3

Am nächsten Morgen war Mary so übel, daß sie sich übergeben mußte. Aber es gelang ihr trotz der Proteste ihrer Mutter, ihren Vater zu überreden, sie zur Schule zu fahren, wo die Cheerleader für das nächste Schuljahr ausgewählt wurden. Sie war todmüde und schlapp, aber sie hielt durch und war überglücklich, als sie erfuhr, daß sie wieder zum Team gehören würde.

Am Nachmittag lernte sie für die Prüfungen, die in der übernächsten Woche stattfinden sollten, und nach dem Abendessen sah sie sich mit der Familie zusammen einen Bericht im Fernsehen über Sinn und Zweck der Konklave an, die derzeit im Vatikan gehalten wurde. Ehe sie sich am Abend mit Mike traf, ging sie noch zur Beichte.

Eine Welle der Übelkeit überflutete sie, als sie im Beichtstuhl niederkniete und Pater Crispin flüsternd ihre Sünden anvertraute. Sie entschuldigte sich für ihre Unpäßlichkeit, erklärte, sie hätte die Grippe. Die Buße, die er ihr für ihre Sünden auferlegte, war leicht: Fünf Rosenkränze.

Am Sonntag nach der Kirche lag Mary den ganzen Nachmittag am Schwimmbecken und las, während ihr Vater sich im Fernsehen das Baseballspiel der Dodgers gegen die New Yorker Giants ansah und ihre Mutter drei Schwestern von St. Sebastian, die verschiedenes zu erledigen hatten, herumchauffierte.

Am Montag morgen fühlte sich Mary keinen Deut besser, und ihre Mutter ließ sie nicht zur Schule gehen. Am Nachmittag rief die Sprechstundenhilfe von Dr. Wade an und bat Mary, am folgenden Morgen vor der Schule in die Praxis zu kommen. Sie brauchten noch eine Urinprobe von ihr, sagte sie und instruierte Mary, nach sieben Uhr abends nichts mehr zu trinken.

Am Dienstag morgen fühlte sich Mary so weit besser, daß sie wieder zur Schule gehen konnte. Vorher ließ sie sich wie vereinbart von ihrer Mutter bei Dr. Wade vorbeifahren.

Als Mary am Mittwoch gegen Abend aus ihrem Zimmer kam, traf sie mit ihrem Vater zusammen, der, noch damit beschäftigt, ein frisches Hemd zuzuknöpfen, aus dem Elternschlafzimmer trat.

»Hallo, Daddy! Wann bist du denn heimgekommen?«

Sie gab ihm einen Kuß, dann gingen sie Arm in Arm durch den Flur.

»Vor einer Viertelstunde ungefähr. Du hattest dein Radio so laut, daß du mich nicht gehört hast. Wer ist denn dieser Tom Dooley eigentlich, hm?«

»Ach, Dad!« Sie drückte ihn lachend. Wie gut, daß er jeden Mittwoch zum Training ging und sich nicht so gehen ließ wie die meisten Väter ihrer Freundinnen, die schon einen Bauch hatten und schlaff und schwabbelig wirkten.

»Geht's dir besser, Kätzchen?«

»Viel besser. Ich glaub, jetzt hab ich's überwunden, wenn ich auch keine Ahnung hab, was es war.«

»Und wie war's in der Schule?«

»Gut. Ich hab ein A auf meinen Vortrag gekriegt. Und -« Sie sah mit lachenden Augen zu ihm auf.

»Und was?«

»Und was das Beste von allem ist: Mikes Vater nimmt die

Stellung in Boston doch nicht an. Sie bleiben alle hier in Tarza-na und fahren auch den Sommer über nicht weg.«

Ted McFarland lachte. »Ja, das ist natürlich herrlich, Kätzchen.«

»Jetzt können Mike und ich jeden Tag mit den anderen nach Malibu fahren.«

Sie traten ins Eßzimmer, wo Amy schon am Tisch saß, während Lucille noch dabei war, das Besteck zu verteilen.

»Da brauchst du natürlich unbedingt einen neuen Badeanzug, wie?« meinte Ted, als er sie losließ, um sich an seinen Platz zu setzen.

»Du sagst es, Dad. Ich glaub, du kannst Gedanken lesen.« Sie setzte sich ihm gegenüber.

»Aber daß du dir ja nicht so ein unanständiges Ding kaufst, wo man alles sieht«, bemerkte Lucille.

Als alle saßen, sprach Ted das Tischgebet und schnitt dann den Braten auf.

»Ach, wenn ich mir das vorstelle«, sagte Mary ausgelassen. »Zwölf Wochen Faulenzen am Strand. Und von morgens bis abends mit Mike zusammen. Ich freu mich unheimlich auf die Ferien.«

Lucille, die den Brokkoli verteilte, meinte: »Ich hoffe nur, dir bleibt auch noch ein bißchen Zeit für mich. Du weißt doch, wir haben dieses Riesenstück Crepe de Chine, das Shirley mir geschenkt hat. Wir müssen unbedingt was draus machen.«

»Aber klar!« versicherte Mary. »Das hab ich nicht vergessen.«

Sie hatten geplant, während der Ferien gemeinsam zu nähen, da der Stoff leicht für zwei Kleider reichte.

Lucille strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Wahnsinnig, diese Hitze. Wir bekommen bestimmt einen heißen Sommer.«

Mary sah ihrer Mutter in das gerötete Gesicht. Vor langer Zeit hatte sie den rosigen Teint ihrer Mutter bewundert; sie brauchte niemals Rouge wie andere Frauen; doch später, sie mußte ungefähr vierzehn gewesen sein, hatte sie entdeckt, daß die rosigen Wangen nicht naturgegeben waren, sondern von einem gelegentlichen nachmittäglichen Cocktail herrührten.

Mittwochs wurde immer schon um halb sechs zu Abend gegessen, weil Ted zum Turnen ging und Lucille zu ihrem Frauenverein. Günstigerweise fand auch der Firmunterricht, an dem Amy derzeit teilnahm, regelmäßig Mittwoch abends statt.

»Gehst du heute abend mit Mike weg?« fragte Ted seine älteste Tochter.

Mary nickte. »Wir gehen ins Kino. Im Corbin läuft ein neuer Film. Mondo Cane. Die meisten aus meiner Klasse waren schon drin.«

»Und wie geht's dir im Firmunterricht, Amy? Brauchst du Hilfe?«

»Ach wo.« Amy schüttelte den Kopf, daß die braunen Haare flogen. »Schwester Agatha hilft mir prima. Es ist eigentlich genau das gleiche wie vor der Kommunion.«

Ted nickte lächelnd und dachte flüchtig an die Tage in Chicago, als er auf dem Priesterseminar gewesen war. Das war vor Ausbruch des Krieges gewesen. 1941 hatte Ted das Seminar verlassen, um an die Front zu gehen, und nach drei Jahren im Süd-Pazifik hatte er sich nicht mehr zum Priester berufen gefühlt. Er hatte eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen und war ein erfolgreicher Börsenmakler geworden, aber manchmal, wenn wie jetzt etwas Erinnerungen weckte, fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er damals auf dem Seminar geblieben wäre.

»Aber das mit den kleinen Babys«, sagte Amy, »find ich trotzdem gemein.«

Aus seinen Gedanken gerissen, sah er Amy blinzelnd an. »Wie meinst du das?«

»Ach, Daddy, du hast ja überhaupt nicht zugehört! Schwester Agatha hat uns letzte Woche vom Fegefeuer erzählt und daß da die ganzen kleinen Kinder sind, die noch nicht getauft sind. Ich finde es gemein vom lieben Gott, daß er so was tut, wo sie doch überhaupt nichts dafür können.«

»Aber du weißt doch, Amy«, sagte Ted bedächtig, »wenn sie nicht getauft sind, dann sind sie immer noch mit der Erbsünde belastet. Und solange man mit der Erbsünde belastet ist, kann man nicht in den Himmel kommen. Darum werden wir ja alle getauft.«

»Und darum«, sagte Mary leise, »haben die Ärzte Mrs. Franchimonis Baby gerettet und Mrs. Franchimoni sterben lassen.«

Lucille hob mit einem Ruck den Kopf. »Wer hat dir das erzählt, Mary Ann?«

»Pater Crispin. Aber vorher hörte ich es von Germaine. Die hörte, wie ihre Mutter mit einer Nachbarin darüber sprach.«

»Ach, Germaine Massey, das hätte ich mir ja denken können. Ihre Eltern sind Sozialisten, das weißt du wohl.«

»Na und?«

»Für mich sind das die gleichen wie die Kommunisten, und ich sage, wenn sie unbedingt den Kommunismus wollen, dann sollen sie doch nach Rußland gehen und dort leben. Mal sehen, ob es ihnen dann immer noch so gut gefällt.«

»Was war denn mit Mrs. Franchimonis Baby?« fragte Amy neugierig.

»Germaine hat mir erzählt, die Ärzte hätten Mr. Franchi-moni gesagt, seine Frau sei in Lebensgefahr, und sie wollten das Kind opfern, um Mrs. Franchimoni zu retten. Aber Mr. Franchimoni sprach mit Pater Crispin darüber, und der sagte, das Kind müsse um jeden Preis am Leben erhalten werden. Also sagte Mr. Franchimoni den Ärzten, sie sollten das Kind retten, und darum mußte Mrs. Franchimoni sterben.«

»Aber das ist ja furchtbar!« rief Amy entsetzt.

»Mary.« Ted legte sein Besteck weg und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »So einfach ist es nicht. Die Sache ist weit komplizierter.«

»Oh, ich weiß, Dad. Nachdem Germaine mir das erzählt hatte, habe ich Pater Crispin danach gefragt, und der hat mir alles erklärt.«

»Was sagte er denn?«

»Er sagte, zwischen dem sterblichen Leben und dem spirituellen Leben sei ein Unterschied, und uns ginge es darum, das spirituelle Leben zu retten. Wenn die Mutter stirbt, sagte er, kommt sie in den Himmel, weil sie getauft ist. Aber man muß auch dem Kind die Möglichkeit geben, getauft zu werden, weil es sonst niemals in den Himmel kommen kann.«

Ted nickte nachdenklich. Dann sah er Amy an. »Verstehst du das?«

»So ungefähr, ja.«

»Wenn man die Mutter rettet und das Kind sterben läßt, kommt nur eine Seele in den Himmel. Aber wenn man die Mutter sterben läßt und das Kind zur Welt bringt und tauft, dann kommen zwei Seelen in den Himmel. Das ist der wichtige Unterschied, Amy: Seelen statt irdische Leben. Pater Crispin hat recht. Okay, Amy?«

»Ja, wahrscheinlich. Es wäre schon schlimm, wenn so ein Baby ins Fegefeuer müßte.«

Danach schwiegen alle. Amy hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt und fragte sich, warum Gott, der allmächtig war und alle Wesen liebte, nicht bereit war, kleine ungetaufte Kinder in den Himmel zu lassen. Lucille dachte an Rosemary Franchimoni und das letzte Gespräch, das sie mit ihr geführt hatte. Ted dachte daran, daß Arthur Franchimoni sich nach dem Tod seiner Frau völlig von der Kirche zurückgezogen hatte. Und Mary fragte sich, während sie mit Widerwillen in ihrem Brokkoli herumstocherte, wann Mike sie abholen würde.

Das Läuten des Telefons brach das Schweigen. Mit einem Sprung war Amy von ihrem Stuhl und flitzte in den Flur hinaus. Sie konnten ihre gedämpfte Stimme hören. Dann kam sie schon wieder hereingelaufen.

»Es ist Dr. Wade.«

»Oh! Was will er denn?«

»Keine Ahnung. Er wartet am Telefon.«

Lucille stand auf und ging hinaus. Die anderen warteten schweigend.

»Er hat mich gebeten, nachher mit Mary in seine Praxis zu kommen«, berichtete sie bei ihrer Rückkehr.

»Heute abend noch? Wozu denn das?«

»Er hat jetzt alle Befunde und möchte es uns persönlich sagen.«

»Ach, Mutter, das ist doch längst vorbei. Mir geht's wieder gut. Hast du ihm das nicht gesagt? Außerdem wird Mike gleich kommen und -«

»Wir gehen auf jeden Fall hin, Mary. Wir werden ja sehen, was er sagt. Wahrscheinlich verschreibt er dir nur ein paar Vitamine.«

Diesmal fühlte sich Mary weit wohler, als sie in dem Ledersessel vor Dr. Wades Schreibtisch saß und sich in seinem Sprechzimmer umsah. Heute war ja auch keine peinliche Untersuchung zu erwarten, sondern nur ein Bericht über ihre Befunde. Als Dr. Wade hereinkam und leise die Tür hinter sich schloß, sah Mary ihn mit ganz anderen Augen als bei ihrem ersten Besuch. Er war nicht so groß, wie er ihr damals erschienen war und auch nicht mehr so jung. Sie sah die Fältchen um seinen Mund und seine Augen, und er schien mehr graue Haare zu haben als das letztemal. Das Lächeln jedoch war unverändert, vertraueneinflößend und herzlich.

»Hallo, Mary«, sagte er ruhig und bot ihr die Hand.

Sie nahm sie ein wenig scheu. »Hallo, Dr. Wade.«

»Also.« Er ging um seinen Schreibtisch herum und räumte einige Schriftstücke weg, ehe er sich setzte. Lächelnd sagte er: »Als ich in deinem Alter war, Mary, war ich überzeugt, Ärzte hätten ein unheimlich leichtes Leben. Sie brauchen die Leute nur A sagen zu lassen und fahren ansonsten in Cadillacs spazieren. Eine schöne Illusion war das!«

Mary lachte.

»Okay, Mary, deine Befunde sind jetzt alle da.« Er griff nach einem Hefter und schlug ihn auf. »Blut und Urin praktisch unverändert. Du hast doch sicher Biologie in der Schule?«

»Ja.«

»Dann weißt du, daß Infektionen sich immer im Blut zeigen und daß ein Tropfen Urin genügt, um die verborgensten Dinge zu diagnostizieren.«

»O ja.«

Dr. Wade machte eine kleine Pause und sah zu den Berichten hinunter, die er vor sich liegen hatte. Als er den Blick wieder hob, sah Mary mit Überraschung, daß das Lächeln

verschwunden war. Er wirkte sehr ernst.

»Mary, ich muß dich etwas fragen. Und ich frage nicht aus Neugier oder um dir Vorhaltungen zu machen, das darfst du mir glauben. Du bist schließlich siebzehn Jahre alt, fast schon erwachsen, und du weißt, daß ich einzig dazu da bin, deine Interessen zu vertreten.«

Sie sah ihn nur groß an, ohne etwas zu erwidern.

»Ich habe dir die Frage am letzten Freitag schon einmal gestellt, Mary, aber ich muß dich noch einmal fragen. Bitte denke genau nach, ehe du mir antwortest. Hast du schon einmal mit einem Jungen geschlafen?«

Einen Moment lang starrte sie ihn verblüfft an. Dann sagte sie ruhig: »Nein, Dr. Wade.«

»Bist du ganz sicher?«

»Aber ja. Wirklich. Ich würde es Ihnen sagen, wenn es anders wäre.«

Jonas Wade musterte das junge Gesicht. Er wurde nicht klug aus diesem Mädchen. Schließlich sagte er: »Mary, als du das letzte Mal hier warst, haben wir im Labor, wie ich dir sagte, die Routinetests machen lassen und festgestellt, daß dir nichts fehlt. Als ich dich dann untersuchte, sagtest du mir, daß deine Brüste spannen und sehr empfindlich sind und daß du zwei Monate lang keine Periode mehr gehabt hast. Während du dich wieder anzogst, habe ich daraufhin selbst einen Test durchgeführt, hier in meiner Praxis.« Er zog das lavendelfar-bene Blatt heraus und hielt es hoch. »Mary, hast du schon einmal von dem sogenannten Gravindex gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Der Gravindex ist ein Schwangerschaftstest, Mary«, sagte er ernst, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden.

Sie sah ihn ruhig an.

»Ich habe den Test hier in meiner Praxis durchgeführt, und das Ergebnis war positiv.« Er hielt immer noch das lavendelblaue Blatt hoch. »Das ist der Grund, weshalb ich gefragt habe, ob du schon einmal mit einem Jungen geschlafen hast.«

Marys Blick flog zu dem Blatt in seiner Hand und kehrte dann zu seinem Gesicht zurück.

»Positiv heißt, daß du schwanger bist, Mary«, fuhr er fort, noch immer verwundert über ihr Verhalten.

Sie zuckte die Achseln. »Das Ergebnis ist falsch.«

»Zu der Überzeugung kam ich auch, nachdem du mir meine Fragen beantwortet hast. Es kommt ab und zu vor, daß der Test falsche Ergebnisse zeigt. Aus diesem Grund beschloß ich, einen zuverlässigeren Test durchzuführen. Hast du schon einmal vom Froschtest gehört?«

»Nein.«

»Wir nehmen einen Tropfen Urin von einer Frau und injizieren ihn einem männlichen Frosch. Ein paar Stunden später untersuchen wir den Urin des Frosches unter dem Mikroskop. Wenn sich männliche Samenzellen zeigen, heißt das, daß die Frau schwanger ist.«

Mary, die die Hände ruhig im Schoß liegen hatte, sah ihn nur an. »Deshalb baten wir dich, am Dienstag morgen noch einmal zu einer Urinprobe zu kommen. Der Test muß mit dem ersten Urin des Tages gemacht werden. Wir haben deinen Urin dem Frosch injiziert, Mary, und unter dem Mikroskop zeigten sich männliche Keimzellen.«

Dr. Wade schwieg und betrachtete Marys Gesicht. Es zeigte nur mildes Interesse an dem, was er gesagt hatte.

»Mary, dieser letzte Test zeigt, daß du schwanger bist.«

Wieder zuckte sie die Achseln und lachte ein wenig. »Das Ergebnis kann nur falsch sein, Dr. Wade. Genau wie bei dem

anderen Test.«

»Der Froschtest ist fast hundert Prozent zuverlässig, Mary. Und wir haben ihn zweimal gemacht, um ganz sicher zu sein. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß du schwanger bist.«

Mary lächelte. »So sieht es vielleicht aus. Aber ich kann gar nicht schwanger sein.«

Dr. Wade lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Mary nachdenklich an. Es war nichts Ungewöhnliches, daß junge unverheiratete Mädchen in einem solchen Fall leugneten. Wenige allerdings hielten ihr Leugnen auch noch angesichts solch unwiderlegbarer Beweise aufrecht, und noch nie hatte er erlebt, daß ihm bei einem solchen Gespräch so ruhig und so völlig unberührt widersprochen worden war. Fast immer war es so, daß die Mädchen spätestens zu diesem Zeitpunkt zu weinen anfingen und die Wahrheit gestanden. Oder aber sie wurden wütend. Oder sie bekamen Angst. Keine hatte bisher so reagiert wie Mary Ann McFarland. Er fand ihr Verhalten unbegreiflich.

»Wirklich, Mary, es wäre gescheiter, du würdest mir die Wahrheit sagen. Man wird es nämlich sowieso bald sehen, und dann hilft Leugnen auch nichts mehr.«

»Dr. Wade -« Mary breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus - »ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich kann unmöglich schwanger sein. Ihr Testergebnis stimmt nicht.«

»Es gibt noch andere Beweise. Du hast seit zwei Monaten die Periode nicht mehr gehabt. Deine Brust ist empfindlich. Du leidest an morgendlicher Übelkeit.«

Sie zuckte wieder die Achseln. »Was soll ich Ihnen denn sagen? Ich kann nicht schwanger sein. Es muß etwas anderes sein.«

Stirnrunzelnd beugte sich Dr. Wade über seinen Schreibtisch. »Mary, es kann passieren, daß eine Frau schwanger wird, auch wenn der Penis nicht eingeführt wird. Wenn er sich nur in der Nähe ihrer Vagina befindet.«

Mary wurde brennend rot und senkte die Lider. »So was hab ich nie getan, Dr. Wade«, sagte sie leise. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich habe mich von Mike nur hier anfassen lassen.« Sie strich sich mit einer Hand über die Brust. »Ich hab Mike nie erlaubt, daß er - daß er was anderes tut.«

»Und doch bist du schwanger.«

Sie hob den Kopf. »Dagegen kann ich nur sagen, daß ich es nicht bin. Sie werden schon sehen, daß Sie sich geirrt haben, wenn nichts passiert.«

»Es wird aber etwas passieren, Mary. Dein Bauch wird dicker werden, und dann mußt du es eingestehen.«

Mary lachte nur. Das war ja alberner als ein Streit mit Amy.

»Mary«, sagte Dr. Wade langsam, »glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß ich dein Freund bin und nur dein Bestes will?«

»Ja.«

Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, sagte er: »Ich muß es deinen Eltern sagen.«

»Okay.« Mary wies mit einer Hand zur Tür. »Holen Sie doch meine Mutter gleich herein. Sie sitzt im Wartezimmer.«

Jonas Wade hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. An diesem Punkt brachen sonst selbst die hartnäckigsten Mädchen zusammen.

»Was wird deine Mutter denn sagen, wenn sie hört, daß du schwanger bist?«

»Sie wird es nicht glauben. Sie weiß, daß ich so was niemals tun würde.«

»Bist du da ganz sicher?«

Mary neigte den Kopf leicht zur Seite. Ihr Blick war offen und unschuldig. »Aber natürlich. Meine Mutter weiß, daß ich sie nicht belügen würde.«

»Und dein Vater?«

»Genauso.«

Jonas Wade nickte bedächtig und überlegte einen Moment. Dann drückte er auf einen Knopf seiner Sprechanlage und bat die Sprechstundenhilfe, Lucille McFarland hereinzuführen.

Als Lucille ihm gegenüber Platz genommen hatte, nahm er sich einen Moment Zeit, um sie zu mustern und sich ein Bild von ihr zu machen. Sie war eine gutaussehende Frau, sonnengebräunt und schlank. Das Gesicht war nur dezent geschminkt, das tizianrote Haar allerdings hielt er für gefärbt. Scharfe blaue Augen, denen ihrer Tochter sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war stark; Lucille mußte in ihrer Jugend so hübsch gewesen sein wie Mary. Jetzt, Anfang Vierzig, verrieten die scharfen Falten in ihrem Gesicht, daß sie zu viel Zeit in der Sonne verbrachte. Ihre Kleidung war teuer und konservativ, ihr Verhalten war selbstsicher und gewandt. Jonas Wade hatte das deutliche Gefühl, daß dieses Gespräch nicht einfach werden würde.

Er räusperte sich, berichtete dann kurz von den Routineuntersuchungen, die gemacht worden waren, von seiner eigenen Untersuchung Marys und kam dann vorsichtig zum kritischen Punkt.

»Aufgrund gewisser körperlicher Symptome, die Ihre Tochter zeigte, Mrs. McFarland, sah ich mich genötigt, zusätzliche Untersuchungen durchzuführen. Die Befunde dieser Untersuchung liegen mir jetzt vor, und sie sind eindeutig.«

Lucille nickte. »Was fehlt meiner Tochter, Dr. Wade?«

»Alle Befunde weisen auf eine Schwangerschaft hin, Mrs.

McFarland.«

Einen Moment war es ganz still. Dann rief Lucille: »Was?« und wandte sich abrupt ihrer Tochter zu.

»Es stimmt nicht, Mutter. Ich habe Dr. Wade gesagt, daß die Befunde falsch sind. Ich habe nie etwas getan -«

Jonas Wade beobachtete Mary scharf, während sie mit ihrer Mutter sprach, und wieder verblüffte ihn ihre Gelassenheit und ihre Sicherheit. Vielleicht, dachte er, glaubte das Mädchen wirklich, was sie sagte.

»Gut«, sagte Lucille kurz, die sich sofort wieder gefaßt hatte. »Die Befunde müssen falsch sein, Dr. Wade, da meine Tochter sagt, daß eine Schwangerschaft ausgeschlossen ist.«

Jonas Wade seufzte und wünschte, er säße zu Hause vor dem Fernseher. »Mrs. McFarland, unser Labor hat zweimal den Froschtest durchgeführt. Beide Male waren Schwangerschaftshormone in Marys Urin feststellbar. Sie hatte seit Ostern keine Menses mehr. Ihre Brust spannt und ist sehr empfindlich. Sie leidet an morgendlicher Übelkeit. Ich glaube nicht, daß ich mich täusche.«

Wieder trat Schweigen ein. Lucille wandte sich wieder Mary zu und sah sie eindringlich an. »Sag mir die Wahrheit, Mary, hast du -«

»Nein, Mutter! Wirklich nicht! Er täuscht sich. Ich hab nie so was getan.«

Lucilles kalter Blick ruhte auf dem Gesicht ihrer Tochter, während sie sprach. »Dr. Wade, haben Sie eine gynäkologische Untersuchung bei meiner Tochter gemacht und festgestellt, ob sie unberührt ist?«

Oh, oh, dachte Jonas Wade, während er geduldig antwortete: »Nein, Mrs. McFarland, das habe ich nicht getan. Es bestand kein Anlaß dazu, als ich Ihre Tochter untersuchte.«

Lucille drehte den Kopf und sah ihn mit ihren harten blauen Augen an. »Jetzt wäre eine solche Untersuchung aber doch wohl angebracht. Damit ließe sich die ganze Sache ein für allemal aufklären.«

»Leider nicht, Mrs. McFarland. Ein unverletztes Hymen ist kein Beweis für Unberührtheit. Das ist nur ein Märchen. Tatsache ist, daß eine Frau auch Geschlechtsverkehr haben kann, ohne daß das Hymen zerreißt.«

Mary wäre vor peinlicher Verlegenheit am liebsten in den Boden versunken.

»Trotzdem«, fuhr Jonas Wade fort, »würde ich unter den Umständen zu so einer Untersuchung raten. Wenn Ihre Tochter schwanger ist, müßte ich die entsprechenden körperlichen Veränderungen feststellen können.«

Mary wurde der Mund trocken. Lieber Gott, dachte sie verzweifelt, laß das alles nicht wahr sein.

»Meine Erlaubnis haben Sie, Dr. Wade«, hörte sie ihre Mutter sagen, sah, wie Dr. Wade auf seine Sprechanlage drückte, hörte, wie er die Sprechstundenhilfe bat, ins Zimmer zu kommen.

Zehn Minuten später lag Mary im nüchternen Behandlungszimmer in dem gynäkologischen Untersuchungsstuhl und starrte wie gebannt zu den grellen Lichtern an der Decke hinauf. Mit schweißfeuchten Händen hielt sie die Metallkanten des Stuhls umklammert, und als sie hörte, daß die Tür sich öffnete, schluckte sie krampfhaft.

Die Sprechstundenhilfe, die ihr in den Stuhl geholfen hatte, blieb an ihrer Seite stehen, während Dr. Wade Mary untersuchte.

»Es dauert nur eine Minute«, sagte er beruhigend. »Und es tut nicht weh. Du spürst nichts weiter als den Druck meiner

Hand an deinem Bauch, Mary.«

Sie biß die Zähne aufeinander und schloß die Augen.

»Und?« sagte Lucille, als Mary wieder ins Sprechzimmer kam und sich in den Sessel neben ihr fallen ließ.

»Es war gräßlich.«

Lucille tätschelte ihr wortlos den Arm.

Als Jonas Wade ins Zimmer kam und sich hinter seinen Schreibtisch setzte, senkte Mary den Kopf, um ihn nicht ansehen zu müssen.

»Mrs. McFarland, die Untersuchung hat den Befund der Labortests bestätigt. Es gibt keinen Zweifel daran, daß Mary schwanger ist.«

Mary riß den Kopf in die Höhe und starrte ihn mit offenem Mund an.

»Alle klassischen Anzeichen für eine Schwangerschaft sind vorhanden«, fuhr er fort. »Die Gebärmutter ist weich und vergrößert. Es steht -«

»Das kann nicht sein«, flüsterte Mary.

»Was ist mit dem Hymen, Dr. Wade?« fragte Lucille scharf.

Er zuckte die Achseln. »Es ist unversehrt, Mrs. McFarland. Aber das bedeutet, wie ich Ihnen schon sagte, nicht unbedingte -«

»Und eine vergrößerte Gebärmutter bedeutet genausowenig, Dr. Wade. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte eine Totaloperation, weil meine Gebärmutter sich vergrößerte. Und der Froschtest ist auch nicht unfehlbar. Es kann eine Verwechslung der Proben vorliegen. Solche Geschichten passieren doch dauernd.«

»Mrs. McFarland -«

»Dr. Wade, meine Tochter würde so etwas nie tun.« Lucille stand auf und bedeutete Mary, ihr zu folgen. »Tests sind nicht unfehlbar und Ärzte ebensowenig. Wir werden jemand anders konsultieren. Guten Abend, Dr. Wade.«

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