Hüte Dich vor dem Heiden und vor dem böswilligen Juden, der den Inhalt dieser Tonkrüge zu zerstören trachtet, denn der Fluch Mose wird über ihn kommen, und er wird verflucht sein in der Stadt und auf dem Land, und verflucht wird sein die Frucht seines Leibes und die seiner Felder. Und der Herr wird ihn mit einer schlimmen Feuersbrunst heimsuchen, ihn mit Wahnsinn und Blindheit schlagen und ihn für immer und ewig mit Grind und Krätze verfolgen.
Was ist das? Benjamin Messer wunderte sich. Ein Fluch? Verblüfft hielt er im Lesen der Papyrusrolle inne.
Zerstreut kratzte er sich den Kopf, während er die altertümliche Handschrift überflog. Ist es möglich? dachte er abermals verwirrt. Ein Fluch?
Diese Textstelle in dem Papyrus hatte Ben so sehr überrascht, daß er einen Augenblick überlegte, ob er sie nicht doch falsch verstand. Aber nein… Die Schrift war klar genug. Kein Zweifel. Der Fluch Mose wird über ihn kommen.
Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Verblüffung über das, was er da eben gelesen hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Während er auf die zweitausend Jahre alte Handschrift starrte, die im grellen Licht seiner starken Speziallampe vor ihm auf dem Schreibtisch lag, ließ der junge Schriftenkundler noch einmal die Ereignisse dieses Abends in seinem Gedächtnis vorbeiziehen: Am späten Nachmittag war unerwartet an seine Tür geklopft worden, und als er geöffnet hatte, stand ein Postbote in triefendnassem Regenumhang vor ihm, der ihm einen feuchten Briefumschlag mit israelischen Briefmarken darauf übergeben hatte. Ben erinnerte sich noch genau daran, wie er den Empfang der Eilzustellung quittiert hatte und mit dem Umschlag in sein Arbeitszimmer gegangen war. Dort hatte er ihn ungeduldig und voller Erwartung mit zitternden Händen geöffnet und schließlich die erste Zeile gelesen. Diese Worte waren eine solche Überraschung gewesen, daß Ben noch immer dasaß und auf den Fetzen Papyrus starrte, als sähe er ihn zum ersten Mal. Was konnte dieser Fluch wohl bedeuten? Was hatte John Weatherby ihm da geschickt? In dem Begleitschreiben war von der Entdeckung einiger antiker Schriftrollen am Ufer des Sees Genezareth die Rede gewesen.»Möglicherweise sogar eine größere Entdeckung als die Qumran-Handschriften vom Toten Meer«, hatte ihm der alte Archäologe Weatherby versichert.
Ben Messer betrachtete stirnrunzelnd das vor ihm liegende Schriftstück in aramäischer Sprache. Aber nein. Nicht die Schriftrollen von Qumran am Toten Meer. Keine biblischen Texte oder religiöse Schriften. Sondern ein Fluch. Der Fluch Mose. Die Einleitung hatte ihn überrascht. Er hatte etwas anderes erwartet. Verwirrt beugte sich Ben nun wieder vor und las weiter:
Ich bin ein Jude. Und bevor ich von diesem Leben in ein anderes hinübergehe, muß ich mein geplagtes Gewissen vor Gott und allen Menschen erleichtern. Was ich getan habe, habe ich aus freiem Willen getan. Ich behaupte nicht, ein Opfer des Schicksals oder der Umstände gewesen zu sein. Offen bekenne ich, David Ben Jona, daß ich allein dafür verantwortlich bin, was ich tat, und daß meine Nachkommen an meinen Verbrechen keine Schuld tragen. Meine Abkömmlinge sollen nicht das Schandmal der Missetaten ihres Vaters tragen. Doch ebensowenig steht es ihnen zu, über mich zu richten. Denn das ist allein die Sache Gottes. Ich habe mich durch mein eigenes Verschulden in diese unglückliche Lage gebracht. Ich muß nun von den Dingen sprechen, die ich tat. Und dann will ich endlich durch die Gnade Gottes im Vergessen Frieden finden.
Benjamin richtete sich auf und rieb sich die Augen. Das wurde ja immer interessanter. Diese letzten paar Zeilen verblüfften ihn so sehr, daß er sich abermals über den Text der Schrift beugte, um sich von der Richtigkeit seiner Übersetzung zu überzeugen. Zum einen war er überrascht davon, wie leicht er die Papyrusrollen lesen konnte. Normalerweise war das eine schwierige Aufgabe. In den vielen alten Schriften wurden Wörter abgekürzt und Vokale ausgelassen. Es handelte sich dabei ohnehin nur um Ermahnungen an jemanden, der den Inhalt sowieso schon auswendig wußte. Auf diese Weise wurde dem modernen Schriftenkundler die Übersetzung erschwert. Doch hier war dies nicht der Fall. Und die zweite Überraschung war die Erkenntnis gewesen, daß die Rolle nicht den religiösen Text enthielt, den Ben erwartet hatte.
Aber was ist es dann? dachte Ben. Er putzte seine Brille, setzte sie wieder auf und beugte sich erneut vor. Was um alles in der Welt hat John Weatherby da gefunden?
Ich habe nur noch einen weiteren Grund, all dies niederzuschreiben, bevor ich sterbe. Möge Gott der Herr sich meiner erbarmen, aber es ist von noch größerer Wichtigkeit als das Bekenntnis meiner Schuld. Ich schreibe nämlich, damit mein Sohn verstehen möge. Er soll die Tatsachen über die Vorgänge und Ereignisse kennenlernen, und er soll auch erfahren, was mich zu meinem Handeln bewog. Er wird Geschichten darüber gehört haben, was an jenem Tag geschah. Ich will, daß er jetzt die Wahrheit erfährt.
«Das ist ja nicht zu fassen!«murmelte Ben.»John Weatherby, ich glaube kaum, daß Sie wissen, was Sie da ans Tageslicht befördert haben! Bei Gott, das ist mehr als nur eine archäologische Entdeckung, mehr als nur ein paar gut erhaltene Schriftrollen für das Museum. Es sieht so aus, als würde hier eine letzte Beichte enthüllt werden. Und noch dazu eine, die mit einem Fluch behaftet ist. «Ben schüttelte den Kopf.»Das ist unglaublich.«
Folglich sind diese Worte für Deine Augen bestimmt, mein Sohn, wo immer Du auch sein magst. Meine Freunde haben mich als sehr sorgfältigen Menschen gekannt, und ich darf bei diesem meinem letzten Werk meine Natur nicht verleugnen. Diese Schriftstücke werden für Dich, mein Sohn, als Erbe bewahrt werden, denn ich habe wenig anderes, was ich Dir geben könnte. Einst hätte ich Dir ein großes Vermögen vermachen können, aber jetzt ist alles zerronnen, und in dieser schwärzesten Stunde kann ich Dir nur mein Gewissen hinterlassen. Obwohl ich weiß, daß es nicht lange währt, bis wir in Zion im Neuen Israel wieder vereint sind, muß ich dennoch bestrebt sein, diese Schriftrollen zu verbergen, als sollten sie bis in alle Ewigkeit ruhen. Ich bin sicher, Du wirst sie bald finden. Es wäre indessen ein schlimmes Unglück, sollten sie vernichtet werden, bevor Dein Auge sie erblickte. Deshalb erbitte ich den Schutz Mose, auf daß sie sicher bewahrt werden.
Den Schutz Mose? wiederholte Ben in Gedanken. Er warf erneut einen Blick auf den oberen Teil der Papyrus-Rolle, las nochmals die ersten Zeilen und erkannte darin, wenn auch in etwas anderer Form, den Fluch, der auch im Alten Testament steht. In dem Schreiben, das den Fotos der Schriftrollen beigelegt war, hatte John Weatherby die Vermutung geäußert, er und sein Team hätten allem Anschein nach einen archäologischen Fund von gewaltiger Tragweite gemacht. Doch offenbar war sich der alte Dr. Weatherby nicht genau darüber im klaren gewesen, was er da tatsächlich gefunden hatte.
Ben Messer, dessen Aufgabe es war, die Schriftrollen zu übersetzen, hatte religiöse Texte erwartet, Auszüge aus der Bibel. Wie die Qumran-Handschriften. Aber das hier? Eine Art Tagebuch? Und ein Fluch? Er war überwältigt. Was zum Teufel konnte das bloß sein?
Nun, mein Sohn, bete ich zum Gott Abrahams, auf daß er Dich zum Versteck dieses Schatzes eines armen Mannes führen möge. Ich bete von ganzem Herzen, mit all meiner Kraft und mit größerer Inbrunst, als wenn ich um seine Gnade für meine Seele betete, daß Du, mein geliebter Sohn, eines nahen Tages diese Worte lesen wirst.
Richte nicht über mich, denn das steht allein Gott zu. Denk vielmehr an mich in Deinen schweren Stunden, und erinnere Dich daran, daß ich Dich über alles liebte. Und wenn unser Herr an den Toren Jerusalems erscheint, schau in die Gesichter derer, die sich um ihn scharen, und mit Gottes Wohlwollen wirst Du das Antlitz Deines Vaters unter ihnen erblicken.
Benjamin lehnte sich überrascht zurück. Das war ganz und gar unglaublich! Mein Gott, Weatherby, Sie hatten nur zur Hälfte recht.
Wertvolle Schriftrollen, ja. Ein archäologischer Fund, der» die zivilisierte Welt erschüttern wird«, ja. Aber da ist noch etwas anderes. Ben sprang erregt auf und lief mit großen Schritten zur Fensterfront. Im Spiegelbild des Glases sah der sechsunddreißigjährige Schriftenkundler seinen hochgewachsenen, mageren Körper und seine weichen
Gesichtszüge mit der Hornbrille und dem blonden Haar. Vor ihm funkelten die hellen, blitzenden Lichter von West Los Angeles. Draußen war es schon dunkel. Der Regen hatte aufgehört, und leichter Dunst lag über der Stadt. Es war kalt geworden an diesem Novemberabend, ohne daß Ben es bemerkt hatte. Wie immer, wenn er einen alten Text übersetzte, hatte er sich in den Sätzen längst verstorbener Autoren verloren. Autor unbekannt und namenlos. Mit Ausnahme von diesem hier.
Er wandte sich langsam um und starrte eine Zeitlang auf seinen Schreibtisch. Der kreisförmige Strahl der Leselampe erhellte eine kleine Fläche, während der übrige Raum im Dunkeln lag. Mit Ausnahme von diesem hier, wiederholte er im Geiste. Wie erstaunlich, dachte er, daß man Schriftrollen gefunden hat, die kein Priester, sondern ein gewöhnlicher Mann verfaßt hatte und die nicht religiöse Aufzeichnungen, wie sonst, sondern so etwas wie einen vertraulichen Brief beinhalten. Ist es denn möglich? Hat John Weatherby tatsächlich die lange verlorenen Schriften eines einfachen Mannes gefunden, der vor zweitausend Jahren lebte? Wie wichtig ist diese Entdeckung? Sie wäre sicherlich ebenso einzustufen wie das Grab Tutenchamuns und Schliemanns Troja. Denn falls es sich hierbei wirklich um die Worte eines gewöhnlichen Bürgers handelte, der aus ganz persönlichen Gründen schrieb, dann wären diese Schriftrollen die allerersten ihrer Art in der Geschichte!
Ben ging zum Schreibtisch zurück. Dort nahm gerade seine geschmeidige schwarze Katze Poppäa Sabina seine neueste Arbeit in Augenschein. Das glänzende Foto, scharf und kontrastreich, war eines von dreien, die Ben an diesem Abend per Eilboten erhalten hatte. Es waren Aufnahmen von einer Schriftrolle, die zur Zeit unter der Schirmherrschaft der israelischen Regierung restauriert und konserviert wurde. Auf den Fotos war jeweils ein Drittel der gesamten Rolle zu sehen. Weitere Rollen sollten folgen, hatte man Ben gesagt. Und jedes Bild war eine getreue Wiedergabe des Originals. Nichts war daran verändert worden, und man hatte auch keine Verkleinerung vorgenommen. Wären die Bilder weniger glatt und glänzend gewesen, so hätte Dr. Messer tatsächlich geglaubt, die Original-Papyrusfragmente vor sich zu haben.
Er setzte sich wieder, stellte Poppäa sanft auf den Boden hinunter und übersetzte weiter.
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Gepriesen seist du, o Herr, unser Gott, König des Universums, der seines feierlichen Bundes stets eingedenk ist, seinem Bund treu bleibt und sein Versprechen hält; der den Unwürdigen Gutes tut und der auch mich mit allem Guten bedachte.
Er lächelte über das, was er da gerade übersetzt hatte: das Schema Israel, der Anfang des jüdischen Bekenntnisses und ein traditioneller Segensspruch, beides in Hebräisch: »Baruch Attah Adonai Elohenu Melech ha-Olam.« An so etwas war Ben schon eher gewöhnt. Heilige Texte, Gesetzessammlungen, Sprichwörter und Beschreibungen der Endzeit. Wer immer dieser David Ben Jona auch gewesen sein mochte, er muß ein äußerst frommer Jude gewesen sein, er hatte es nicht einmal gewagt, den Namen Gottes auszuschreiben, sondern hatte statt dessen die vier hebräischen Konsonanten JHWH benutzt. Beim nochmaligen Durchsehen seiner Übersetzung bemerkte Ben auch, daß es sich bei David Ben Jona um einen Mann von hoher Bildung handeln mußte.
Das Klingeln des Telefons schreckte Ben auf. Er warf seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch und nahm atemlos den Hörer ab.»Ben?«Es war Angies Stimme.»Bist du eben gerade nach Hause gekommen?«»Nein«, entgegnete er verschmitzt,»ich habe die ganze Zeit hier am Schreibtisch gesessen.«
«Benjamin Messer, ich bin zu hungrig, um noch Sinn für Humor zu haben. Sag mir nur eines, kommst du nun vorbei oder nicht?«
«Ob ich vorbeikomme?«Er schaute auf die Uhr.»Ach du lieber Himmel! Es ist ja schon acht!«
«Ich weiß«, erwiderte sie trocken.
«Gott, das tut mir aber leid. Da bin ich ja wohl eine halbe Stunde.«
«Eine volle Stunde zu spät«, seufzte sie spöttisch.»Mutter pflegte stets zu sagen, Schriftkundler seien niemals pünktlich.«
«Das hat deine Mutter gesagt?«
Angie lachte. Sie brachte alle nur erdenkliche Geduld auf, wenn es um ihren Verlobten Ben ging. Er war so verläßlich in allen anderen Dingen, daß es ihr leicht fiel, wegen seiner notorischen Unpünktlichkeit nachsichtig zu sein.»Arbeitest du am Kodex?«fragte sie.
«Nein«, antwortete er und runzelte die Stirn, da er sich plötzlich wieder an die Gesetzessammlung erinnerte, die er dringend übersetzen mußte. Als er Dr. Weatherbys Fotos aus Israel erhalten hatte, hatte er den ägyptischen Kodex, an dem er normalerweise gerade arbeitete, beiseite gelegt.»Etwas anderes.«
«Willst du’s mir nicht verraten?«
Er zögerte. In einem seiner Briefe hatte John Weatherby Ben gebeten, mit niemandem über sein Projekt zu reden. Es befand sich noch im streng geheimen Frühstadium, und es sollte vorerst nichts davon an die Öffentlichkeit gelangen. Weatherby wollte nicht, daß gewisse Kollegen schon jetzt davon erfuhren.
«Ich erzähl’s dir beim Abendessen. Gib mir noch zehn Minuten Zeit.«
Als er den Hörer auflegte, zuckte Ben Messer die Achseln. Angie war gewiß eine Ausnahme, ihr könnte er das Geheimnis ruhig anvertrauen.
Als er die Fotografien in den Umschlag zurückschieben wollte, hielt er von neuem inne, um das Manuskript in seiner klaren Sprache noch einmal zu bestaunen. Da lag es vor ihm in schlichtem Schwarz-Weiß. Die Stimme eines Mannes, der seit fast zwei Jahrtausenden tot war. Ein Mann, dessen Messer das Ende des Schreibrohrs angespitzt hatte, dessen Hände das vor ihm liegende Papyrus geglättet hatten, dessen Speichel den Farbstein benetzt hatte, um daraus Tinte zu machen. Hier waren seine Worte, die Gedanken, die er vor seinem Tod unbedingt noch festhalten wollte.
Eine ganze Weile stand Ben wie angewurzelt vor seinem Schreibtisch und starrte wie hypnotisiert auf die glänzenden Ablichtungen des alten Schriftstücks.
John Weatherby hatte recht. Falls noch weitere David Ben Jona-Schriftrollen gefunden würden, wäre dies eine Sensation.
«Warum?«fragte Angie, während sie ihm Wein nachschenkte. Ben antwortete nicht sofort. Geistesabwesend starrte er auf das lodernde Kaminfeuer. In dem hellen, heißen Licht sah er wieder die Handschrift David Ben Jonas vor sich, und er erinnerte sich, wie sehr es ihn am frühen Abend erstaunt hatte, zu entdecken, daß die Schriftrolle von einem Privatmann und in alltäglicher Sprache verfaßt worden war. Ben war ganz darauf eingestellt gewesen, einen religiösen Text zu übersetzen, vielleicht das Buch Daniel oder das Buch Ruth, und statt dessen war ihm die Überraschung seines Lebens bereitet worden.»Ben?«sagte Angie ruhig. Sie hatte ihn schon einmal so gesehen, im» Schrein des Buches «in Israel, wo sie im Jahr zuvor als Touristen vor den eindrucksvollen Originalen der berühmten Schriftrollen vom Toten Meer gestanden hatten. Wenn Ben sich mit seiner einzigen großen Liebe beschäftigte — rissiges Papier und verblichene Tinte — zog er sich völlig in sich zurück und verlor den Bezug zur Wirklichkeit.»Ben?«
«Hm?«Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen.»Oh, verzeih mir, ich glaube, ich bin in Gedanken woanders.«
«Du hast mir gerade von Kopien einer Schriftrolle erzählt, die du heute abend aus Israel erhalten hast. Du hast gesagt, Dr. Weatherby hat sie dir geschickt, und alles spricht dafür, daß es sich dabei um eine sensationelle Entdeckung handelt. Warum? Stammen sie etwa vom Toten Meer?«
Ben lächelte und nippte an seinem Weinglas. Angies Kenntnis alter Manuskripte war nur laienhaft. Bestenfalls kannte sie die Qumran-Handschriften vom Hörensagen. Aber die hochgewachsene, gertenschlanke und auffallend hübsche Angie war ja schließlich Mannequin und hatte daher nur eine äußerst begrenzte Vorstellung davon, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente.
«Nein, sie stammen nicht vom Toten Meer. «Er und Angie saßen bei einem Glas edlen Weines auf dem Fußboden vor dem Feuer. Reste des Abendessens standen noch auf dem Tisch. Bevor er antwortete, drehte sich Ben ein wenig zur Seite um ihr hübsches Gesicht besser betrachten zu können.
«Sie wurden unter den Überresten einer alten Wohnstätte gefunden, an einem Ort namens Khirbet Migdal. Sagt dir das etwas?«Sie schüttelte den Kopf. Im Schein des Feuers schien ihr glänzendes Haar wie aus Bronze zu sein.
«Nun, vor etwa sechs Monaten teilte mir John Weatherby mit, daß er von der israelischen Regierung endlich die Genehmigung erhalten habe, in Galiläa eine Ausgrabung durchzuführen. Wie ich dir sicherlich erzählt habe, gilt Weatherbys Hauptinteresse den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Daher beschäftigt er sich unter anderem mit dem alten Rom und seinem Niedergang, der Zerstörung Jerusalems und dem Aufstieg des Christentums. Jedenfalls zog
John die richtigen Schlußfolgerungen aus den Hinweisen, die er vorfand, und konzentrierte seine Forschungen schließlich auf ein bestimmtes Ausgrabungsgebiet, auf das ich hier nicht näher eingehen will, und trug den Israelis sein Anliegen vor. Dann brach er vor fünf Monaten mit einem Archäologen-Team aus Kalifornien auf, schlug in der Nähe des Ortes Khirbet Migdal sein Lager auf und begann mit seiner Ausgrabung.«
Ben trank einen Schluck Wein und setzte sich bequem zurecht.»Ich möchte nicht im einzelnen auf seine Entdeckungen eingehen. Es sei nur so viel gesagt: Das Graben lohnte sich. Doch das, wonach er ursprünglich suchte — nämlich eine Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert —, kam nie zum Vorschein. Er hatte sich getäuscht. Aber rein zufällig stieß er auf etwas anderes, auf etwas von solch bahnbrechender Bedeutung, daß er mich vor zwei Monaten aus Jerusalem anrief. Er habe ein Versteck mit Schriftrollen gefunden, erzählte er mir, ein Versteck, das so hermetisch abgeschlossen sei und so tief unter der Erde liege, daß die Rollen einwandfrei erhalten seien. Normalerweise haben wir nicht so viel Glück.«
«Aber was ist dann mit der Schriftrolle, die wir gesehen haben, als wir in Israel waren.«
«Das Tote Meer ist eine unglaublich trockene Gegend. Daher wurden die Rollen vor der Zerstörung durch Feuchtigkeit bewahrt. Genauso verhält es sich auch mit Papyri aus ägyptischen Gräbern. Aber in Galiläa, wo eine höhere Luftfeuchtigkeit herrscht, ist die Chance, daß so vergängliche Materialien wie Holz und Papier überdauern, praktisch Null. Natürlich vom Standpunkt der Archäologen gesehen.«
«Und doch hat Dr. Weatherby welche gefunden?«
«Ja«, erwiderte Ben,»es sieht ganz so aus.«
Nun begann auch Angie in die Flammen zu starren. Ihre Vorstellungskraft fing Feuer.»Wie alt mögen diese Rollen wohl sein?«
«Wir wissen es noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Das letzte Urteil darüber hängt von mir und zwei anderen Übersetzern aus Detroit und London ab. Durch chemische Analysen konnte Weatherby das Alter der Tongefäße in etwa abschätzen, mit einer möglichen Abweichung von ein oder zwei Jahrhunderten. Der Papyrus und die Tinte wurden ebenfalls analysiert, aber auch hier waren die Ergebnisse nicht restlos überzeugend. Die beiden anderen Übersetzer und ich sollen nun die genauere Eingrenzung vornehmen.«
«Die anderen beiden erhalten ebenfalls Auszüge und arbeiten in der gleichen Weise wie ich. Übersetzer arbeiten gewöhnlich in Teams, aber Weatherby möchte, daß wir getrennt und ohne gegenseitige Hilfe zu Werke gehen. Er glaubt nämlich, daß wir auf diese Weise genauere Übersetzungen liefern werden. Und ich schätze, er wählte uns drei, weil wir ein Geheimnis für uns behalten können.«
«Warum? Was ist denn dabei das Geheimnis?«
«Na ja, das hängt mit unserem Beruf zusammen. Manchmal ist es einfach besser, eine phantastische Entdeckung noch eine Weile für sich zu behalten, bis alles vorbereitet und fertiggestellt ist, um erst dann damit an die Öffentlichkeit zu treten. Die Authentizität eines solchen Fundes könnte in Zweifel gezogen werden, und dann muß man gewappnet sein, um seine Forschungsergebnisse zu verteidigen. In unserem Tätigkeitsfeld gibt es immer kleine Eifersüchteleien. «Ben wollte nicht noch weitergehen. Angie würde es nicht verstehen. Und auch sonst kein Außenstehender, denn es war nicht leicht zu erklären. Man konnte einen makellosen wissenschaftlichen Ruf haben und mit ehrlichen Methoden arbeiten, immer fand sich einer, der alles anfechten würde. Sogar wegen der Qumran-Schriftrollen war seinerzeit weltweit ein Meinungsstreit unter Wissenschaftlern ausgebrochen.
Selbst bei naturwissenschaftlichen Entdeckungen war so etwas möglich.
«Du hast mir noch immer nicht verraten, was nun gerade an diesen Rollen so besonders ist.«
«Nun, einerseits sind sie die ersten ihrer Art, die je gefunden wurden. Alle antiken Schriftrollen, die heute auf der ganzen Welt in Museen und Universitäten aufbewahrt werden, haben durchweg einen religiösen oder irgendwie >offiziellen< Inhalt, beispielsweise als Verwaltungs- oder Gesetzesaufzeichnung. Und sie wurden alle von Priestern, Mönchen oder sonstigen Schriftgelehrten verfaßt. Der Durchschnittsmensch, der in diesen Zeiten lebte, schrieb niemals Dinge nieder, wie du und ich es tun. Deshalb ist noch nie zuvor etwas gefunden worden, was sich mit Weatherbys Rollen vergleichen ließe. Verstehst du, ein normaler Bürger, der persönliche Worte niederschreibt.«
«Was für Worte?«
«Es sieht aus wie eine Art Brief oder Tagebuch. Er sagt, er habe eine Beichte abzulegen.«
«Also werden die Rollen dadurch berühmt, weil sie die einzigen ihrer Art sind.«
«Deshalb und dann natürlich«, Ben kniff die Augen zusammen und zeigte ein verschmitztes Lächeln,»wegen des Fluchs.«
«Ein Fluch?«
«Irgendwie ist es ja romantisch, ein Versteck mit alten Schriftrollen zu finden, die mit einem Fluch behaftet sind. Weatherby erzählte mir am Telefon davon. Wie es scheint, war der Jude namens David Ben Jona, der die Rollen schrieb, vermutlich als alter Mann, fest entschlossen, seine kostbaren Handschriften sicher zu bewahren, und griff daher auf einen uralten Fluch zurück. Den Fluch Mose.«
«Den Fluch Mose!«
«Er stammt aus dem Fünften Buch Mose, Kapitel achtundzwanzig. Dort findet sich eine ganze Reihe schrecklicher Flüche. Wie etwa von einer schlimmen Feuersbrunst heimgesucht und auf ewig von Grind und Krätze verfolgt zu werden. Ich denke, David Ben Jona hatte diese Rollen wirklich schützen wollen. Er mußte wohl geglaubt haben, dies sei genug, um jeden Unbefugten in Angst und Schrecken zu versetzen und von den Rollen fernzuhalten.«
«Nun, Weatherby hat es anscheinend nicht abgeschreckt. «Ben lachte.»Ich bezweifle, ob der Fluch nach zweitausend Jahren noch viel von seiner Kraft hat. Aber wenn Weatherby jetzt plötzlich von Grind und Krätze befallen wird.«
«Hör auf!«Angie rieb sich die Arme.»Brrr. Ich kriege Gänsehaut davon.«
Beide starrten wieder ins Feuer, und Angie, die sich an das verblichene Pergament erinnerte, das sie im» Schrein des Buches «gesehen hatten, fragte:»Warum waren die Rollen von Qumran eine so phantastische Entdeckung?«
«Weil sie den Beweis für die Richtigkeit der Bibel lieferten. Und das ist keine Kleinigkeit.«
«Ist das dann nicht bedeutender als das, was Dr. Weatherbys Rollen zu sagen haben?«
Ben schüttelte den Kopf.»Nicht vom Standpunkt der Geschichtsschreibung. Wir haben genug Bibeltexte, die uns das verraten, was. wir über die Entwicklung der Bibel durch die Jahrhunderte hindurch wissen müssen. Was wir nicht besitzen, ist eine hinreichende Kenntnis darüber, wie sich zu jenen Zeiten das tägliche Leben abspielte. Religiöse Schriftrollen wie die vom Toten Meer enthalten beispielsweise Prophezeiungen und Glaubensbekenntnisse, doch sie sagen uns nichts über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, oder über die Menschen, die sie verfaßten. Weatherbys Rollen dagegen. Großer Gott!«entfuhr es ihm plötzlich.»Ein persönliches Tagebuch aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert! Denk nur mal an die Wissenslücken, die dadurch geschlossen werden könnten!«
«Was ist, wenn sie älter sind? Vielleicht aus dem ersten Jahrhundert?«
Ben zuckte die Schultern.»Das ist möglich, aber um das sagen zu können, ist es noch zu früh. Weatherby tippt auf das späte zweite Jahrhundert. Die Radiokarbonmethode kann es nicht weiter für uns eingrenzen. Letztendlich hängt es von meiner Analyse des Schreibstils ab. Erst sie wird uns Aufschluß darüber geben, wann David Ben Jona gelebt hat. Dabei ist meine Tätigkeit keine exakte Wissenschaft. Aus dem zu schließen, was ich bislang gelesen habe, könnte der alte David Ben Jona zu jeder x-beliebigen Zeit innerhalb einer Epoche von dreihundert Jahren gelebt haben.«
Ein verträumter Blick zeigte sich auf Angies Gesicht. Es war ihr gerade etwas eingefallen.»Aber das erste Jahrhundert wäre das phantastischste, nicht wahr?«
«Natürlich. Neben den Qumran-Handschriften, den Briefen von Bar Kochba und den Schriftrollen von Masada existiert nach heutiger Kenntnis kein weiteres aramäisches Schriftstück aus der Zeit Christi.«
«Meinst du, er wird darin erwähnt?«
«Wer?«
«Jesus.«
«Oh, na ja, ich glaube nicht. «Ben wandte seinen Blick von ihr ab. Für ihn war die Wendung» aus der Zeit Christi «lediglich ein Instrument zum Festlegen des historischen Maßstabs. Es war einfacher, als zu sagen» vom Jahr vier vor unserer Zeitrechnung bis etwa zum Jahr siebzig nach unserer Zeitrechnung «oder» nach-augustinisch und präflavianisch«. Es war nur ein Kürzel zur Bezeichnung dieser bestimmten Epoche in der Geschichte. Ben besaß seine eigene Theorie über den Mann, den die Leute Christus nannten. Und diese wich von der Norm ab.
«Du wirst also anhand der Schriften herausfinden können, wann es geschrieben wurde?«
«Das will ich hoffen. Die Schreibstile veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte. Die Handschrift selbst, das benutzte Alphabet und die Sprache sind meine drei Maßstäbe. Ich werde Weatherbys Rollen mit anderen vergleichen, die wir heute schon besitzen, wie etwa die von Masada, und sehen, inwieweit der Schreibstil übereinstimmt. Nun haben wir nach der chemischen Analyse des Papyrus ein hypothetisches Entstehungsdatum von vierzig C. E. mit einer Spannweite von zweihundert Jahren. Das bedeutet, der Papyrus wurde zwischen hundertsechzig B. C. E. und zweihundertvierzig C. E. hergestellt.«
«Was heißt C. E.?«
«Es steht für Common Era und bedeutet dasselbe wie A. D. >Anno Domini< oder >Christi Geburtc, beinhaltet aber keine religiöse Anspielung. Archäologen und Theologen benutzen es. Aber es ist ja auch einerlei, wie man sich bei der Zeitangabe nun ausdrückt. Die Radiokarbonmethode funktioniert prima bei prähistorischen Schädeln, wo ein so großer zeitlicher Spielraum nicht weiter stört. Aber wenn man eine relativ kleine Zeitspanne vor ungefähr zweitausend Jahren eingrenzen will, dann ist ein Spielraum von zweihundert Jahren praktisch überhaupt keine Hilfe. Er bildet lediglich die Grundlage, von der man ausgeht. Dann versuchen wir, anhand der Bodentiefe, in der die Ausgrabung gemacht wurde, ein Datum zu bestimmen. Ältere Schichten liegen darunter, und Lagen aus jüngeren Jahren breiten sich darüber aus. Wie geologische Bodenschichten. Doch nachdem dies alles geschehen ist, müssen wir uns für das endgültige Datum doch wieder der Schrift selbst zuwenden. Und bisher schreibt dieser
David Ben Jona in einer Art, die große Ähnlichkeit mit den Handschriften vom Toten Meer aufweist und die man irgendwann zwischen hundert vor Christus und zweihundert nach Christus datieren kann.«
«Vielleicht erwähnt dieser David in seinem Schriftstück etwas, was dir einen genauen Anhaltspunkt geben könnte, einen Namen, ein Ereignis oder sonst etwas.«
Ben, der eben sein Glas zu den Lippen führen wollte, hielt auf halbem Weg inne und starrte Angie an. Darauf war er selbst noch gar nicht gekommen. Und warum sollte es auch nicht möglich sein? Schließlich hatte das erste Bruchstück ja bereits bewiesen, daß diese Migdal-Schriftrollen sich von allen bisherigen unterschieden. Es war möglich. Alles war möglich.
«Ich weiß nicht, Angie«, antwortete er langsam.»Daß er uns ein Datum nennt. auf soviel darf man wohl nicht hoffen. «Sie zuckte die Achseln.»So wie du redest, könnte man meinen, daß du nicht einmal auf die Rollen selbst hättest hoffen dürfen. Und dennoch sind sie da.«
Ben blickte sie abermals erstaunt an. Angies Fähigkeit, selbst die wunderlichsten Ereignisse ganz beiläufig hinzunehmen, überraschte ihn immer wieder. Und doch, so überlegte er jetzt, während er ihren gleichgültigen Gesichtsausdruck studierte, war es vielleicht nicht so sehr die Gelassenheit, mit der sie gewisse Ereignisse hinnahm, sondern vielmehr die Gelassenheit, mit der sie sie abtat. Sie besaß die Fähigkeit, alles mit der gleichen nüchternen Sachlichkeit aufzunehmen, sei es nun die Tageszeit oder die Nachricht von einer Katastrophe. Angie war keine Frau von heftigen Leidenschaften. Niemals hatte sie etwas an den Tag gelegt, was auch nur annähernd einem Gefühlsausbruch gleichkam. Und sie schien in der Tat stolz darauf zu sein, eine höchst gleichmütige Person zu sein. Selbst in Krisensituationen verlor sie nie die Fassung. Eine beliebte Anekdote, die in ihrem
Freundeskreis immer wieder erzählt wurde, handelte von Angies Reaktion auf die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys. Noch keine Stunde, nachdem es geschehen war und die ganze Welt von Entsetzen erfüllt war, hatte ihr einziger Kommentar gelautet:»Tja, das Leben ist gemein.«
«Ja, Schriftrollen wie diese sind mehr, als man sich zu erhoffen wagt. Eigentlich sind sie der Traum eines jeden Archäologen. Allerdings. «Bens Stimme wurde schwächer. Da gab es noch so viele Wenn und Aber. Dr. Weatherby hatte in seinen Briefen nur auf» Schriftrollen «hingewiesen. Doch er hatte nie ihre genaue Anzahl erwähnt. Wie viele von ihnen gab es dort? Wie viele hatte der alte David Ben Jona wohl noch schreiben können, bevor er von» diesem Leben in ein anderes «hinübergegangen war? Und was war es, das er noch so dringend hatte loswerden und zu Papier bringen müssen? Während er mit Angie vor dem Feuer saß und Wein trank, begann Ben über Fragen nachzudenken, die ihm bis dahin nie in den Sinn gekommen waren.
Ja, in der Tat, was mochte den alten Juden wohl dazu gebracht haben, sein Leben zu Papier zu bringen? Was war so Bedeutendes geschehen, daß er das machte, was so wenige seiner Zeitgenossen taten: die eigenen Gedanken
niederzuschreiben? Und was hatte ihn dann veranlaßt, jene Rollen ebenso sorgfältig zu verpacken, wie es die Mönche vom Toten Meer getan hatten — seine Aufzeichnungen als Lektüre für seinen Sohn?
Und dann dieser absonderliche Fluch! Die Rollen mußten etwas Wichtiges enthalten, wenn der alte David so weit gegangen war, um sie zu schützen.
Ben unterbrach seine Spekulationen und konzentrierte seine Gedanken wieder auf den Fund selbst. Er wußte aus Erfahrung, daß es nicht lange dauern würde, bis die Nachricht davon durchsickerte, und war dies einmal geschehen, dann würde die
Welt den Atem anhalten. Der Medienrummel wäre schwindelerregend. Sein Name, Dr. Benjamin Messer, würde untrennbar mit der Entdeckung verbunden, und er fände sich plötzlich in dem Rampenlicht wieder, von dem er so oft geträumt hatte. Er würde Bücher veröffentlichen, im Fernsehen interviewt werden und Vortragsreisen durchs ganze Land unternehmen. Er fände Ansehen, Ruhm und Anerkennung und. Im knisternden Feuer schlugen die Flammen hoch und tauchten das Zimmer für einen Moment in hellen Schein. Irgendwo, ganz nahe, hörte er ein sanftes Atmen. Ben spürte, wie sein Gesicht sich zunehmend erhitzte, sei es nun von dem Feuer im Kamin oder von seiner inneren Erregung. Er wurde langsam müde und dachte an die Briefe, die John Weatherby ihm geschrieben hatte.
Den ersten hatte er vor zehn Wochen erhalten. Darin hatte ihn Weatherby nur kurz von einer» bemerkenswerten Entdeckung «unterrichtet.
Ben erinnerte sich, wie er damals geglaubt hatte, daß Weatherby offenbar eine Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert gefunden hatte. Doch dann war dieser Anruf aus Jerusalem gekommen, bei dem John Weatherbys Stimme klang, als hätte er sich einen Eimer über den Kopf gestülpt. Er sprach von einem Versteck mit Schriftrollen, auf das er gestoßen sei, und kündigte an, daß er Ben mit ihrer Übersetzung und zeitlichen Zuordnung betrauen wolle. Das war vor zwei Monaten gewesen.
Die nächste Mitteilung war vier Wochen später in Form eines langen Briefes gekommen. Ein» Ausgrabungsbericht «in zeitlich genauer Abfolge von ihrem Beginn bis zum Fund der Schriftrollen; eine ausführliche Schilderung der Ausgrabungsstätte, insbesondere von Niveau VI; eine Liste von Gegenständen, die man neben den Tonkrügen gefunden hatte — Haushaltsgegenstände, Münzen, Tonscherben — und dann noch eine Beschreibung der Tonkrüge und der Schriftrollen selbst.
Als nächstes war ihm ein dreiseitiger Bericht über den Befund des Instituts für Nuklearforschung an der Universität Chicago zugegangen, die Ergebnisse der Radiokarbontests und eine Festsetzung des Alters der Münzen auf siebzig nach Christus. Doch letztendlich waren die Wissenschaftler lediglich imstande gewesen, auf das breite Spektrum von dreihundert Jahren hinzuweisen, und hatten es auch nicht näher eingrenzen können.
Aus diesem Grund waren die Ablichtungen der Rollen an Ben Messer geschickt worden. Um genauer zu bestimmen, in welchem Jahr sie geschrieben worden waren und was sie aussagten.»Ben?«
«Hm?«Er öffnete langsam die Augen.
«Schläfst du ein?«Angies Stimme klang sanft und einschmeichelnd.
«Ich denke nur nach.«
«Worüber?«
«Oh. «Ben seufzte. Er spürte ein plötzliches Hochgefühl.»Mir ist da gerade etwas eingefallen. Etwas, woran ich bisher noch gar nicht gedacht hatte.«
«Was ist es?«
«Daß Davids Vater denselben Namen trug wie mein Vater.«
«Woher willst du das wissen?«
«Das ist in seinem Namen, David Ben Jona, enthalten. >Ben< bedeutet in Aramäisch >Sohn des<. Also hieß sein Vater Jona. Und zufälligerweise war Jona auch der Name meines Vaters.«
Allmählich spürte Benjamin Messer die Wirkung des Weines. Aus irgendeinem Grund schienen die Rollen plötzlich noch wichtiger als vorher. Dabei hatte er doch erst damit begonnen, sie zu lesen.»Meinst du, daß es noch mehr davon gibt?«
«Das hoffe ich. Ich bete zu Gott, daß es so ist. «Angie sah ihn von der Seite an.»Das wäre mir völlig neu, daß du wüßtest, wie man betet, Ben.«
«Schon gut, das reicht. «Sie hatte ihn oft damit aufgezogen, daß er der frömmste Atheist sei, den sie kenne. Er, Benjamin Messer, der Sohn eines Rabbiners.
Sie schmiegten sich im Halbdunkel des Kaminfeuers aneinander. Angie war emotional vielleicht etwas zurückhaltend, doch ihre sexuellen Wünsche konnte sie durchaus ausdrücken.
«Vergiß die Vergangenheit«, hauchte sie Ben ins Ohr,»komm zurück in die Gegenwart. Komm zurück zu mir.«
Sie machten sich nicht die Mühe, ins Schlafzimmer zu gehen. Der zottelige kleine Teppich vor dem Kamin war bequem genug. Und für eine Weile ließ Angie Ben das Rätsel eines zweitausend Jahre alten Alphabets vergessen.
Später, als sie sich vor dem glimmenden Kaminfeuer anzogen, spürte Ben, wie er rasch wieder nüchtern wurde. Der alexandrinische Kodex, der wohl fälschlich dem Evangelisten Markus zugeschrieben wurde, wartete darauf, übersetzt zu werden. Und dann war da natürlich noch der letzte Teil von Weatherbys Schriftrolle, der gelesen werden mußte. Und morgen gab er Unterricht.»Bleib heute nacht hier«, drängte Angie sanft.»Tut mir leid, Liebes, aber weder Regen noch Graupel, noch ein listiges Frauenzimmer sollen den Handschriftenkundler von seinen anstehenden Übersetzungen abhalten. Das ist Herodot.«
«Das ist albern.«
«Ach wirklich? War er Grieche oder Römer, dieser Marcus Tullius Albern?«
Angie schnappte sich seinen Pullover und warf ihn in Bens Richtung.»Benjamin Messer, mach, daß du rauskommst!«Er lachte und streckte ihr die Zunge heraus. Angies kastanienbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht und verlieh ihr das Aussehen eines kleinen Mädchens, während ihre Augen ihn verführerisch anblitzten. Es machte Spaß, mit ihr zusammenzusein. Zwar wußte sie nichts über alte Geschichte, aber es war immer unterhaltsam mit ihr. Und dafür liebte er sie.
«Ciao, Baby, wie sie im Fernsehen sagen. «Er ging fort und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Seine unbeschwerte Stimmung verflüchtigte sich jedoch bald in der frostigen Luft, als er den Wilshire Boulevard hinunterfuhr. Ein Radiosender spielte ein Lied von Cat Stevens oder Neil Young. Er konnte nicht genau sagen, von wem.
Ben gehörte dem Schlag unzeitgemäßer Menschen an, die sagen konnten, ihre Lieblingssängerin sei Olivia Elton John, und damit ungestraft davonkamen.
Doch er achtete nicht wirklich auf die Musik, weil das dringende Problem der Schriftrollen ihn wieder zu plagen begann. Wann waren sie denn nun wirklich geschrieben worden? Zweites oder drittes Jahrhundert wäre nicht annähernd so aufregend wie erstes Jahrhundert. Und ebensowenig hätte das späte erste Jahrhundert eine so sensationelle Wirkung wie das frühe erste Jahrhundert. Gedankenverloren parkte Ben sein Auto in der Tiefgarage seines Apartmenthauses und lief die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Was, wenn.? Was, wenn sie tatsächlich im frühen ersten Jahrhundert geschrieben worden wären? Sie könnten sogar irgendeine Erwähnung, einen Anhaltspunkt oder die Spur einer Zeugenaussage enthalten, durch die die Existenz eines Mannes, den man gemeinhin Jesus Christus nannte, entweder bewiesen oder widerlegt würde! David Ben Jona, dachte Ben, als er mit seinem Wohnungsschlüssel hantierte, zu welcher Zeit hast du gelebt und was hast du mir so Wichtiges zu sagen?
Als er in seiner Wohnung war, machte sich Ben als erstes eine Tasse starken, schwarzen Kaffee, öffnete eine Büchse Katzenfutter für Poppäa und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. Der Schein seiner Leselampe erzeugte einen kleinen Lichtkreis, der sich gegen das Dunkel ringsumher abhob. Die übrige Wohnung wirkte wie eine grenzenlose, schwarze Höhle. Nur hin und wieder wurde der Lichtkreis von der neugierigen Poppäa durchbrochen, die über den Schreibtisch lief. Wenn sie dort nichts Interessantes darauf fand, setzte sie ihre nächtlichen Streifzüge durch die anderen Zimmer fort.
Auch an diesem Abend sprang sie, während Ben die Fotografien vor sich ausbreitete, geräuschlos nach oben, stolzierte zwischen Büchern, Aschenbechern und leeren Gläsern umher und schnupperte flüchtig an einem der Fotoabzüge. Dann sprang sie hinunter auf den Fußboden.
Ben war inzwischen wieder völlig nüchtern und vertiefte sich in den dritten Papyrus-Abschnitt. Plötzlich erinnerte er sich an eine Szene, die sich vor sechs Monaten ereignet hatte: Er und Dr. Weatherby waren in dessen Strandhaus am Pazifik gesessen und diskutierten das geplante Projekt Dr. Weatherbys.
Der grauhaarige, robuste Weatherby, der stets so lebendig sprach, hatte Ben schon oft seine Theorie dargelegt, nach der irgendwo in der Nähe von Khirbet Migdal in Israel eine unter der Erde verborgene Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert liege. In seinem Wohnzimmer hatte Weatherby ihm an diesem Abend vor sechs Monaten gesagt:»Wie du weißt, führt das offizielle Verzeichnis des israelischen Ministeriums für Altertümer über siebzehnhundertfünfzig historische Stätten innerhalb der Grenzen von vor 1967 auf. 1970 fanden auf Israels achttausend Quadratmeilen mindestens fünfundzwanzig großangelegte Grabungen statt. Und ich beabsichtige, mir ein Stück von diesem Kuchen abzuschneiden. Die Grabungsgenehmigung muß nun bald kommen. Und dann geht’s ab nach Migdal mit meinem Spaten und meinem Eimer, wie ein Kind, das zum Strand läuft. «Ben starrte lange auf das dritte Foto, auf den formlosen Schreibstil, der dem religiöser Texte so ganz und gar nicht ähnlich war, und er dachte bei sich: So hast du, David Ben Jona, dein kostbares Testament in der Erde von Khirbet Migdal vergraben, und John Weatherby kam daher und grub es aus.
Aber natürlich kanntest du den Ort damals nicht als Migdal. Zu deiner Zeit hieß die Stadt Magdala. Berühmt für ihren Fisch, ihren Zirkus und für eine Frau namens Maria. Maria Magdalena.