Jetzt hätte er eigentlich schon dort sein müssen. Er wünschte, er wäre es.
Ted McFarland, der mit einem doppelten Scotch im Wohnzimmer saß und auf den toten Bildschirm des Fernsehapparats starrte, wünschte aus tiefstem Herzen, dies könnte ein normaler Mittwoch sein. Sein Trainingsabend. Gerade jetzt hätte er die Entspannung dringend gebraucht.
Aber er konnte natürlich nicht weggehen. Nicht unter diesen Umständen. Jemand mußte gewissermaßen die Festung halten; jemand mußte stark sein, sich wenigstens stark zeigen.
Aber wer brauchte ihn denn überhaupt?
Amy war im Firmunterricht, Mary hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sprach mit niemandem, und Lucille ...
Aus dem Nebenzimmer hörte Ted ab und zu das Klirren der Whiskyflasche, wenn sie ihr Glas neu füllte.
Lucilles anfänglicher Zorn auf Mary war zu Bekümmerung und dann zu Enttäuschung dahingeschmolzen; jetzt suchte sie verzweifelt einen Weg, um wieder Zugang zu ihrer Tochter zu finden, um von ihr zu erfahren, was sie tun wollte, um zu fragen, warum sie das getan hatte, die ganze Familie enttäuscht und blamiert hatte. Aber Ted wußte, womit Lucille sich in Wirklichkeit herumschlug: mit plötzlichen schmerzlichen Erinnerungen an die Vergangenheit.
Gegen einen überstürzten Besuch bei Pater Crispin, wie Lucille ihn gewollt hatte, nachdem sie Dr. Wades Praxis verlassen hatten, hatte er sein Veto eingelegt. Ein solches Gespräch war seiner Meinung nach verfrüht und hätte zu nichts geführt. Zumal Lucille getrunken hatte. Und Mary war im Augenblick nur verstockt, nicht bereit, mit irgendeinem Menschen offen zu sprechen. Aber morgen, ja, morgen ganz bestimmt. Pater Crispin würde wissen, was zu tun war.
Ted McFarland liebte seine älteste Tochter abgöttisch. Der Grund für diese beinahe krankhafte Liebe war kein Geheimnis: Ted, der seine Mutter nie gekannt hatte und in einem Jungenheim aufgewachsen war, hatte das Weibliche in seiner Umgebung heftig vermißt und immer von einer Schwester oder einer Tochter geträumt. Als Lucille in den Wehen gelegen hatte, hatte Ted in der Kirche gekniet und um eine Tochter gebetet.
Auch über Amys Geburt war er glücklich gewesen, aber Mary war die Erstgeborene, Mary war sein ganzer Stolz, der Sinn seines Lebens. Ihre grazile junge Schönheit entzückte ihn, und er hatte es nie wie andere Väter bedauert, sie vom Kind zur jungen Frau heranwachsen zu sehen.
Aber jetzt - er starrte blind vor sich hin -, das war viel zu schnell gegangen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, sie schwanger zu sehen, den jungen schönen Körper aufgeschwollen im formlosen Umstandskleid. Nichts würde bleiben von ihrer Anmut und Geschmeidigkeit. Es war wie die Schändung eines Tempels, häßlich und gemein. Ted krümmte sich plötzlich zusammen und drückte die Arme in seinen Magen, als hätte er einen Tritt erhalten.
Mary, Mary, schrie es qualvoll in ihm. Meine schöne Mary. Was habe ich falsch gemacht?
Sie stand vor dem hohen Spiegel, der an der Innenseite der Schranktür angebracht war, und betrachtete ihren nackten Körper. Im weichen Licht der Schreibtischlampe, die sie auf sich gerichtet hatte, starrte sie wie gebannt in den Spiegel.
Es war das erste Mal, daß sie ihren nackten Körper bewußt wahrnahm. Im Badezimmer, wenn sie duschte oder ein Bad nahm, erhaschte sie immer nur einen flüchtigen Blick auf ihre nackten Schultern im beschlagenen Glas; und wenn sie sich hier in ihrem Zimmer an- oder auskleidete, wandte sie dem Spiegel unwillkürlich stets den Rücken zu. Sie hatte kaum je eine nackte Frau zu Gesicht bekommen. Ihre Mutter hatte ihr eigenes Bad und Ankleidezimmer neben dem elterlichen Schlafzimmer, und wenn Amy das Bad benützte, das sie sich mit ihrer Schwester teilte, sperrte sie immer ab.
Fasziniert stand sie jetzt vor dem Spiegel und musterte kühn ihre nackte Gestalt. Sie war verlegen dabei, schämte sich, hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun; sie fühlte sich unbehaglich unter der Musterung ihrer eigenen Blicke.
Aber sie mußte hinsehen, sie mußte es wissen. War wirklich etwas verändert?
Die Schultern waren dieselben, gerade und kantig, wie die einer Schwimmerin; die Arme langgliedrig und kraftvoll; die
Hüften sanft gerundet unter der schmalen Taille; die Schenkel nicht zu fleischig - fest und straff; die langen Beine glatt und wohlgeformt. Die Haut war leicht gebräunt; nirgends ein Makel; matt glänzend im Spiel von Licht und Dunkel.
Ihr Blick blieb auf ihren Brüsten haften. Sie starrte auf die Brustwarzen. Sie erschienen ihr dunkler, ein wenig größer als vorher. Und die Brüste selbst - war es ihre Einbildung, oder waren sie tatsächlich größer geworden?
Zögernd hob Mary eine Hand, umschloß behutsam eine Brust und drückte leicht. Es tat weh.
Sie senkte den Arm wieder, konnte sich aber noch immer nicht vom Spiegel abwenden. Sie hatte das Gefühl, eine fremde Frau zu betrachten, mit ihrem forschenden Blick das Schamgefühl dieser Frau zu verletzen. Gleichzeitig aber fühlte sie sich so distanziert und unpersönlich, als inspiziere sie ein Standbild.
Aus dem Flur hörte sie gedämpfte Schritte und hielt einen Moment den Atem an, um zu lauschen. Vor ihrer Zimmertür hielten die Schritte an, aber nur einen Moment. Dann verklangen sie in Richtung zum Schlafzimmer der Eltern.
Mary atmete auf und setzte die Erkundung ihres Körpers fort. Als ihr Blick ihren Bauch erreichte, hob sie beide Hände und legte sie auf die kühle Haut unterhalb ihres Nabels. Sie drückte leicht, als wolle sie ergründen, was unter der Trennwand aus Fleisch und Muskeln verborgen war. Ihr Bauch war flach und straff. Aber was hatte Dr. Wade gesagt? »Es wird bald zu sehen sein ...«
Sie runzelte die Stirn. Was würde zu sehen sein? Unter ihren Händen lag ein Geheimnis, und gleich, welcher Art es war, Mary hätte damit am liebsten nichts zu tun gehabt. Dr. Wade mußte sich getäuscht haben. Nichts wuchs da in ihrem Bauch.
Sie senkte die Hände und richtete ihren Blick auf ihr Gesicht. Was ging mit ihr vor? Woher kam die morgendliche Übelkeit? Woher das unerklärliche Anschwellen ihrer Brüste? Zwei Ärzte behaupteten, eine Schwangerschaft sei die Ursache, aber Mary wußte, daß das unmöglich war.
Sie bemühte sich, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über solche Dinge wußte. Vielleicht sollte sie einmal mit Germaine reden. Germaine hatte Erfahrung; ihr Freund, der Student, war zwanzig und hatte Germaine Liberalität gelehrt; sie redeten dauernd von Revolution und freier Liebe. Aber Mary hatte Schwierigkeit, mit anderen über Sexualität oder die eigene Körperlichkeit zu sprechen. So nahe sie und Germaine einander standen, so viele Geheimnisse sie miteinander teilten, diese Themen waren stillschweigend tabuisiert worden zwischen ihnen.
Darum suchte Mary jetzt in ihrem eigenen begrenzten Wissen nach der wahren Ursache dessen, was mit ihr vorging. Und etwas fiel ihr ein. Ihre Periode. Wann hatte sie das letz-temal ihre Periode gehabt? Es war lange her ...
Neue Schritte im Flur lenkten Mary ab. Dann hörte sie die Stimmen ihrer Eltern.
»Du meinst, wir sollten zu einem Psychiater gehen?« fragte Lucille, die, den Kopf in die Hand gestützt, an ihrem Toilettentisch saß. »Ich weiß nicht, Ted. Davon halte ich nicht viel.«
»Ich denke, es wäre zu ihrem Besten«, sagte Ted müde.
Lucille starrte in den Spiegel über dem Toilettentisch und sah eine Fremde darin. »Weißt du, woran mich das erinnert, Ted?« fragte sie leise, eigentlich mehr zu sich selbst sprechend als zu ihrem Mann. »An Rosemary Franchimoni.«
»Lucille, laß das jetzt -«
»Ich habe lange mit Rosemary Franchimoni gesprochen«, fuhr sie fort. »Kurz vor ihrem Tod - du weißt doch, im Krankenhaus. Und sie sagte mir, daß sie das Kind von Anfang an nicht haben wollte. Ted, sie wollte das Kind überhaupt nicht. Sie sagte mir, sie hätte Angst, weil der Arzt ihr dringend von einer weiteren Schwangerschaft abgeraten hatte.«
Lucille beobachtete die Bewegungen ihrer Lippen. Hinter ihr stand Ted reglos in der Mitte des Zimmers.
»Es war gemein, Ted. Ungerecht. Kein Mensch hat Rosemary Franchimoni gefragt, was sie wollte ...« Lucille schluckte. »Es ist nicht Marys Schuld, Ted. Es ist die Schuld des Jungen. Ich weiß doch, wie Männer einen zwingen, indem sie behaupten, es sei ihr gutes Recht. Und Frauen müssen ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, ich hab damit heute keine Probleme mehr. Ich kann eigentlich von Glück sagen. Mir kann nichts passieren, seit ich operiert bin -«
»Lucille, bitte -«
»Aber was wäre, wenn ich nicht operiert worden wäre? Was wäre, wenn dauernd die Gefahr einer Schwangerschaft über uns hinge? Und wenn ich dann vielleicht daran sterben würde.« Im Spiegel trafen sich ihre Blicke. »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Lucille beinahe kalt.
Er sah sie nur stumm an.
Sie stand auf und drehte sich um. »Du mußt jemanden suchen, Ted. Du mußt deiner Tochter diese Schande ersparen.«
Er brauchte einen Moment, ehe er begriff, was sie meinte. Ungläubig starrte er sie an. »Was hast du da gesagt?«
»Du weißt genau, was ich gesagt habe. Du mußt jemanden ausfindig machen, zu dem Mary gehen kann. Damit sie dieses
- dieses Ding los wird.«
»Nein. Das tue ich nicht!«
»Du mußt. Du kannst doch nicht tatenlos zuschauen, wie sie sich ihr Leben verpfuscht. Du mußt deine Tochter schützen, Ted. Such jemanden und geh mit ihr hin.«
»Aber das kann ich nicht. Ich meine -« Er wandte sich von ihr ab und sah sich um, als suche er einen Fluchtweg. »Ich hab doch keine Ahnung von diesen Dingen. Ich habe nie von so einer Person gehört. Ich wußte gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Dann sag Nathan Holland, er soll sich drum kümmern. Wir wissen beide, daß sein Sohn ihr das angetan hat.«
»Nathan .« Ted rieb sich die Stirn.
»Geh zu ihm und rede mit ihm. Sag ihm, daß er verantwortlich ist. Sag ihm, was sein Sohn unserer Tochter angetan hat. Ted!« Lucille wurde lauter. »Sie soll nicht mit dieser gräßlichen Belastung durchs Leben gehen müssen. Dieses Ding muß verschwinden. Weg damit!«
»Mein Gott -«
»Ted, du mußt es für mich tun. Für uns!« Sie streckte den Arm nach ihm aus, aber er wich zurück. »Ich werde nicht zulassen, daß sie diese Schande ertragen muß. Diese Qual. Sie soll das nicht erfahren. Du bist ihr Vater, Ted. Tu etwas!«
Er drehte sich langsam um und sah sie mit tiefer Trauer an. Dann nickte er. »Nathan. Ja ... Er muß es erfahren ...« Mehr wußte er nicht zu sagen.
Den nackten Rücken an ihre Zimmertür gepreßt, starrte Mary mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit um sich herum. Sie hatte jedes Wort des Gesprächs im Schlafzimmer ihrer Eltern gehört. Wie gejagt stürzte sie zu ihrem Schreibtisch und riß eine Schublade auf, nahm ihr altes Tagebuch heraus und trug es ins Licht. Sie hatte schon seit Jahren nichts mehr hineingeschrieben, weil sie es eines Tages kindisch gefunden hatte.
Jetzt setzte sie sich an ihrem Schreibtisch nieder und blätterte durch die Seiten, auf denen sie fast zwei Jahre lang tägliche Begebenheiten, ihre Schwärmereien, Wünsche und Träume als Zwölf- und Dreizehnjährige aufgeschrieben hatte, bis zum letzten beschriebenen Blatt.
Auf die leere Seite, die darauf folgte, schrieb sie: »Ich bin unberührt, und keiner glaubt mir. Am liebsten möchte ich sterben.«