1

Mary öffnete ihren Bademantel und ließ ihn zu Boden fallen. Die kühle Nachtluft strich über ihren nackten Körper, und sie lächelte, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Sebastian stand vor ihr. Das Mondlicht lag blaß auf den Konturen seines muskulösen Körpers. Auch er war nackt bis auf das Tuch, das um seine Hüften geschlungen und seitlich zum Knoten geknüpft war. Mary hätte gern hinuntergesehen, um festzustellen, wie der Knoten geöffnet werden konnte, aber sie wollte den Blick nicht senken. Sie war im Bann von Sebastians Augen, dessen Blick sie so fest umschloß wie eine Umarmung.

Obwohl die Luft kühl war, fror sie nicht. Eine wohlige Wärme durchflutete sie. Und auch Sebastian, dessen Sehnen unter der schweißfeucht glänzenden Haut angespannt waren, schien die Kühle der Nacht nichts auszumachen. Mit einer ruhigen, beinahe trägen Bewegung griff er zu dem Tuch, das um seine Hüften lag, und zog mit einem anmutigen Schwung den Knoten auf. Mary hielt den Blick weiter auf sein Gesicht gerichtet, voll Angst vor dem, was das Tuch enthüllt hatte, und doch auch voller Begierde.

Als er plötzlich einen Schritt auf sie zukam, stockte ihr einen Moment der Atem, und sie hob wie im Reflex die Hand zur Brust. Sein schönes Gesicht war schmal und streng; das lange, wellige Haar hob sich im leichten Luftzug von seinen Schultern, und als er an sie herantrat, sah sie die Narben, die seinen vollkommenen Körper entstellten; weiße Schwellungen, wo sein Fleisch durchbohrt worden war.

Er war so schön, daß sie es als schmerzlich empfand. Tiefe, grüblerische Augen, eine lange, gerade Nase, ein kantiges Kinn über einem kräftigen, sehnigen Hals. Dunkelhäutig und geschmeidig, kraftvolle Arme, schöngebildet die haarlose Brust.

Als er dicht vor ihr stand und sein Blick sie durchdrang, als könnte er sie im Innersten berühren, spürte Mary, wie sich in ihrem Bauch etwas rührte; tief im Becken ein Aufwallen, das sie zuerst erschreckte, dann überwältigte. Allein seine Nähe und sein tiefer Blick hatten das ausgelöst. Was würden dann erst seine Berührung oder sein Kuß bewirken?

Mit einem tiefen Seufzer griff sie nach seiner Hand, führte sie an ihren Mund und drückte ihre Lippen auf die überraschend harte und schwielige Handfläche. Dann zog sie Sebastians Hand zu ihrer linken Brust hinunter.

Immer noch ruhte sein verzehrender Blick auf ihr, und als er den Kopf neigte und mit seinen Lippen die ihren berührte, seine Zunge der ihren entgegenschob, zog es ihr die Kehle zusammen, und sie konnte einen Moment lang nicht atmen. Seine andere Hand glitt langsam abwärts, strich wie ein Hauch über die heiße Haut, und als sie ihren Ort fand und dort verweilte, hätte Mary am liebsten laut aufgeschrien. Die Finger streichelten und liebkosten, während Mary stocksteif dastand, wie erstarrt. Wonne mischte sich in ihre Verwirrung.

Dann begegneten sich ihre Körper und drängten sich aneinander. Seine Haut war warm und feucht. Sein Atem kam in Stößen wie der ihre. Sie rangen beide um Luft wie Ertrinkende. Mary suchte das Stöhnen, das in ihrer Kehle aufstieg, zu unterdrücken. Die Berührung von Sebastians Händen wurde heftiger, gröber.

Sein drängender, angespannter Körper erregte sie. Sie spürte, wie er seine Hand wegzog und etwas anderes ihren Platz einnahm, eine unsichtbare Waffe, die ihr Angst machte und zugleich lockte.

Mary öffnete die Augen und sah sich in heller Panik im Zimmer um. Doch ihre Angst, die aus der Unwissenheit über das, was ihr hier geschah, geboren war, wich einem wilden Verlangen, wie sie es nie gekannt hatte und das alle ihre Instinkte, sich zu verteidigen und zu schützen, besiegte.

Sebastian schloß seine Arme um sie und legte sie sachte auf dem Bett nieder. Sein Körper bedeckte sie. Er lag schwer auf ihr, so daß sie Mühe hatte zu atmen. Sein heißer Mund schien sie verzehren zu wollen, glitt von ihren Lippen abwärts, über ihren Hals zu ihrer Brust, sog sich so heftig an ihr fest, daß Mary leise aufschrie.

Er drückte ihr die Beine auseinander. Sie riß weit Augen und Mund auf. Sie öffnete sich Sebastian, die Arme ausgebreitet wie am Kreuz; ein williges Opfer.

Ein süßer, wonniger Schmerz durchfuhr sie plötzlich. Und dann spürte sie noch etwas anderes; ein Fluten, das seinen Stößen folgte wie das Kielwasser einem Boot. Ihr ganzer Körper schien dahinzuschmelzen in einer Flamme, die von ihren Füßen aufwärts stieg, ihre Beine hinauf, immer größer und gewaltiger wurde, zu einem lodernden Feuer wuchs, das über ihr zusammenschlug, so daß sie einen Moment lang nichts mehr hören und sehen konnte. Dann fiel es in sich zusammen und leckte in kleinen Flämmchen seliger Erschöpfung und Befriedigung über sie hin.

Mary riß die Augen auf.

Keuchend sah sie zur Zimmerdecke hinauf. Sie hielt den Atem an und lauschte in die Stille des Hauses. Alles schlief.

Ein Glück, dachte sie, daß sie im Schlaf nicht laut geschrien hatte.

Während sie in die Dunkelheit starrte, dachte sie über den Traum nach. Wieso hatte sie ausgerechnet von Sebastian geträumt? Ein merkwürdiger Traum war das gewesen. Wie Sebastian in sie eingedrungen war, wie sich das angefühlt hatte, so echt. Sie verstand es nicht. In Wirklichkeit nämlich hatte sie Mike noch nicht einmal erlaubt, sie dort zu berühren. Woher hatte sie wissen können, wie es sich anfühlte? Während sie reglos dalag, wurde ihr bewußt, daß ihr Körper eine Veränderung durchgemacht hatte. Was war anders?

Ihr Herz schlug wie rasend, sie schwitzte trotz der Kühle der Nacht, in den Beinen hatte sie ein komisches Gefühl, wie nach langem, anstrengendem Lauf, aber das waren nicht die Dinge, die sie jetzt verwunderten.

Es war etwas zwischen ihren Beinen, ihren Schenkeln; es war etwas in jenem Gebiet, das der streng katholischen Mary unbekannt und verboten war. Irgend etwas hatte sich dort auf geheimnisvolle Weise verändert. Irgend etwas war dort geschehen.

Vorsichtig und ängstlich schob Mary die Hand über die kantige Erhebung ihrer rechten Hüfte und tauchte ihre Finger hastig in das Dreieck zwischen ihren Schenkeln. In aller Eile erkundete sie mit den Fingerspitzen die verbotene Zone und zog die Hand mit einem Ruck wieder weg.

Sie berührte den Zeigefinger mit dem Daumen. Eine unerklärliche schleimige Klebrigkeit haftete dort.

Mary zog die Hand hoch und legte sie auf ihre Bettdecke. Sie schloß die Augen und beschwor noch einmal Sebastian herauf, aber sie konnte die erregenden Gefühle, die er entzündet hatte, nicht wieder lebendig machen. Sie war ausgeleert, es interessierte sie nicht mehr, und während sie nochmals über die erstaunliche Tatsache nachdachte, daß sie von Sebastian geträumt hatte und nicht von Mike, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Mary stand im Morgensonnenschein und bürstete sich kräftig das Haar, unzufrieden, daß die Dauerwelle noch immer nicht herausgewachsen war. Sie hatte sich vor einiger Zeit entschieden, ihr Haar, das sie bisher kurz getragen hatte, wachsen zu lassen. Bis zum Sommer, der noch zwei Monate entfernt war, sollte es ihr lang und glatt den Rücken hinunterfließen, und die starke Sonne würde es, so hoffte Mary, zu einem hellen Honigblond ausbleichen.

Marys Mutter, in jeder Hinsicht eine konservative Frau, war mit der Idee ihrer Tochter, mit lang flatterndem Haar durch die Gegend zu laufen, nicht einverstanden. Sie selbst trug ihr rotes Haar ebenfalls kurz und setzte, wenn sie ausging, meist einen Hut auf, derzeit der Mode entsprechend eine Pillbox, die sie sich im Stil Jackie Kennedys auf den Hinterkopf zu drücken pflegte. Mary hatte ein ähnliches Hütchen, und auch das Kostüm, das sie zu Ostern bekommen hatte, glich dem ihrer Mutter: hüftlange Jacke und leicht ausgestellter Rock, der bis zu den Knien reichte. Alle Körperrundungen waren auf diese Weise erfolgreich verdeckt, und man glich der immer wie aus dem Ei gepellt wirkenden First Lady.

Von den Haarproblemen wanderten Marys Gedanken zu dem bestürzenden Traum der vergangenen Nacht, genauer gesagt, zu der körperlichen Entladung, mit der er sein Ende gefunden hatte. Während sie sich zum Spiegel neigte, um einen blühenden Pickel am Kinn zu inspizieren, dachte sie voller Unbehagen daran, daß sie gleich zur heiligen Kommunion gehen würde. Durfte sie das nach diesem unzüchtigen Traum überhaupt noch? Bei der Beichte war sie schon am vergangenen Abend gewesen. Und nun hatte sie schon wieder gesündigt. Oder konnte der Traum vielleicht nicht als unzüchtiger Gedanke betrachtet werden, da sie ja keine Kontrolle über ihn gehabt hatte?

Mary war so vertieft in diese Überlegungen und die Inspektion des Pickels, daß sie das Erscheinen ihrer Mutter in ihrem Zimmer nicht bemerkte.

»Mary Ann, wir kommen zu spät zur Messe, wenn du noch länger vor dem Spiegel stehst!«

»Was?« Sie sah auf. »Ich hab einen Riesenpickel.«

Lucille McFarland verdrehte nur die Augen, hob abwehrend die Hände und ging aus dem Zimmer. Mary packte Hut, Handtasche und Handschuhe, schlüpfte in ihre hochhackigen Schuhe mit dem Pfennigabsatz und rannte ihrer Mutter hinterher.

Ted McFarland und die zwölfjährige Amy saßen schon im Wagen, als Mary und ihre Mutter aus dem Haus kamen.

»Mary würde lieber eine Todsünde auf sich nehmen, als mit einem Pickel zur Kirche gehen«, sagte Lucille, als sie in den großen Lincoln stiegen.

»Ach, Mutter!«

Ted McFarland, der den Wagen die steile Auffahrt hinunterlenkte, lächelte und zwinkerte seiner ältesten Tochter im Rückspiegel zu. Mary lachte.

In der Kirche, die mit Lilienbuketts und flackernden Kerzen geschmückt war, empfing sie ernste Stille, als sie eintraten. Im gebrochenen Licht der Sonne, das durch die bunten Fenster strömte, tauchten sie die Finger ins Weihwasser, knicksten mit dem Blick auf das große Kruzifix am anderen Ende der Kirche und begaben sich an ihre Plätze, wo sie niederknieten.

Während der Rosenkranz aus Perlmutt durch ihre Finger lief, bemühte Mary Ann McFarland sich nach Kräften um stille Andächtigkeit, aber sie fand sie nicht. Verstohlen hob sie den Blick und musterte die Leute in den Bänken. Mike war noch nicht gekommen.

Sie ließ ihre Augen wandern, bis sie schließlich zu Sebastian gelangten, drüben auf der anderen Seite des Schiffs, gleich bei der ersten Kreuzwegstation. Unfähig, den Blick von ihm zu wenden, starrte sie ihn an, von neuem gefesselt von diesem kraftvollen Körper, der sie in ihrem Traum so erregt hatte.

Das Gemälde des Heiligen, eine Kopie von Mantegnas »Sebastian«, das im Louvre hing, berührte einen beinahe peinlich in seiner Lebensechtheit. Das Blut war zu realistisch, die von Pfeilen durchbohrten Muskelschwellungen, der Schweiß auf der Stirn, die Qual in dem aufwärts gerichteten Gesicht - das alles war mit fotografischer Genauigkeit festgehalten. Mary hatte während manch langweiliger Predigt dieses Gemälde betrachtet, aber niemals war ihr bei ihren regelmäßigen Besuchen der katholischen Sebastianskirche auch nur der Hauch eines unzüchtigen Gedankens in Zusammenhang mit dem Heiligen gekommen. Jetzt aber, eben wegen ihres bestürzenden Traums, konnte Mary die Erotik des Gemäldes nicht mehr übersehen. Von den sehnigen Schenkeln ging etwas aus, das ihr nie zuvor aufgefallen war; das um die Lenden geschlungene Tuch schien ihr etwas Herausforderndes zu haben, genauso wie der im Schmerz gewundene Leib.

Sie erinnerte sich der heißen Gefühle, die sie im Traum überflutet hatten, an den herrlichen Moment der Ekstase, und fragte sich, ob so etwas ihr je wieder geschehen würde. Und sie dachte daran, daß sie nun vielleicht nicht mehr würdig war, die heilige Kommunion zu empfangen.

Als Pater Crispin und die Ministranten aus der Sakristei kamen, stand die Gemeinde auf. Mary faltete die Hände um ihren Rosenkranz und bat Gott, ihr den Traum zu vergeben und sie zu reinigen, damit sie reinen Gewissens zur heiligen Kommunion gehen könne.

Der würzige Duft des Dillhühnchens mischte sich mit dem scharfen Aroma des Chilisouffles. Lucille McFarland besuchte mit ihrer Freundin Shirley Thomas jeden Samstagmorgen einen Kurs für feine Kochkunst am Pierce College und ließ sonntags ihre Lieben in den Genuß ihrer neuerworbenen Künste kommen. Auch der Ostersonntag bildete da keine Ausnahme. Lucille und ihre beiden Töchter hatten den ganzen Nachmittag an die Vorbereitungen des Festmahls verwendet. Amy hatte Käse gerieben, bis ihr die Finger weh taten; Mary hatte Eier getrennt, die Auflaufform eingefettet und frischen Dill gehackt. Nun standen Schüsseln auf dem Tisch, jedes Gericht eine Überraschung, und die Familie setzte sich zum Essen.

»Igitt!« Amy, die Zwölfjährige, schnitt ein Gesicht. »Ich hasse Hühnchen total!«

»Halt den Mund und iß!« sagte Ted. »Davon wirst du groß und stark.«

Amy baumelte so heftig mit den Beinen, daß ihr ganzer Körper wippte. »Stellt euch mal vor! Schwester Agatha ist Vegetarierin. Sie kauft ihr ganzes Essen in einem Naturkostladen.«

Ted lächelte. »Da braucht sie sich wenigstens nie Gedanken zu machen, was sie freitags kochen soll. Komm, iß jetzt.«

Amy stocherte auf ihrem Teller herum, piekte ein Stück Chili auf und schob es in den Mund. »He, Mary«, sagte sie, »kennst du schon den neuesten Aufziehpuppen-Witz?«

Mary seufzte. »Nein, was für einen?«

»Es gibt eine neue Präsident-Kennedy-Puppe. Wenn man die aufzieht, rennt der Bruder fünfzig Meilen.« Amy warf den Kopf zurück und lachte. Doch von ihrem Vater erntete sie nur ein mißbilligendes Lächeln und von ihrer Mutter einen tadelnden Blick. Mary, die mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war, reagierte überhaupt nicht.

»Oder den von der neuen Helen-Keller-Puppe?« fuhr Amy unerschüttert fort.

»Jetzt reicht es«, fuhr Lucille ihr in die Parade. »Ich weiß nicht, woher du deine Witze hast, aber ich finde sie reichlich geschmacklos.«

»Ach, Mama, in der Schule erzählen alle solche Witze.« Kopfschüttelnd murmelte Lucille etwas von öffentlichen Schulen und griff nach dem Souffle.

»Man zieht sie auf, und sie rennt gegen die Wand.«

»Jetzt reicht's aber wirklich!« Lucille schlug mit der Hand auf den Tisch. »Erst der Präsident und dann eine bedauernswerte Blinde. Das ist -«

»Lucille«, sagte Ted ruhig. »Zwölfjährige haben einfach einen anderen Humor. Das hat mit der Schule nichts zu tun.«

»He, Mary!« Amy warf ihre Gabel auf den Teller. »Wieso bist du eigentlich so still? Mike hat dich wohl heute nicht angerufen, hm?«

Mary richtete sich auf und sah ihre Schwester an. »Das hab ich gar nicht erwartet. Er hat mir erzählt, daß sie heute Besuch von Verwandten haben. Außerdem muß ich noch eine Arbeit fertig machen.«

Ted tupfte mit einem Stück Brot die Soße auf seinem Teller auf. »Ist das die, die du auf französisch schreiben mußt? Brauchst du Hilfe?«

»Nein, danke, Dad.«

»Ich nehme Spanisch«, verkündete Amy. »Schwester Agatha hat gesagt, man sollte eine Sprache lernen, die man gebrauchen kann. In Los Angeles sollte jeder spanisch sprechen.«

»Ich weiß«, sagte Mary. »Ich hab mir überlegt, ob ich nicht Suaheli lernen soll.«

»Wozu denn das?« Lucille zog die schmalen, gezupften Augenbrauen hoch.

»Ich gehe vielleicht zum Peace Corps.«

»Das ist ja was ganz Neues. Und was ist aus deinen Collegeplänen geworden?«

»Ich kann ja hinterher aufs College gehen. Beim Peace Corps sind es nur zwei Jahre. Ich würde gern nach Tanganjika gehen oder so was.«

Lucille strich sich automatisch eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht. Mary hatte jeden Monat neue Zukunftspläne und pflegte mit einer Begeisterung und einem Ernst darüber zu sprechen, die jeden Fremden von ihrer Zielstrebigkeit überzeugt hätte. Ihre Familie wußte es anders.

»Mach erst mal die Highschool fertig. Du hast noch ein ganzes Jahr vor dir.«

»Ein Jahr und acht Wochen.«

Lucille verdrehte die Augen zur Decke. »Eine Ewigkeit.«

Mary wandte sich ihrem Vater zu. »Du kannst das doch bestimmt verstehen, Dad, oder?«

Er schob seinen Teller weg und lächelte. »Ich dachte, du wolltest Modezeichnerin werden.«

»Und vorher Tänzerin«, warf Amy ein.

Mary zuckte nur die Achseln. »Das ist jetzt was ganz anderes.«

Während ihre beiden Töchter das Geschirr spülten, trat Lucille durch die Schiebetür von der Küche auf die Terrasse hinaus und blickte in die Dunkelheit, die den Garten mit Rasenflächen und alten Bäumen so dicht verhüllte, daß er grenzenlos schien. Im Lichtschein, der aus dem Eßzimmer fiel, war nur der vordere Teil des Schwimmbeckens zu sehen, weiß und ohne Wasser. Jenseits des Gartens, etwas oberhalb, auf einem grünbewachsenen Hügel, schimmerten die Lichter der nächsten Häuserzeile, und aus der Ferne war Gelächter zu hören.

Lucille drehte sich um und ging wieder ins Haus. »Hoffentlich kommt morgen endlich der Mann wegen des Schwimmbeckens«, sagte sie. »Es sieht so scheußlich aus, wenn es leer ist.«

»Zum Schwimmen ist es doch sowieso zu kalt, Mutter.«

»Das hat dich und Mike aber neulich abend nicht abgeschreckt. Und dabei hättest du dir beinahe noch den Tod geholt.«

»Das war doch nicht meine Schuld«, entgegnete Mary. »Ich konnte schließlich nichts für den Kurzschluß an der Beckenbeleuchtung.«

»Nein, natürlich nicht, aber ich habe einen wahnsinnigen Schrecken bekommen, als ich dich schreien hörte und sah, wie Mike dich aus dem Wasser zog.«

»Mir ist doch nichts passiert, Mutter. Es hat mich nur erschreckt.«

»Trotzdem.« Lucille packte die Reste des Hühnchens in Frischhaltefolie und legte es in den Kühlschrank. »Es war furchtbar. Ich habe einmal gelesen, daß in einem Hotelschwimmbecken eine Frau ums Leben kam, als es einen Kurzschluß gab. Das hätte wirklich schlimm ausgehen können, Mary Ann.«

Mary hängte das feuchte Geschirrtuch auf und erklärte, sie ginge gleich in ihr Zimmer.

»Schaust du dir nicht die Ed Sullivan Show mit uns an? Heute abend ist Judy Garland als Gast da.«

»Ich kann nicht, Mutter. Ich muß meine Arbeit diese Woche abgeben, und ich habe sie noch nicht getippt.«

Als sie hinausgehen wollte, legte Lucille ihr die Hand auf den Arm und hielt sie fest. »Geht es dir wirklich gut, Kind?« fragte sie leise.

Mary lächelte flüchtig und drückte ihrer Mutter die Hand. »Aber ja. Ich hab nur so viel im Kopf. Du weißt doch, wie das ist.«

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer machte Mary kurz halt, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, wo ihr Vater sich mit einem Glas Bourbon in der Hand auf dem Sofa niedergelassen hatte und am Fernseher herumschaltete.

Ted McFarland war ein gutaussehender Mann, mit seinen fünfundvierzig Jahren immer noch so schlank und elastisch wie in seiner Jugend. Morgens vor der Arbeit ging er regelmäßig schwimmen, und einmal in der Woche trainierte er in einem Fitneßklub. Das kurze, leicht wellige Haar war dunkelbraun und an den Schläfen schon leicht ergraut. Er hatte ein weiches Gesicht mit kleinen Lachfältchen um die Augen, die verrieten, daß er nicht zum Trübsinn neigte.

Mary liebte ihren Vater abgöttisch. Einen ernsthaften Krach hatte es nie zwischen ihnen gegeben, und er war immer da, wenn sie ihn brauchte. Auch neulich abend, nach dem Schrecken im Schwimmbecken, als sie den elektrischen Schlag bekommen hatte, war er es gewesen, der sie in die Arme genommen und getröstet hatte.

»Ich geh jetzt in mein Zimmer, Dad«, sagte sie.

Er sah auf und schaltete automatisch den Ton des Fernsehapparats ab. »Kein Fernsehen heute abend? Ist die Arbeit so wichtig?«

»Ich muß sie tippen, wenn ich ein A, die Höchstnote, kriegen will.«

Er streckte lächelnd den Arm nach ihr aus. Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Sofalehne neben ihn.

»Außerdem«, fuhr sie fort, während er den Arm um sie legte, »brauche ich gute Noten, wenn ich in der Begabtenklasse bleiben will.« Sie starrte auf den lautlos berichtenden Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm und fand, er hätte einen Stich ins Grüne. »Die Farbe stimmt nicht, Dad.«

»Ich weiß. Irgendwann demnächst werden sie's schon besser hinkriegen. Bis dahin müssen wir mit dem zufrieden sein, was sie uns bieten.«

»Und was gibt's Neues in der Welt?«

»Nicht viel. Die Schwarzen im Süden demonstrieren immer noch. Jackie ist immer noch guter Hoffnung. An der Börse ist immer noch Baisse. Alles unverändert. Moment mal, nein! Ich hab was vergessen. Sybil Burton hat Richard heute endlich verlassen.«

Mary lachte. »Ach, Dad.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuß. Als sie aus dem Zimmer ging, hörte sie die plötzlich wiedereinsetzende Stimme des Nachrichtensprechers. »... gab heute bekannt, daß der Theologe Hans Küng sich dafür ausgesprochen hat, den Index verbotener Bücher abzuschaffen .«

Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte mit leerem Blick auf das Foto Richard Chamberlains, das an ihrer Pinnwand den beherrschenden Platz einnahm. Vor ihr lagen die Bilder ausgebreitet, die sie zur Illustration ihrer Facharbeit über die Kathedralen Frankreichs ausgeschnitten hatte. Aber sie hatte die Schreibmaschine bis jetzt nicht angerührt. Die Musik der Platte, die sie aufgelegt hatte, schwermütig gesungene Lieder von Joan Baez, drang nicht zu ihr durch. Sie war mit ihren Gedanken wieder bei dem Traum der vergangenen Nacht.

Halb wünschte sie, die aufwühlende Erinnerung abschütteln zu können, halb genoß sie sie auch mit einer heimlichen Wonne. Sie verstand nur nicht, warum ihr Unterbewußtsein nicht Mike, sondern ausgerechnet den heiligen Sebastian für die Rolle des Liebhabers auserkoren hatte.

Merkwürdig, fand sie jetzt, wo sie darüber nachdachte, daß sie in den sieben Monaten, seit Mike ihr Freund war, nicht ein einziges Mal von ihm geträumt hatte. Obwohl sie sehr viel über ihn phantasiert hatte. Bis zum Geschlechtsakt selbst allerdings waren diese Tagträume nie gegangen. Mary Ann McFarland erlaubte sich keine sündhaften Gedanken.

Seufzend stand sie auf und ging rastlos in ihrem Zimmer umher. Filmstars, Popsänger und ein nachdenklicher Präsident Kennedy blickten von den Wänden zu ihr hinunter. Auf der Kommode lagen neben ihrem Schul-Sweatshirt und mehreren Dosen Haarspray Fotos von Mike Holland im FootballDreß.

Mary streckte sich auf ihrem Bett aus. Die erotischen Erinnerungen an den heiligen Sebastian ließen sie nicht los; die Erinnerung nicht nur an den Traum, sondern vor allem daran, wie er geendet hatte. Zweifellos war der Traum Sünde gewesen; und zweifellos war es daher unrecht zu hoffen, daß er wiederkehren würde. Sie mußte ihn vergessen, ihn sich mit Gewalt aus dem Kopf schlagen. Den Blick auf die kleine blau-gewandete Figur der heiligen Jungfrau gerichtet, die mit sanfter Duldermiene auf ihrem Toilettentisch stand, begann Mary widerstrebend zu beten. »Heilige Maria, Mutter Gottes voller Gnaden .«

Загрузка...