Lucille hielt die Hände vor ihr Gesicht geschlagen und murmelte immer nur: »O Gott, o Gott, das kann doch nicht wahr sein. Lieber Gott ...«
Mary hockte auf der Bettkante und wußte nicht, was sie sagen sollte. Mehrmals öffnete sie den Mund, aber es kam kein Wort über ihre Lippen. Die Nachricht war für sie genauso ein Schlag wie für ihre Mutter, deren schmale Schultern zuckten, während sie lautlos weinte. Aus dem vorderen Teil des Hauses kamen die Geräusche der Haustür, die geöffnet und geschlossen wurde; dann Teds Stimme, als er nach Lucille und den Kindern rief, dann sein Schritt, der sich dem Schlafzimmer näherte. Gleich darauf stand er an der offenen Tür zu Marys Zimmer, die Krawatte gelockert, den obersten Hemdknopf geöffnet, das Jackett an einem Finger über der Schulter.
»Was ist denn los?«
Mary hob den Kopf und sah ihren Vater an. Einen Moment lang tat er ihr leid. Doch ehe sie etwas sagen konnte, begann Lucille zu sprechen.
»Dr. Evans hat eben angerufen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Er sagte, daß Mary schwanger ist.«
Im ersten Augenblick schien es, als hätte Ted nicht gehört. Er zeigte überhaupt keine Reaktion, blieb nur reglos an der Tür stehen und schaute zu seiner Frau und seiner Tochter hinüber. Dann sagte er langsam und ungläubig: »Was? Mary ist schwanger?«
»Es ist nicht wahr, Daddy«, flüsterte Mary. »Sie irren sich.«
»Hör endlich auf damit!« fuhr Lucille sie an. Sie zog die Hände vom Gesicht und richtete sich auf. »Was habe ich falsch gemacht, Mary Ann?« fragte sie, mühsam das Schluchzen unterdrückend. »Warum hast du mir das angetan?«
Mary starrte in das verschwollene Gesicht ihrer Mutter. »Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.«
»Du kannst uns vor allem erst einmal sagen, wer es war. Mike Holland?«
»Nein!« schrie Mary. »Warum kannst du mir nicht glauben? Mike und ich haben nie was gemacht.«
»Für wie dumm hältst du mich eigentlich, Mary Ann?« Lucilles Stimme schwoll an. »Ich schäme mich zu Tode.«
Mary sah ihren Vater flehentlich an. Ted bemühte sich, die Situation einzuschätzen, um angemessen reagieren zu können, aber er war in diesem Moment völlig überfordert. So etwas passierte immer nur den Töchtern anderer Männer.
»Du hast uns blamiert«, warf Lucille ihr mit zitternder Stimme vor und begann wieder zu weinen.
Mary öffnete den Mund und breitete die Hände aus.
»Beim erstenmal habe ich dir geglaubt«, sagte Lucille und stand auf. »Ich habe mich vor Dr. Wade lächerlich gemacht. Aber Dr. Evans ist Gynäkologe. Er sagte, daß an deiner Schwangerschaft kein Zweifel besteht. Aber das, was mich am tiefsten verletzt, Mary Ann, ist, daß du mich belogen hast.«
Erst jetzt trat Ted ins Zimmer. »Wir müssen das in Ruhe besprechen.«
Lucille wich einen Schritt zurück. »Jetzt nicht. Ich bin zu kaputt. Ich - ich muß erst nachdenken.« Mit steifen Schritten ging sie zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal nach ihrem Mann und ihrer Tochter um. »Du hast mich bis ins Innerste verletzt, Mary Ann.«
Leise schloß sich die Tür hinter ihr, und ihre Schritte entfernten sich im Flur.
Mary sah hoffnungsvoll zu ihrem Vater auf. »Daddy?« sagte sie zaghaft.
Sichtlich erschüttert setzte sich Ted zu ihr aufs Bett und musterte sie mit forschendem Blick. Er wußte nicht, was er sagen, wie er beginnen sollte. Er brachte kein einziges Wort zustande. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihm mit einem Ruck den Boden unter den Füßen weggerissen.
»Was ist passiert?« hörte er sich schließlich fragen.
»Ich weiß es nicht, Daddy. Beide Ärzte sagen, daß ich ein Kind bekomme.«
Er nickte langsam. Er erinnerte sich, daß Lucille ihm, während er vor dem Fernseher gesessen hatte, etwas von einem Arzt in einer luxuriösen Praxis erzählt hatte, der nicht einmal eine einfache Grippe diagnostizieren konnte; sie hatte irgend etwas von Laboruntersuchungen erzählt und daß dieser Arzt die Frechheit besessen hätte zu behaupten, ihre Tochter sei schwanger. Und am Samstag nachmittag, als sie am Schwimmbecken gesessen und Pina Coladas geschlürft hatten, während auf dem Grill die Steaks brutzelten, hatte Lucille erklärt, daß sie mit Mary, die immer noch an Übelkeit litt, zu einem Gynäkologen gehen würde.
Während Ted jetzt auf Mary hinuntersah, fragte er sich, wo war ich eigentlich die ganze Zeit.
»Es ist nicht wahr«, hörte er Mary mit kleiner Stimme sagen. »Ich weiß nicht, was mir fehlt, Daddy, aber ich bin bestimmt nicht schwanger.«
Ted räusperte sich in der Hoffnung, daß endlich die Worte fließen würden. Aber es kam gar nichts.
»Ich weiß ja, daß sie Untersuchungen gemacht haben, Daddy, und ich weiß auch, daß sie beide erfahrene Ärzte sind, aber es ist einfach nicht möglich.«
Ted brachte endlich wenigstens einen tiefen Seufzer zustande. Und dann kamen auch Worte. »Mary«, sagte er leise. »Ich mache mir Vorwürfe. Ich habe das Gefühl, das ist alles meine Schuld.«
»Aber wieso denn?«
»Ich habe als Vater versagt. Ich habe dir nicht beigebracht -
«
»Aber Daddy! Es hat nichts mit dir zu tun. Ich habe irgendeine Krankheit oder was, das die Ärzte nicht erkennen können. Was hat das damit zu tun, ob du ein guter Vater bist oder nicht?«
»Kätzchen.« Ted streichelte Marys Wange. »Vielleicht hatte deine Mutter recht. Vielleicht hätte ich dich und Amy auf der katholischen Schule lassen sollen. Vielleicht wäre das dann nicht -«
»Aber Daddy -«
»Hör mir zu, Kätzchen. Ich glaube nicht, daß du etwas Schlimmes getan hast, okay? Glaubst du mir das?«
Sie nickte unsicher.
»Du hast wahrscheinlich nicht gewußt, was du tust. Selbst jetzt ist dir wahrscheinlich nicht klar, was du getan hast. Ich dachte immer, deine Mutter hätte dich aufgeklärt -«
»Daddy«, sagte sie flehentlich. »Ich weiß genau, wie es geht, und ich hab nie so was getan. Das hab ich den Ärzten auch gesagt. Ich hab so was nie getan.«
Ted sah seiner Tochter stirnrunzelnd ins Gesicht. »Mary, ich glaube nicht, daß zwei Ärzte eine Schwangerschaft bei dir feststellen könnten, wenn es nicht so wäre.«
»Aber ich bin nicht schwanger!« rief sie. »Daddy!« Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Du mußt mir glauben. Ich hab nichts getan.«
»Komm, komm«, flüsterte er, legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sie legte den Kopf an seine Brust. Ein Weilchen weinte sie noch, dann wurde sie still. Ted hielt sie fest an sich gedrückt.
»Mary«, sagte er leise. »Du mußt mir vertrauen, ja?« Sie nickte stumm.
»Ich verurteile dich nicht. Ich bin auch nicht böse oder sonst etwas in der Richtung. Ich stehe auf deiner Seite, Mary, denn du bist meine Tochter. Ich möchte dir helfen. Glaubst du mir das?«
Sie nickte wieder.
»Kätzchen - sag mir nur eines.«
»Ja, Daddy?«
Er holte Atem. »Wer war es?«
Mit einem Ruck hob Mary den Kopf und wich vor ihrem Vater zurück. »Du glaubst ihnen«, flüsterte sie ungläubig.
»Das muß ich doch, Kätzchen.«
»Wieso? Wieso mußt du ihnen glauben und nicht mir?«
»Sag mir nur, wer es war, Mary? War es Mike?«
Sie fuhr zurück, als hätte er sie geschlagen. »Daddy!« schrie sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ach, Daddy! Oh, lieber Gott!«
Als sie aufsprang, fuhr Ted hoch und packte sie beim Arm.
»Lauf jetzt nicht vor mir weg, Mary.«
»Du bist genau wie Mutter. Du glaubst, daß ich es getan habe.«
»Mary -«
»Nein! Nein!« Mit einer abrupten Bewegung riß Mary sich los und rannte zur Tür.
»Mary! Warte!« rief Ted ihr nach, aber er war so blind von seinen eigenen Tränen, daß er nicht sehen konnte, wohin sie lief.
Im sanften Licht der Spätnachmittagssonne, das durch die großen Fenster seiner Praxis strömte, saß Jonas Wade über lästiger Büroarbeit. Nachdem er die Sprechstundenhilfe nach Hause geschickt hatte, war er mit grimmiger Entschlossenheit daran gegangen, Krankenblätter zu vervollständigen und Korrespondenz zu diktieren, die bisher unerledigt liegengeblieben war.
Am Nachmittag war nicht viel los gewesen. Mehrere Patienten hatten ihre Termine abgesagt. Wer konnte es ihnen verübeln, daß sie bei dieser Hitze lieber in ihrem Garten geblieben oder zum Schwimmen gegangen waren? Selbst Gel-sons Supermarkt, den er von seinem Platz aus sehen konnte, war wie ausgestorben. Die Sonne würde erst in zwei Stunden untergehen; dies war die heißeste Zeit des Tages. Er hob den Kopf, als er von draußen Geräusche hörte. Ja, jemand rüttelte am Türknauf. Als es danach klopfte, ging er ins Wartezimmer hinaus. Er konnte hören, wie im Hausflur jemand davonging.
Er öffnete die Tür und schaute hinaus. Überrascht sah er Mary Ann McFarland bei den Aufzügen stehen.
»Mary?« rief er.
Sie drehte sich um. Als sie ihn sah, lächelte sie entschuldigend und kam auf ihn zu.
»Hallo, Dr. Wade. Ich dachte, Sie wären schon gegangen. Die Tür zur Praxis war abgeschlossen.«
»Ja, die Praxis ist auch schon geschlossen. Wolltest du zu mir?«
Sie blieb unschlüssig stehen.
»Komm doch herein, wenn du möchtest.« Er trat zurück und hielt ihr die Tür auf.
Als sie, immer noch zögernd, an ihm vorüberging, sah er, daß ihre Augen rot und verschwollen waren. Sie sah auch nicht so gepflegt und adrett aus wie die vergangenen Male, als sie bei ihm gewesen war. Ihr Haar war so zerzaust, als sei sie gerade aus dem Bett gekommen, die Bluse hing ihr hinten aus dem Rock.
Er ging ihr voraus in sein Sprechzimmer und setzte sich. Mary blieb stehen, ohne ein Wort zu sagen.
»Wie bist du denn hergekommen, Mary?« fragte Jonas Wade, um dem Mädchen seine Befangenheit zu nehmen.
»Mit dem Rad.«
»Bei dieser Hitze?«
Sie hob den Kopf zu den großen Fenstern und sah blinzelnd in die dunstige gelbe Sonne. »Ja, es ist wirklich ziemlich heiß
.«
»Setz dich doch, Mary.«
Sie kauerte sich auf die Sesselkante, als wolle sie jeden Moment wieder aufspringen und davonlaufen.
»Möchtest du etwas Kaltes trinken?« fragte er, während er das unruhige Spiel ihrer Hände beobachtete. »Ich glaube, wir haben eine Cola draußen im Kühlschrank.«
»Nein, danke.« Sie hielt den Kopf gesenkt.
»Was kann ich für dich tun, Mary?«
Sie zupfte an ihrem Rock. »Ich wollte mit jemandem reden.«
»Okay.«
Langsam hob sie den Kopf und sah ihn an. Sein Gesicht war
ernst, aber sein Blick machte ihr Mut.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hergekommen bin. Ich wollte nur weg.«
»Weg von wo?«
»Von zu Hause.«
»Warum?«
Sie senkte wieder den Kopf. »Ich hätte wahrscheinlich lieber zu Pater Crispin gehen sollen, aber manchmal ist er nicht in der Kirche. Er ist ziemlich viel unterwegs, wissen Sie, in Krankenhäusern und so. Aber ich wußte, daß Sie da sein würden, Dr. Wade, weil ja Mittwoch ist, und - na ja, letzten Mittwoch . . .«
»Ja, ich weiß.«
Mary sah ihn an. »Dr. Wade, bitte sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist. Sagen Sie mir, daß es nicht stimmt, was sie sagen.«
»Wen meinst du mit >sie<, Mary?«
»Dr. Evans und meine Eltern. Meine Mutter ist mit mir zu ihm gegangen, er ist Gynäkologe, und er sagte, daß ich ein Kind bekomme.«
»Ach, so.«
»Und meine Mutter war ganz außer sich.« Die Worte kamen jetzt in einem Schwall. Mary strömten die Tränen über das Gesicht. »Ich hab sie noch nie so gesehen. Und mein Vater ist genauso. Er glaubt, ich hätte es mit Mike getan. Aber ich hab es überhaupt noch nie getan, Dr. Wade. Ich weiß, daß es unrecht ist und daß man es erst tun soll, wenn man verheiratet ist, weil es sonst eine Sünde ist. Aber ich weiß nicht, warum sie mir nicht glauben. Ich sage doch die Wahrheit!«
Jonas Wade lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich kenne Dr. Evans, Mary. Er ist ein ausgezeichneter Arzt.«
»Aber er täuscht sich.«
»Mary.« Jonas Wade stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. Er setzte sich in den Sessel neben Mary und beugte sich zu ihr. »Mary, du bist ein intelligentes Mädchen. Du bist in der Schule bestimmt sehr gut.«
»Ja. Ich bin in der Begabtenklasse.«
»Na bitte! Du hast Biologieunterricht. Du mußt doch wissen, daß das, was du behauptest, unmöglich ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Gerade weil ich Biologie habe, weiß ich ja, daß das, was Sie und Dr. Evans sagen, unmöglich ist.«
Jonas Wade ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. »Mary, was weißt du über Verhütung?«
»Ich weiß, daß es unrecht ist zu verhüten.«
»Ich verstehe.« Er lehnte sich zurück und bedachte seine nächsten Worte. »Du gehst regelmäßig zur Kirche?«
»Ja.«
»Das dachte ich mir. Und du gehörst zur Katholischen Jugend?«
»Ja.«
Jonas Wade nickte langsam und nachdenklich. Den Blick auf Marys Gesicht gerichtet, versuchte er zu erkennen, was hinter den beinahe noch kindlichen Zügen vorging, die jetzt Verwirrung und Schmerz ausdrückten, versuchte, in den Tiefen der blauen Augen den Schatten eines Gedankens zu erhaschen. Aber alles, was er entdeckte, war die arglose Ehrlichkeit der Unschuldigen, die ungeheuchelte Verwirrung der fälschlich Beschuldigten. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn innehalten ließ. Es kam ihm der Gedanke, daß dieses Mädchen vielleicht die Wahrheit sagte.
Eine Erinnerung wurde wach. Er blickte in das unschuldige junge Gesicht des Mädchens und entsann sich eines Berichts, den er vor noch nicht langer Zeit gelesen hatte - von einer ledigen Mutter in England, die mit ihrer Behauptung, unberührt gewesen zu sein, großes Aufsehen erregt hatte ...
»Mary«, sagte er schließlich, »wissen deine Eltern, daß du hier bist?«
»Nein. Ich wußte ja selbst nicht, daß ich hierher kommen würde. Ich bin einfach aus dem Haus gerannt, hab mein Fahrrad gepackt und bin so weit geradelt, wie ich konnte. Ich weiß nicht, warum ich zu Ihnen gekommen bin. Wahrscheinlich muß ich einfach mit jemandem reden, und ich wußte sonst niemanden .«
»Ich muß deine Eltern anrufen, Mary.«
Sie seufzte. »Ich weiß.« Sie drehte den Kopf und sah durch das Fenster wieder zum dunstigen gelben Himmel hinaus, während Jonas Wade die Telefonnummer ihrer Eltern wählte.
Er lebte in einem großen Bungalow im besseren Teil von Woodland Hills in einer von Eukalyptusbäumen beschatteten Straße, wo stattliche Villen weit zurückgesetzt in großen Gärten standen. Das Haus war ein weiträumiger Bau im typischen kalifornischen Ranch-Stil mit großen Panoramafenstern, die vorn auf einen gepflegten Vorgarten hinausblickten und hinten auf Rasenflächen unter Avocado- und Orangenbäumen und ein großes Schwimmbecken.
Einen Tequila-Sunrise in der Hand, von dem er hin und wieder trank, stand Jonas Wade am Fenster des Wohnzimmers und beobachtete eine Gruppe junger Leute, die sich draußen am Schwimmbecken tummelte. Aus der Küche zogen die Düfte des Abendessens herein, und ab und zu konnte er durch das Glas das Kreischen der jungen Leute hören, die sich gegenseitig ins Wasser stießen.
Aber das alles nahm er nur am Rande wahr. Seit er Mary Ann McFarland ihren erregten Eltern übergeben hatte, wollte ihm das Mädchen nicht mehr aus dem Sinn. Er hatte ähnliche Szenen schon mehrmals im Lauf seiner ärztlichen Praxis erlebt: verzweifelte junge Dinger und aufgeregte Eltern. Doch diesmal war es ein wenig anders gewesen - zwar war Mary Ann verzweifelt gewesen, doch sie hatte nicht aufgehört, ihre Unschuld zu beteuern.
Während Jonas Wade geistesabwesend dem ausgelassenen Treiben seiner beiden Kinder mit ihren Freunden zusah, meldete sich wieder die Erinnerung an den Bericht, der ihm am Ende seines Gesprächs mit der kleinen McFarland plötzlich eingefallen war. Wo hatte er ihn nur gelesen? Und wann? Er hatte ihn damals nur flüchtig überflogen und sogleich wieder vergessen. Nur die Ähnlichkeit der jetzigen Situation mit der geschilderten hatte die Erinnerung wachgerufen. In England. Eine Ärztin, die den Beteuerungen der Frau geglaubt hatte, hatte sich mit dem Fall befaßt. Hatte Untersuchungen angestellt, die interessante Daten zutage gefördert hatten. Aber wie hatte der Befund schließlich ausgesehen?
Penny eilte ins Wohnzimmer. Er hörte das Klappern ihrer Absätze auf dem Parkettboden und sah sie, als sie an ihm vorbeilief - klein, zierlich und beweglich, in Shorts und einem trägerlosen Oberteil, das schwarze Haar noch in dicken Wicklern.
»Das Essen ist in zehn Minuten fertig«, rief sie ihm zu. »Ruf die Kinder rein, ja?«
Jonas trank den letzten Schluck seines Cocktails und ging zur Terrassentür. Die drückende Hitze schlug ihm ins Gesicht, als er sie aufzog, und die Gerüche von jungen Eukalyptusblät-tern, faulenden Früchten, welkem Gras und Staub stieg ihm in die Nase. Einen Moment tat es ihm leid, die jungen Leute vom heiteren Spiel in Sonne und Wasser wegholen und in das von der Klimaanlage kalte Haus rufen zu müssen. Er betrachtete die schlanken, braungebrannten Körper, die in der Sonne glänzten; zwei Mädchen und zwei junge Männer, sprühend vor Lebenslust.
»Hallo, Kinder!« rief er laut.
Sie verstummten und drehten sich nach ihm um; die achtzehnjährige Cortney, zum Sprung bereit auf dem Drei-MeterBrett; ihre Freundin Sarah Long, die am Beckenrand saß; der neunzehnjährige Brad und sein Freund Tom im Wasser.
»Das Essen ist gleich fertig. Zieht euch was an!«
Er kehrte ins Haus zurück, hörte das Klatschen des Wassers, als Cortney hineinsprang, dann lautes Gelächter. Er zog die Tür hinter sich zu und ging zur Bar, um sich noch einen Drink zu machen. Lächelnd nickte er der geschäftig vorbeieilenden Carmelita zu; sie war eine gute Haushälterin, auch wenn sie kaum ein Wort englisch sprach. Sie war fleißig und immer freundlich. Und einmal in der Woche servierte sie den Wades enchiladas und tostadas, wie sie nur südlich der Grenze zu bekommen waren.
Mit dem Glas in der Hand ging er zu seinem Arbeitszimmer. Drinnen blieb er unschlüssig stehen. Er wußte gar nicht, was er hier wollte. Sein Blick fiel auf die nagelneue Urkunde, die auf seinem Schreibtisch lag; eine große Ehre, auf ein weiteres Jahr zum Präsidenten der Galen-Gesellschaft gewählt worden zu sein. Als er die Urkunde am vergangenen Samstag erhalten hatte, auf der Junisitzung der elitären Vereinigung, die insgesamt nur zwanzig Mitglieder hatte, war er sehr stolz gewesen und im ersten Moment sprachlos vor Freude. Aber schon einen Tag später war das Hochgefühl stark abgeflaut. Schließlich war er eines der Gründungsmitglieder der GalenGesellschaft, er hatte angeregt, die Mitgliederzahl auf zwanzig zu beschränken und nur die angesehensten Ärzte aufzunehmen. Na schön, dann hatten sie ihn eben wieder zum Präsidenten gewählt - aber war das so umwerfend?
Jonas hörte nur mit halbem Ohr das Geschrei der jungen Leute, die jetzt vom Garten ins Haus stürmten. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Zeitschrift er über diesen Fall in England gelesen hatte. Er trat zu dem breiten Wandregal und musterte erst die Bücher, dann die Stapel von Fachzeitschriften, und während er jeden einzelnen Titel las, öffnete sich eine Tür in seinem Gedächtnis, und ein paar zusätzliche Details aus dem Artikel, von dem er nicht mehr wußte, wo und wann er erschienen war, drängten hervor.
In London. Eine unverheiratete Frau brachte eine Tochter zur Welt. Sie schwor Stein und Bein, niemals mit einem Mann zusammengewesen zu sein. Ihre Ärzte lachten sie aus. Aber eine Genetikerin - wie hieß sie nur? - hatte den Fall aufgegriffen. Hatte an dem Kind verschiedene Untersuchungen vorgenommen. Hautverpflanzungen. Einige primitive und zuverlässige Chromosomentests. Und der Befund -
Jonas schloß die Augen. Wie hatte der Befund ausgesehen?
»Jonas?«
Er fuhr herum.
Penny stand lächelnd an der Tür, das Haar jetzt ausgekämmt und perfekt toupiert. »Das Essen steht auf dem Tisch.« Und schon war sie wieder verschwunden.
Jonas blieb noch einen Moment vor dem Bücherregal stehen, dann griff er zum Telefon auf seinem Schreibtisch. Es war die Frage, ob Bernie überhaupt zu Hause war.
Bernie war zu Hause gewesen und hatte versprochen, nach dem Essen vorbeizukommen. Auch bei Steak und Avocadosalat ging Jonas die kleine McFarland nicht aus dem Kopf. Nachdem er seinen Freund angerufen hatte, einen Genetiker an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, hatte er noch einmal versucht, sich zu erinnern, wo er den Artikel über den Fall in England gelesen hatte und war dann sehr zerstreut zu Tisch gegangen.
Um das Tischgespräch brauchte er sich nicht zu kümmern. Seine Kinder und ihre beiden Freunde sorgten mit einer Diskussion darüber, welchen Film man sich am Abend ansehen sollte, für Unterhaltung und Lebhaftigkeit.
Als Carmelita die gezuckerten Erdbeeren auftrug, riß Jonas sich aus seinen Gedanken und bemühte sich bewußt, seiner Umgebung etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Liebevoll betrachtete er Cortney, jugendliches Abbild ihrer Mutter. Er verglich sich mit Ted McFarland, der vor wenigen Stunden aschgrau und niedergeschlagen in seiner Praxis gesessen hatte, und dankte seinem Schöpfer, daß sie mit Cortney niemals ernste Schwierigkeiten gehabt hatten. Vor drei Jahren, als sie fünfzehn gewesen war, hatte sie eine kurze Phase der Rebellion durchgemacht und war mit einer Clique ziemlich übler Altersgenossen herumgezogen. Lederjacken, aufgemotzte alte Autos, dröhnende Musik und freche Widerreden. Aber Jonas hatte sie kurzerhand die Schule wechseln lassen, und das hatte gewirkt. Jetzt studierte sie Theaterwissenschaften und brachte die besten Noten nach Hause. Nicht mehr lange, dann würde sie heiraten - einen netten jungen Mann wie Brads Freund Tom, der Betriebswirtschaft studierte und ganz sicher seinen Weg machen würde und der unverkennbar in Cortney verliebt war. Und Brad würde zielstrebig sein Jurastudium beenden, eine Anwaltskanzlei aufmachen, eine Frau wie Cortney heiraten und sich hier im San Fernando Tal niederlassen. Jonas und Penny würden endlich das Haus für sich haben, und das Leben würde in Ruhe und Behaglichkeit seinen Lauf nehmen.
Jonas starrte auf seine Erdbeeren hinunter. Seinen langweiligen Lauf, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren.
Bernie kam, als Carmelita das Geschirr spülte und Penny sich zurückgezogen hatte. Die jungen Leute waren schon abgefahren. Jonas und sein Freund konnten ungestört und in Ruhe reden.
Nachdem Jonas zwei Drinks gemacht hatte, setzten sich die beiden Männer in sein Arbeitszimmer mit den bequemen Ledersesseln, und Jonas kam ohne Umschweife zur Sache.
Bernie Schwartz, Genetiker an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, ein untersetzter Mann von scharfer Intelligenz, hörte sich den Bericht seines Freundes mit wachem Interesse an. Jonas und Bernie verband nicht nur die alte Freundschaft aus der Studienzeit; sie fühlten sich vor allem durch ihr Interesse an der Wissenschaft und dem Vergnügen an einer guten Debatte miteinander verbunden. Vor einigen Jahren hatte Jonas sich nach Kräften bemüht, den Freund in die Galen-Gesellschaft hineinzubringen, doch das Gründungsgesetz, an dem er selbst mitgewirkt hatte und das bestimmte, daß nur praktizierende Ärzte in die Vereinigung aufgenommen werden sollten, hatte das verhindert. Aus diesem Grund hielten sie wöchentlich bei ein paar Drinks ihre privaten kleinen Diskussionen über wissenschaftliche Themen, die ihnen am Herzen lagen.
Als Jonas nun seinen kurzen Bericht über Mary McFarland mit der Frage abschloß, was Bernie von der Sache halte, erwiderte dieser: »Ich? Meine Meinung willst du wissen? Du bist doch der Arzt, Jonas. Ich bin nur ein kleiner Feld-Wald-und-Wiesen-Genetiker.«
»Sag mir trotzdem deine Meinung.«
»Okay, entweder sie lügt, um den Knaben zu schützen, oder sie hat die Geschichte wirklich vergessen. Ich würde sagen, schick sie zum Psychiater.«
Jonas schwieg einen Moment, dann sagte er unvermittelt: »Bernie, was kannst du mir über Parthenogenese sagen?«
»Parthenogenese? Jungfernzeugung? Fortpflanzung durch eine Eizelle, die nicht durch einen männlichen Samen befruchtet worden ist. Warum fragst du?«
»Ich weiß, was das Wort bedeutet, Bernie. Ich wollte von dir wissen, wo und wie dieses Phänomen in der Natur vorkommt.«
»Du meinst wohl bei Tieren im Gegensatz zu Pflanzen. Hm .« Er zog die fleischigen, breiten Schultern hoch. »Soweit ich mich erinnere, kommt es bei manchen niederen Tieren vor, bei Guppies zum Beispiel, und dann gibt's noch eine Eidechsenart, die rein weiblich ist und sich auf dem Weg der Parthenogenese fortpflanzt. Möglicherweise gibt's auch bestimmte Frösche .«
»Wie sieht's bei höheren Tieren aus?«
»Laß mich überlegen. Soviel ich weiß, gibt's eine bestimmte Art Truthühner, wo Parthenogenese künstlich herbeigeführt wird. Zu Zuchtzwecken, glaube ich -«
»Künstliche Parthenogenese interessiert mich nicht, Bernie, ich rede von spontaner Parthenogenese.«
»Die gibt's nur bei den niederen Tieren, Jonas.«
»Nicht bei Säugetieren?«
»Nein, ich hab jedenfalls nie davon gehört, daß sie da spontan auftritt.« Er riß plötzlich die kleinen dunklen Augen auf.
»Moment mal, du glaubst doch nicht etwa, daß dieses Mädchen -«
»Ich habe irgendwo mal was von Experimenten mit vaterlosen Mäusen gehört oder gelesen. Weißt du darüber was?«
»Vaterlose Mäuse ...« Bernie krauste die Stirn. »Das liegt einige Zeit zurück, Jonas. Außerdem war's da nicht spontan, sondern künstlich, im Labor erzeugt.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Die Parthenogenese bei Säugetieren ist ein Thema, das hin und wieder mal angerührt wird, ohne daß man ihm ernste Beachtung schenkt. Herrgott, wo hab ich da nur neulich was gelesen? In einer meiner Zeitschriften - es ging da um eine bestimmte Art von Truthühnern .«
»Dann erzähl mir von den Truthühnern.«
»Warte, da muß ich erst mal überlegen. Es war in Maryland, in einem Ort namens Beltville. Ein Truthahnzüchter bemerkte, daß in einer großen Zahl unbefruchteter Eier ganz von selbst embryonisches Wachstum begann. Bei vielen hörte die Entwicklung allerdings auf, ehe das Embryo voll ausgebildet war, aber ich glaube, bei jedem sechsten Ei kam es zur völligen Reifung, und es schlüpfte eine Truthenne aus. Danach experimentierte man herum, indem man die parthenogenetischen Truthennen - also die, die aus unbefruchteten Eiern entstanden waren - mit Hähnen paarte, deren weibliche Sprößlinge parthenogenetische Eier hervorgebracht hatten. Und bald hatten die Züchter Tiere, die Eier legten, die nicht mehr befruchtet werden mußten.«
»Mir ist schleierhaft, wie das möglich sein soll.«
Bernie zuckte die Achseln. »Soviel ich weiß, hatten sämtliche parthenogenetische Tiere in ihren Körperzellen den doppelten Chromosomensatz.«
»Wie kann das sein?«
»Offenbar haben sich die Chromosomen des unbefruchteten Eis einfach verdoppelt.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Weiß man, wodurch die Entwicklung eines Embryos ohne Befruchtung hervorgerufen wurde?«
Bernie überlegte einen Moment. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Aber ich glaube, sie sind nicht dahintergekommen, wie das geschah.« Er trank den Rest seines Whiskys aus. »Es gibt auf diesem Gebiet kaum Daten, Jonas. Frag den Mann auf der Straße, und er wird dir nicht mal sagen können, was man unter Parthenogenese versteht. Vor ein paar Jahren gab es ziemlich Wirbel durch diese Spurway-Geschichte, und ein paar Monate lang schauten sämtliche Genetiker der Welt gespannt nach London, aber inzwischen hat sich das alles wieder gelegt.«
Jonas schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Genau! Das ist es! Spurway! Dr. Helen Spurway.« Er sprang auf und ging zum Bücherregal. »Über die Frau hab ich doch was gelesen . . .«
»Das ist acht Jahre her, Jonas. Das war neunzehnhundertfünfundfünfzig.«
»Verdammt.« Jonas trommelte mit den Fingern auf einen Stapel medizinischer Fachzeitschriften, während er im Geist die Termine für den nächsten Tag durchging. Sprechstunde von 10 bis 12, nachmittags keine Patienten. Da konnte er sich in die Bibliothek der medizinischen Fakultät an der Uni setzen.
»Jonas«, sagte Bernie ruhig. »Möchtest du immer noch meine Meinung hören?«
»Natürlich.«
»Schick sie zum Psychiater.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte Jonas seufzend.
»Ich habe das heute nachmittag schon ihren Eltern empfohlen, die allerdings nicht gerade begeistert waren. Die Mutter ist der Überzeugung, daß sie bei ihrem Priester am besten aufgehoben sind.«
»O wei!«
»Ich weiß gar nicht, ob sie da so unrecht hat, Bernie. Wie dem auch sei, wenn sie mich noch einmal um meine Meinung fragen, werde ich auf psychiatrische Behandlung dringen. Und inzwischen werd ich mal festzustellen versuchen, was es mit diesen Truthühnern auf sich hat.«