überhaupt keine Bedeutung. Sie waren völlig sinnlos, wie eine fremde Sprache.«

Sie rückte an die Stuhlkante. »Ich bekam Angst. Wirklich. Ich meine, das mußte doch was zu bedeuten haben. Wenn man plötzlich nicht mehr beten kann. Ich geriet völlig in Panik. Ich fing an zu zittern und hatte schreckliche Angst, Pater Crispin könnte was merken. Aber dann habe ich einfach aufgehört zu beten, Dr. Wade, und habe angefangen, mit Gott zu sprechen. Das hatte ich noch nie getan. Ich hab ihm einfach das Herz ausgeschüttet, und da ist es passiert.«

Jonas Wade beobachtete sie fasziniert. So lebhaft hatte er sie noch nie gesehen. »Was ist denn geschehen, Mary?«

»Ich erinnerte mich plötzlich an den Traum.«

Er horchte auf. »Du hattest einen Traum?«

»Ja, in der Nacht vor dem Ostersonntag. Der Traum war sehr merkwürdig, Dr. Wade, richtig bizarr. Ich hatte noch nie so was geträumt. Es war -« sie zuckte etwas verlegen die Achseln - »es war ein sexueller Traum. Vom heiligen Sebastian.« Mary sprach jetzt langsamer. »Im Traum kam der heilige Sebastian zu mir und liebte mich. Wie Mann und Frau sich lieben. Alles war so real, als wäre es wirklich geschehen.«

»Und an diesen Traum hast du dich in der Kirche erinnert?«

»Ja, während ich Gott bat, mir zu helfen. Ganz plötzlich war der Traum wieder da, als hätte Gott mir die Erinnerung gesandt.«

»Du glaubst, daß Gott deine Gebete erhörte und darum die Erinnerung an diesen Traum weckte?«

»Ja, aber es geht nicht nur um den Traum, Dr. Wade. Einen ganz normalen Traum, auch wenn er von Sex handelt, würde ich nicht für so bedeutungsvoll halten. Aber dieser Traum hatte was Besonderes. Es war etwas Körperliches, eine ganz starke Empfindung, wie ich sie noch nie vorher erlebt hatte. Und das war es, woran ich mich in der Kirche erinnerte, Dr. Wade.«

Er runzelte die Stirn. »Etwas Körperliches?«

»Ja. Es war ein ganz tolles Gefühl, und es war so stark, daß ich davon aufgewacht bin. Und gleich als ich wach war, wußte ich, daß irgendwas mit meinem Körper geschehen war. Ich -« Sie senkte die Stimme. »Ich hab mich angefaßt, und dabei hab ich gemerkt, daß was mit mir passiert war - unten.«

Er starrte sie einen Moment lang stumm an, dann sagte er: »Mary, weißt du nicht, was das war?«

»Doch. Es kam davon, daß der heilige Sebastian mich heimgesucht hatte.«

Jonas war völlig verdattert. »Davon, daß der heilige Sebastian dich heimgesucht hatte?«

»Aber ja. Ich hatte den Traum genau zur richtigen Zeit. In der zweiten Aprilwoche. Der Engel Gabriel hat doch auch die Mutter Maria heimgesucht. Da kann der heilige Sebastian bei mir das gleiche getan haben.«

Jonas Wade saß da wie vor den Kopf geschlagen. »Du lieber Gott«, sagte er leise.

»Sie haben mir selbst gesagt«, fuhr Mary fort, »daß die

Empfängnis irgendwann in den ersten zwei Aprilwochen stattgefunden hat, wahrscheinlich näher dem Ende der zweiten Woche.« Marys Gesicht war wie von innen erleuchtet, die blauen Augen blitzten lebendig.

Jonas war entsetzt. »Mary«, sagte er ernst, »glaubst du allen Ernstes, daß dieser Heilige zu dir gekommen ist, während du schliefst, und dich geschwängert hat?«

»Es war so, Dr. Wade. Gott hat es mir zu erkennen gegeben.«

»Mary«, sagte er wieder und beugte sich weit über den Schreibtisch, um das Mädchen eindringlich anzusehen. Er wünschte jetzt aus tiefstem Herzen, er hätte es nicht so lange hinausgeschoben, ihr von den Ergebnissen seiner Nachforschungen zu berichten. »Mary, das, was du am Ende des Traums gefühlt hast, war eine ganz normale physiologische Reaktion. Du hattest einen Orgasmus.«

Ihr Gesicht wurde brennend rot. »Frauen haben keinen Orgasmus.«

»Da täuschst du dich«, entgegnete er bestimmt. »Frauen können sehr wohl einen Orgasmus bekommen, und es ist nicht ungewöhnlich, daß man im Schlaf einen hat. Mary, du verwechselst eine normale körperliche Reaktion mit einem religiösen Erlebnis.«

Das Lächeln auf Marys Gesicht erlosch. Ihre Augen wurden plötzlich hart. »Dr. Wade, Gott hätte mir bestimmt nicht die Erinnerung an so was Schmutziges geschickt, wo ich ihn gerade um Hilfe anflehte. Ich weiß, was mein Traum zu bedeuten hatte. Was er wirklich war. Gott hat es mir gesagt.«

Jonas Wade starrte sie in hilfloser Verwirrung an. Diese unerwartete Wendung hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Er wußte nicht, wie er dieser Wahnvorstellung begegnen sollte. Er hätte ihr viel früher die Wahrheit sagen sollen, dann hätte er diese gefährliche Entwicklung abwenden können. Mary hatte verzweifelt nach einer Erklärung für ihren Zustand gesucht; da er ihr nichts geboten hatte, stürzte sie sich nun auf diesen Irrsinn.

»Mary, du behauptest, an dir sei ein Wunder geschehen. Du vergleichst dich mit der Mutter Gottes.«

»Weil es wahr ist. Wenn es ihr geschehen konnte, warum dann nicht auch mir?« Marys Stimme war so ruhig und selbstsicher, daß Jonas Wade angst wurde. »Ihr hat damals auch keiner geglaubt. Aber als das Kind da war, haben es alle geglaubt. Warum soll man es bei mir nicht glauben können?«

»Hast du mit irgend jemandem über deine Vermutung gesprochen, Mary? Mit Pater Crispin vielleicht?«

»Nein, mit keinem, nicht mal mit meinen Eltern. Ich wollte erst mit Ihnen darüber sprechen, weil ich dachte, Sie würden es verstehen. Sie konnten die Antwort nicht finden, Dr. Wade; da habe ich Gott um Hilfe gebeten, und er hat mir die Antwort gegeben.«

»Du selbst hast dir die Antwort gegeben, Mary. Ich weiß genau, warum du schwanger bist. Ich habe geforscht. Das, was bei dir vorliegt, ist äußerst selten, aber es kann vorkommen -«

»Dr. Wade.« Ihr Stimme war metallisch, ihre Augen waren kühl. »Pater Crispin hat mir gesagt, ich hätte eine Todsünde auf dem Gewissen. Er sagte, ich hätte Gotteslästerung begangen, weil ich so zur heiligen Kommunion gegangen bin. Aber jetzt weiß ich, daß er sich geirrt hat. Ich bin rein, Dr. Wade. Gott sandte den heiligen Sebastian zu mir, und er pflanzte das Kind in mich hinein. Ich habe nicht gesündigt. Für mich ist jetzt alles klar.«

»Mary, bitte hör mir zu.« Jonas war erschrocken und unsicher. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst, Mary könnte einfach davonlaufen. »Ich habe mich mit deinem Fall beschäftigt und einige erstaunliche Entdeckungen gemacht.« Er griff zur Aktentasche, die zu seinen Füßen stand.

»Ich brauche Sie jetzt nicht mehr, Dr. Wade.« Sie musterte ihn kühl, als sie aufstand. »Von jetzt an verlasse ich mich nur noch auf Sebastian.«

Ohnmächtig mußte Jonas Wade zusehen, wie sie davonging und die Tür hinter sich schloß. Danach saß er lange Zeit in seinem Sessel und tat gar nichts, bis er schließlich das Telefonbuch und die Nummer des Pfarrhauses von St. Sebastian heraussuchte.

»Mutter?« Mary öffnete die Tür und schaute in die Küche. Drinnen war es kühl und dunkel. Sie ging weiter ins Eßzimmer, sah zur sonnigen Terrasse hinaus und rief wieder: »Mutter? Ist keiner da?«

Aus dem Wohnzimmer hörte sie Geräusche. Der Fernsehapparat war eingeschaltet, aber es saß niemand davor. Mary ging hin und machte ihn aus. Sie lauschte in die Stille. Nichts rührte sich.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kam sie an Amys Tür vorbei und sah, daß sie nur angelehnt war. Sie blieb stehen und stieß die Tür ein Stück auf. »Hallo! Warum hast du dich nicht gerührt?«

Amy hockte auf ihrem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Sie gönnte ihrer Schwester keinen Blick, sondern starrte mit finsterer Miene auf die Zimmerwand gegenüber.

»Amy? Was ist denn?«

Amy zuckte die Achseln.

Mary trat ins Zimmer und setzte sich auf den weißen Stuhl vor dem Schreibtisch. »Ist was passiert, Amy?«

»Nein ...«

»Wo ist Mutter?«

Wieder zuckte Amy die Achseln.

»Ist sie noch mit Shirley Thomas unterwegs?«

»Wahrscheinlich.«

Mary betrachtete forschend das mißmutige Gesicht ihrer Schwester. »Wie war's im Kino?«

»Ganz gut.«

»Was habt ihr euch angeschaut?«

Amy spielte mit ihren Haaren. »Frankie Avalon und Annette Funicello.«

»Amy, jetzt sei mal ehrlich. Was ist los?«

»Nichts.«

»Komm schon, Amy.«

Endlich drehte sie den Kopf. Ihre dunklen Augen blitzten zornig. »Ach, Dad wollte mich heute nachmittag vom Kino abholen, und dann ist er überhaupt nicht erschienen. Ich stand mir fast die Beine in den Bauch, und er kam nicht. Am Ende hab ich bei ihm im Büro angerufen, aber da konnten sie mich nicht verbinden, weil er gerade am Telefon war. Mit deinem Dr. Wade. Und als ich dann Mama anrufen wollte, hat sich gleich überhaupt keiner gemeldet. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als den Bus zu nehmen, und dann bin ich bei dieser Affenhitze den ganzen Weg von der Haltestelle bis hierher zu Fuß gelatscht.«

»Du Arme.«

»Ja. Überhaupt paßt mir hier einiges nicht mehr«, fuhr Amy erbost fort. »Hier stimmt's doch hinten und vorne nicht. Das hab ich schon gemerkt, als du noch in Vermont warst. Mama und Dad waren immer so komisch, und nachts hab ich Mama weinen hören. Ich finde das furchtbar.«

»Ach, Amy ...«

Amys Lippen zitterten. »Und als ich ihnen erzählt hab, daß ich in Schwester Agathas Orden eintreten will, hat sie das überhaupt nicht interessiert. Dann bist du wieder heimgekommen, und jetzt ist alles ganz scheußlich hier.«

»Amy -«

Amy sprang vom Bett. »Ich existiere überhaupt nicht mehr für sie. Sie haben mich total vergessen.«

»Das ist nicht wahr!«

»Eben doch!« Amy hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Alles dreht sich nur um dich. Es ist ja auch viel wichtiger, daß du ein Kind bekommst, als daß ich Nonne werden will. Du und dein Kind, das ist das einzige, was Mama und Dad interessiert. Und du bist genauso.«

»Amy!«

Amy drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Mary sprang auf und lief ihr nach. Sie faßte Amy beim Arm.

»Bitte, lauf nicht vor mir weg.«

Amy fuhr herum und riß sich los. »Ich hab extra auf den richtigen Moment gewartet«, rief sie schluchzend, »um es ihnen zu sagen. Und weißt du, was sie gesagt haben? Darüber reden wir später. Das war alles.«

»Amy, das tut mir leid -«

»Ja, dir tut's leid. Hier dreht sich doch alles nur um dich, und dabei hast du gar nichts getan, um das zu verdienen.«

Mary wich einen Schritt zurück.

»Ich weiß schon, was du getan hast!« rief Amy. »Alle wissen es. Alle reden darüber. Und ich find nicht, daß es so toll ist, daß sie dich deswegen wie eine Prinzessin behandeln müssen. Mir graust schon davor, wenn das Baby auf der Welt ist und sich alle nur noch um dein und Mikes Kind kümmern.«

Mary senkte den Kopf. »Es tut mir leid, Amy«, sagte sie. »Wirklich, es tut mir leid, daß es so schlimm für dich ist. Aber es wird wieder besser, das verspreche ich dir. Ich hab nicht getan, was du glaubst und was die anderen sagen. Das Kind ist nicht von Mike. Mir ist etwas sehr Schönes und Wunderbares geschehen, und bald wirst du es auch verstehen, Amy, und dich mit mir freuen.«

Sie hörte, wie krachend die Haustür zufiel, und hob den Kopf. Sie stand allein im dunklen Flur.

»Ja, Mrs. Wyatt, wenn Sie uns für die Spendenaktion ihren Kombi zur Verfügung stellen würden, wären wir sehr dankbar. - Ja, ich gebe Ihnen dann Bescheid. - In Ordnung, Mrs. Wyatt, und nochmals herzlichen Dank. Auf Wiederhören.«

Pater Crispin verkniff es sich, den Hörer aufzuknallen, obwohl er große Lust dazu hatte. Statt dessen legte er ihn betont sachte auf, starrte aber dabei den Apparat so zornig an, als wäre der an seiner Mißstimmung schuld. Mit einer unwirschen Bewegung fegte er das Schreiben des Bischofs zur Seite, in dem dieser die Geistlichen seiner Diözese nachdrücklich darauf hinwies, daß die Politik auf der Kanzel nichts zu suchen hatte.

Politik! Nichts hätte Pater Crispin weniger kümmern können. Dieses Schreiben galt in erster Linie radikalen jungen Priestern, die statt des Evangeliums die Rassenintegration predigten. Der Bischof war ungehalten; im vergangenen Monat hatten sich mehrere Priester seiner Diözese an Studentendemonstrationen gegen die Rassentrennung beteiligt.

Zeitungen und Fernsehen hatten Aufnahmen von Priestern mit Transparenten gebracht.

Nein, diese Ermahnungen brauchte Pater Crispin nicht. Er achtete bei der Abfassung seiner Predigten auf Neutralität und vermied jede Kontroverse. Seine Sorgen waren von ganz anderer Art; sie waren bedrückender und weit persönlicher als die Diskussion darüber, ob man Schwarzen erlauben sollte, mit Weißen in einem Bus zu fahren.

In der Rückschau erkannte er, daß dieses Gefühl der Untauglichkeit schon lange in ihm rumorte, aber erst in jüngster Zeit war es ihm schmerzhaft bewußt geworden. Die kleine McFarland hatte es bloßgelegt; sie hatte die schützenden Schichten abgerissen, unter denen er seine Ängste verborgen gehalten hatte, und hatte die nackte Wahrheit aufgedeckt: daß Pater Lionel Crispin in der Tat ein untauglicher Seelsorger war, den niemand brauchte.

Zumindest quälte ihn dieses Gefühl seit jenem Tag, an dem er hatte einsehen müssen, daß er auf Marys katholisches Gewissen nicht den geringsten Einfluß besaß. Gestern dann hatte er, zornig und verärgert darüber, daß sie kein Geständnis abgelegt hatte, die Familie Holland aufgesucht und ein langes, ernstes Gespräch mit Nathan Holland geführt. Er hatte sich nach Kräften bemüht, Mike zu einem Geständnis seiner intimen Beziehungen zu Mary zu bewegen, damit diese sich endlich nicht mehr verpflichtet zu fühlen brauchte, ihn zu decken, und zur Beichte gehen konnte. Aber alle seine Bemühungen hatten nichts gefruchtet. Genau wie Mary hatte Mike immer wieder nur seine Unschuld beteuert.

Niedergeschlagen und mit einem Gefühl schrecklicher Unzulänglichkeit war Pater Crispin wieder gegangen. Im Lauf der darauffolgenden schlaflosen Nacht war ihm klargeworden, daß der >Fall< McFarland nur ein Symptom der ganzen elenden Misere war. Wenn er nicht fähig war, soweit auf zwei blutjunge Menschen seiner Gemeinde einzuwirken, daß sie eine einzige Sünde beichteten, wie war es dann um seine seelsorgerische Wirksamkeit auf die Gemeinde insgesamt bestellt?

Sein Groll auf sich und die Welt vertiefte sich noch, als er jetzt an den bevorstehenden Besuch dieses Arztes, Dr. Wade, dachte. Irgendwie, davon war Pater Crispin überzeugt, steckte dieser Mensch hinter Marys Weigerung zu beichten; möglicherweise unterstützte er sie sogar noch in ihrer Starrköpfigkeit.

Als es klopfte, blaffte er zornig »Herein« und stand hinter seinem Schreibtisch auf.

Jonas Wade blieb einen Moment auf der Schwelle stehen und wartete, bis seine Augen sich auf die Düsternis des Raums eingestellt hatten. Guter Gott, dachte er halb belustigt, halb entsetzt beim Anblick der flackernden Kerzen, der Heiligenbilder an den Wänden, der holzgeschnitzten Madonnen, das ist ja hier wie in einer mittelalterlichen Klause. Ist es möglich, daß jemand ernsthaft an dieses ganze Brimborium glaubt?

»Guten Tag, Dr. Wade. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Jonas ließ sich auf dem unbequemen, steifen Lehnstuhl nieder und stellte die Aktentasche auf den Boden zwischen seine Füße.

»Ich nehme an, Dr. Wade, Sie sind hergekommen, um mit mir über Mary McFarland zu sprechen.«

»Wir stehen vor einem ernsten Problem, Pater Crispin. Ich bin hergekommen, um Sie um Hilfe zu bitten.«

Mit geschultem Blick musterte Jonas Wade den Mann, der ihm gegenübersaß. Ein eigensinniges Gesicht, scharfe kleine

Augen, die Haltung starr und abwehrend. Er ahnte, daß dieses Gespräch nicht einfach werden würde.

In aller Kürze berichtete er von Marys Besuch in seiner Praxis und ihrer wahnhaften Überzeugung, ihr Kind von einem Heiligen empfangen zu haben. Als er fertig war, schwieg er und wartete gespannt auf die Reaktion des Geistlichen.

Pater Crispin brauchte einen Moment, um das zu verdauen, was Jonas Wade ihm berichtet hatte, und als es ihm in seiner ganzen Tragweite klar wurde, packte ihn neuer Schrecken. Er war offenbar noch untauglicher, als er angenommen hatte!

»Das ist ja furchtbar, Dr. Wade. Ich werde selbstverständlich mit dem Mädchen sprechen.«

»Ich denke, wir sollten zusammenarbeiten, Pater.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe den Grund für die Schwangerschaft entdeckt, aber sie ist nicht bereit, mir zuzuhören. Ich hoffe nun, wenn Sie die Wahrheit von Ihnen erfährt -«

»Es tut mir leid, Dr. Wade, aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

Jonas hob seine Aktentasche auf die Knie. »Ich habe in den letzten Monaten umfangreiche Recherchen angestellt, Pater, und ich habe jetzt die Erklärung für Marys Schwangerschaft.« Er öffnete die Tasche und entnahm ihr ein Bündel Papiere, das mit einer großen Büroklammer zusammengehalten war.

Als er es vor Pater Crispin auf den Schreibtisch legte, schien dieser vor ihm zurückzuweichen. »Was soll das alles?«

»Ich spreche von Parthenogenese, Pater. Jungfernzeugung.«

»Was sagen Sie da?« Jetzt fuhr der Priester wirklich zurück. Und er war wütend. »Eben sagten Sie noch, wir müßten dem Mädchen diesen Wahn ausreden, und jetzt kommen Sie mir mit der gleichen Behauptung.«

»Nein, Pater, da besteht ein entscheidender Unterschied. Mary glaubt an ein Wunder. Ich spreche von wissenschaftlichen Tatsachen. Selbstverständlich glaube ich nicht, daß Mary im Schlaf vom heiligen Sebastian heimgesucht wurde. Ich glaube jedoch, daß das Kind, mit dem sie schwanger ist, jungfräulich gezeugt ist. Auf diesem Blatt hier finden Sie eine Zusammenstellung meiner Befunde und -«

»Dr. Wade!« Pater Crispin beugte sich vor und fixierte Jonas mit hartem Blick. »Mary Ann McFarland hat mit einem jungen Mann Geschlechtsverkehr gehabt. Davon ist sie schwanger geworden.«

»Gewiß«, entgegnete Jonas begütigend, »so scheint es auf den ersten Blick. Aber wenn Sie gelesen haben, was ich -«

»Es fällt mir nicht ein, das zu lesen, Dr. Wade.« Jonas schaute verdutzt.

»Sie verlangen von mir, daß ich Marys Wahn, eine Heilige zu sein, ernst nehme. Sie verlangen von mir, daß ich sie in ihrer anmaßenden Behauptung, eine zweite Jungfrau Maria zu sein, unterstütze. Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Pater Crispin, was ich hier niedergeschrieben habe, hat mit Religion und Theologie nichts zu tun. Es ist eine rein wissenschaftliche Erklärung dafür, wie es dazu kam, daß in Marys Körper eine Eizelle sich zu teilen und zum Fötus zu entwickeln begann, ohne daß geschlechtliche Beziehungen stattgefunden hatten.«

»Sie behaupten also, daß sie unberührt ist?«

»Ja.«

»Dr. Wade.« Pater Crispin richtete sich kerzengerade auf und sah von oben auf seinen Besucher hinunter. »Sie machen mir mit dieser Geschichte meine Aufgabe noch schwerer.«

»Ganz im Gegenteil, Pater. Wenn Sie nur lesen würden, was

ich -«

»Und wie ist es zur Teilung der Eizelle gekommen?«

»Meiner Meinung nach war die Ursache ein Stromschlag.«

»Aha.« Pater Crispin stand auf und ging zum Fenster. Jonas Wade den Rücken zugewandt, sagte er: »Dann ist also das Kind, das Mary Ann McFarland unter dem Herzen trägt, das Produkt einer physiologischen Absonderlichkeit?«

»Ja, so kann man sagen.«

»Und kann man dann auch sagen«, fuhr Pater Crispin fort und drehte sich um, »daß der Mutter des Herrn das gleiche Schicksal widerfuhr; daß Jesus Christus ein biologischer Zufallstreffer war?«

Jonas war sprachlos.

»Dr. Wade, wenn das, was Sie behaupten, wahr ist, wenn ein unberührtes Mädchen infolge eines körperlichen Schocks schwanger werden kann, was sagt das dann über die Heilige Jungfrau aus?« Pater Crispin seufzte tief und stützte sich mit beiden Händen auf die Rückenlehne seines Sessels. »Wofür halten Sie mich, Dr. Wade?« fragte er müde.

Jetzt war Jonas zornig, aber er beherrschte sich. »Pater Crispin, ich bin nicht hierhergekommen, um mit Ihnen theologische Debatten zu führen; ich wollte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir hier vor einem sehr ernsten Problem stehen. Ob Sie mir nun glauben wollen oder nicht, mir obliegt es, für Marys gesundheitliches Wohl Sorge zu tragen, und da ich weiß, wie dieses Kind gezeugt wurde, sind mir auch die damit verbundenen Gefahren bekannt. Das ist der Grund, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin; um Ihnen zur Kenntnis zu bringen, daß wir es möglicherweise mit einer äußerst kritischen Situation zu tun haben.«

»Und die wäre?«

»Es ist gut möglich, daß dieses Kind deformiert ist; daß es eine Mißgeburt wird. Es ist ferner durchaus denkbar, daß die Geburt für Mary lebensbedrohend werden wird. Ich kann im Moment noch nichts mit Gewißheit sagen; ich muß warten, bis wir röntgen können, und selbst dann läßt sich nichts mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Pater, der Fötus, den Mary in sich trägt, ist kein normaler Fötus, und diese Tatsache stellt uns vor sehr ernste Probleme. Das war es, was ich Ihnen mitteilen wollte.«

Pater Crispin musterte den Arzt mit scharfem Blick, aber er sagte nichts.

»Sie werden vielleicht aufgefordert sein, eine Entscheidung auf Leben und Tod zu treffen, Pater«, fügte Jonas hinzu. »Darauf wollte ich Sie vorbereiten.«

»Ich kann als Priester Ihre Theorie von einer jungfräulichen Empfängnis nicht akzeptieren«, entgegnete Pater Crispin. »Ihnen muß doch klar sein, daß eine solche Theorie die Fundamente des katholischen Glaubens unterhöhlen würde.«

»Ich bin kein Katholik, Pater Crispin. Ich gehöre keinem Glaubensbekenntnis an. Meine Eltern waren Atheisten, und ich bin ebenfalls einer. Ich glaube an das, was ich hier vor mir habe -« er tippte mit dem Finger auf seine Unterlagen -, »den wissenschaftlichen Beweis für meine Theorie. Es liegt mir fern, Ihre Religion anzugreifen, Pater. Ich bin einzig aus Sorge um Mary hergekommen.«

Die dunklen Augen, die wie schwarzes Glas blitzten, schweiften flüchtig zu dem dünnen Bündel Papiere, dann hefteten sie sich wieder auf Jonas Wades Gesicht. Pater Crispins Stimme war so hart wie sein Blick.

»Ich bin nur in einem Punkt bereit, auf Sie zu hören, Dr. Wade: im Hinblick auf die mögliche Deformierung des Kindes. Aber ich bin nicht bereit, mir Ihre absurden Behauptungen hinsichtlich der Ursachen einer solchen Deformierung anzuhören. Sie sind der behandelnde Arzt des Mädchens, und wenn Sie mich auf mögliche Gefahren dieser Schwangerschaft aufmerksam machen, muß ich auf Ihren fachmännischen Rat hören. Wie sicher sind Sie, daß das Kind deformiert ist?«

»Ich bin überhaupt nicht sicher. Es ist nur eine Möglichkeit. Mary McFarland braucht ständige ärztliche Beobachtung; ich muß die Entwicklung der Schwangerschaft genau überwachen. Aber sie will jetzt von ärztlicher Behandlung nichts mehr wissen. Sie bildet sich ein, der heilige Sebastian werde für sie und ihr Kind sorgen und sie brauche mich nicht mehr. Wenn ich sie davon überzeugen will, daß sie sich da irrt, brauche ich Ihre Hilfe, Pater.«

Pater Crispin schüttelte den Kopf. Unglaublich, dieser Mann verlangte von ihm, einem Geistlichen, einem seiner Gemeindemitglieder zu raten, sich nicht auf den Schutz eines Heiligen zu verlassen.

»Ich kann Ihrer Bitte nicht nachkommen, Dr. Wade.«

»Aber Sie müssen doch einsehen, daß Mary in ihrem Zustand einen Arzt braucht!«

Das war ja das Dilemma: daß Pater Crispin das sehr wohl einsah.

»Ich kann Ihren Standpunkt nicht mit dem der Kirche vereinbaren, Dr. Wade. Wir glauben an die Hilfe und den Rat unserer Heiligen.«

»Beraten Sie etwa so Ihre Gemeindemitglieder?« fragte Jonas aufgebracht. »Daß sie Ärzte meiden und sich lieber an die Heiligen halten sollen?«

»Aber Dr. Wade, ich muß doch sehr bitten -«

»Mary Ann McFarland braucht ärztliche Betreuung!« Jonas

sprang auf. »Sie ist möglicherweise in Lebensgefahr.«

»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, Dr. Wade. Bitte!« Pater Crispin hob beschwichtigend die Hände. »Selbstverständlich bin ich der Meinung, daß das junge Mädchen Ihre ärztliche Betreuung braucht. Aber ich werde ihr nicht sagen, sie solle sich von ihrem Glauben an den heiligen Sebastian abkehren. Eines jedoch werde ich ganz gewiß tun, als ihr Seelsorger muß ich es sogar tun: Ich werde ihr raten, von dieser Vorstellung, ihr Kind vom heiligen Sebastian empfangen zu haben, abzulassen. Es muß doch möglich sein, zu einem wohlwollenden Kompromiß zu gelangen, Dr. Wade.«

Jonas entspannte sich. »Verzeihen Sie meine Heftigkeit, Pater, aber ich mache mir Sorgen um Mary. Ich weiß, daß Sie einen großen Einfluß auf sie haben. Ich bitte Sie, ihr zu sagen, daß sie weiterhin zu mir in Behandlung kommen soll. Der Rest bleibt Ihnen überlassen.«

Pater Crispin versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse. Er sollte auf dieses Mädchen Einfluß haben? Wenn Sie wüßten, wie sehr Sie sich da täuschen, Dr. Wade.

»Ich werde sofort mit ihr sprechen, Dr. Wade. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich über die Entwicklung auf dem laufenden halten würden.«

»Das tue ich gern, Pater.« Jonas packte seine Unterlagen wieder ein, schloß die Aktentasche und hielt dem Priester die Hand hin.

Pater Crispin nahm die Hand des Arztes mit festem Druck. »Wir müssen unser Vertrauen in Gott setzen.«

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