Kapitel Zwei

Das dritte Teilstück ließ sich nicht so leicht lesen wie die ersten beiden, denn hier und da waren die Ränder des Papyrus eingerissen, und ganze Sätze wurden mitten im Wort abgebrochen. An mehreren Stellen war die Tinte in die kleinen Zwischenräume der Papyrusfasern gelaufen und hatte die Schrift verwischt. Ein weiterer Grund war, daß dieser Ausschnitt bisher größtenteils aus einem langatmigen Gebet und einem Segensspruch bestand. David Ben Jona war dabei vom Aramäischen zum Hebräischen übergegangen und damit auch zu der gängigen Praxis, Vokale auszulassen. Ben arbeitete die ganze Nacht hindurch, brütete über winzigen Bedeutungsnuancen und versuchte, die unverständlichen Stellen mit Sinn zu füllen. Ben war ein wenig enttäuscht. Er war es zwar gewohnt, Gebete und religiöse Abhandlungen zu übersetzen — das war ja schließlich sein Beruf —, doch in diesem Fall hatte er gehofft, daß die Magdala-Schriftrollen sich inhaltlich von allen bisher gefundenen unterschieden. Und jetzt, da der Tagesanbruch nahte, fing Ben allmählich an zu glauben, daß der alte Jude seinem Sohn letzten Endes nichts anderes hinterlassen habe als das übliche hebräische Vermächtnis — heilige Worte.

Auch war Ben über sich selbst enttäuscht, weiter die Zeit der Entstehung von Davids Handschrift nicht genau festlegen konnte. Einige Anhaltspunkte waren offensichtlich: die fehlenden Ligaturen zwischen den Buchstaben (eine Entwicklung, die seit Mitte des ersten Jahrhunderts zu beobachten war), die bekannte rechtwinklige aramäische Handschrift, den hebräischen Buchstaben Alef, der so charakteristisch war, weil er wie ein umgekehrtes N aussah. All diese Hinweise waren vorhanden, reichten aber nicht aus, um sich endgültig auf einen bestimmten Zeitabschnitt festzulegen. Es gab noch mehr zu übersetzen; ein paar Zeilen waren noch übrig, aber Ben war zu müde, um sie in Angriff zu nehmen. Die Studenten seiner Zehn-Uhr-Vorlesung erwarteten sicher, daß er mit ihnen ihre Arbeiten durchsehen würde, und der Unterricht um zwei Uhr würde eine engagierte Diskussion zum Gegenstand haben. Für beides mußte er vorbereitet sein.

Mit einer Mischung aus Widerstreben und Erleichterung steckte er daher die Fotos in den Umschlag zurück und beschloß, sie bis zum Wochenende warten zu lassen. Bis dahin müßte er mit dem alexandrinischen Kodex fertig sein.

Benjamin Messer war Professor für Orientalistik an der Universität von Kalifornien in Los Angeles und gab drei Unterrichtsfächer: Alt- und Neuhebräisch, die Deutung von hebräischen Manuskripten und altorientalische Sprachen. Wenn er nicht gerade mit der Übersetzung von alten Papyri oder einer antiken Inschrift beschäftigt war, wies er jeden, der sich interessiert zeigte, in die Grundlagen seines Fachgebietes ein.

Nachdem er den Unterricht in der Frühe noch ganz gut bewältigt hatte, begann er während des Nachmittagsseminars allmählich die Auswirkungen seiner schlaflosen Nacht zu spüren. Es war sein Kurs in Neu- und Althebräisch, den sechzehn fortgeschrittene Studenten belegt hatten, die im Halbkreis um ihn herum saßen und an diesem Dienstagnachmittag nicht umhin konnten, eine gewisse Zerstreuung bei ihrem Professor festzustellen.

«Dr. Messer, sind Sie nicht der Ansicht, daß die Entwicklung der mündlichen Überlieferung sich stärker auf die

Sprachentwicklung auswirkte als die schriftliche?«Der Kursteilnehmer, von dem dieser Beitrag kam, blickte Ben hinter seinen dicken Brillengläsern fragend an. Er studierte Sprachwissenschaft als Hauptfach und war ein begeisterter Anhänger von Esperanto.

Ben schaute ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Die heutige Diskussion befaßte sich mit der Dynamik der Entwicklung der hebräischen Sprache. Dabei wurde erörtert, welche äußeren Faktoren über die Jahrhunderte hinweg zum Sprachwandel beigetragen hatten. Ben hatte der Frage keine rechte Aufmerksamkeit geschenkt. Er hatte sich mehrmals dabei ertappt, wie er in Gedanken abschweifte und an die Schriftrolle von Magdala dachte.

«Warum sollte das so sein, Glenn? Meinen Sie, die mündliche Überlieferung sei für die Juden bedeutender gewesen als die schriftliche?«

«Ich denke schon. Besonders während der Diaspora. Die mündliche Überlieferung erhielt sie am Leben, als ihre Schriftrollen unerreichbar waren.«

«Dem kann ich nicht zustimmen«, meldete sich eine andere Studentin zu Wort. Sie hieß Judy Golden, eine Studentin der vergleichenden Religionswissenschaft.»Wir leben noch immer in einer Diaspora, und es ist das geschriebene Wort, das uns über die Entfernung hinweg zusammenhält.«

«Eigentlich haben Sie beide recht. Keine dieser Überlieferungen, weder die mündliche noch die schriftliche, kann von der anderen getrennt behandelt werden. «Er warf einen Blick auf die Uhr. Der Unterricht schien sich heute nur so dahinzuschleppen.»Gut, nun befassen wir uns heute nachmittag ja eigentlich mit den Veränderungen, die im Laufe der Jahrhunderte im geschriebenen und gesprochenen Hebräisch auftraten, und mit den äußeren Faktoren, die diese Veränderungen bewirkten. Möchte sich jemand dazu äußern?

Wie steht es mit den Auswirkungen der Diaspora auf das geschriebene Hebräische? Judy?«

Sie bedachte ihn mit einem kurzen Lächeln.»Vor der Entstehung des Talmud mußten sich die Juden auf ihre hebräischen Schriftrollen und auf ihr Gedächtnis verlassen. Doch im Zeitalter des Hellenismus, als die Juden das Hebräische, ihre >Heilige Sprache< mehr und mehr verlernten, konnten sehr viele unter ihnen die Thora nicht mehr lesen. Zu dieser Zeit entstand die Septuaginta, die Fünf Bücher Mose, in griechischer Sprache, so daß dann alle über das Römische Reich verstreut lebenden Juden ihre Heiligen Bücher lesen konnten. Aber ich glaube nicht, daß die Septuaginta das

Hebräische damals bloß verändert haben sollte; vielmehr beseitigte sie es ganz und gar. «Benjamin Messer runzelte für einen Augenblick die Stirn. Judy hatte ein ausgezeichnetes Argument vorgetragen, das er nicht zu hören erwartet hatte. Während sie sprach, versuchte er sich zu erinnern, was er über sie wußte. Judy Golden, von der Universität Berkeley an die hiesige Universität übergewechselt, sechsundzwanzig Jahre alt, studierte im Hauptfach vergleichende Religionswissenschaft. Sie war eine ruhige junge Frau mit ausdrucksvollen braunen Augen und langem schwarzen Haar. Das Symbol des Zionismus, der Davidsstern, hing ihr an einer Kette um den Hals.»Sie haben vollkommen recht«, meinte Ben, nachdem sie geendet hatte.»Die Septuaginta schaffte in der Tat zwei entgegengesetzte Bedingungen. Einerseits vermittelte sie den Juden, die kein Hebräisch beherrschten, den Inhalt der Heiligen Bücher, doch andererseits entweihte sie das Wort Gottes durch seine Wiedergabe in einer heidnischem Sprache. Hier haben wir erneut ein gutes Beispiel dafür, wie untrennbar die hebräische Sprache mit der hebräischen Religion verbunden ist. Um das eine zu studieren, muß man sich auch mit dem anderen befassen.«

Ein weiterer verstohlener Blick auf die Uhr. Konnte er sich daran erinnern, daß eine Unterrichtsstunde sich jemals so in die Länge gezogen hatte?» Gehen wir nun weiter und kommen wir zum nächsten Punkt«, sagte er, während er ein neues Wort an die Tafel schrieb: Massora. Dann folgte ein Datum: Viertes Jahrhundert C. E.»Wahrscheinlich war der erste Massoret Dosa Ben Eleasar. «Und während der ganzen Vorlesung mußte er sich dazu zwingen, sich auf das zur Debatte stehende Thema zu konzentrieren. Durch seinen Schlafmangel sickerten immer wieder Gedanken an die magdalenischen Schriftrollen durch.

Er war erleichtert, als er die Vorlesung eine Stunde später wieder für ein paar Tage hinter sich hatte. Als Diskussionsthema für den kommenden Freitag standen die» Entwicklung des Mischna-Hebräischen und Beispiele für Unterschiede zwischen diesem und dem modernen Hebräisch «auf dem Unterrichtsplan. Er kündigte auch an, daß er in den nächsten paar Wochen seine gewöhnlichen Sprechstunden nicht abhalten würde, so daß besondere Terminvereinbarungen getroffen werden müßten.

Die kühle Abendluft, die ihm außerhalb des Gebäudes entgegenströmte, erfrischte ihn nur wenig. Es ging auf fünf Uhr nachmittags zu, und die Sonne war fast untergegangen. Um diese Zeit, zwischen den Tages- und Abendveranstaltungen, war der Campus, das ausgedehnte Unigelände, ruhig und fast menschenleer. Die wenigen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, als er die Außentreppe des Gebäudes hinunterlief — einen Bericht über seine Handschriften an Randall schicken, Angie vor sechs Uhr anrufen, auf dem Heimweg an der Reinigung vorbeifahren —, wurden von einer Stimme an seiner Seite unterbrochen:»Dr. Messer? Entschuldigen Sie. «Er hielt auf der letzten Treppenstufe inne und schaute hin. Judy Golden war fast dreißig Zentimeter kleiner als er, und durch ihre flachen Sandalen wurde dieser Unterschied noch betont. Sie war ein zierliches, hübsches Mädchen. Ihr volles schwarzes Haar wehte im Abendwind.»Entschuldigen Sie, sind Sie in Eile?«

«Nein, überhaupt nicht. «In Wirklichkeit hatte er es natürlich eilig, aber er war auch neugierig, was sie von ihm wollte. Seit Beginn des Semesters hatte sich das stille Mädchen nur selten zu Wort gemeldet.

«Ich wollte Ihnen nur sagen, daß mir Ihr Gebrauch von >Common Era< anstelle von >Anno Domini< gefällt.«

«Wie bitte?«

«Viertes Jahrhundert C. E. Das haben Sie doch an die Tafel geschrieben.«

«Oh, ja, ja.«

«Ich war überrascht, es zu sehen. Besonders, weil es von Ihnen kam. Nun, ich meine. Ich wollte Sie nur wissen lassen, was ich darüber denke. Dieser Linguistik-Hauptfächler Glenn Harris fragte mich auf dem Weg aus dem Seminarraum, was es bedeute. «Ben runzelte die Stirn.»Was meinen Sie damit, besonders, weil es von mir kam?«

Judy errötete und wich ein paar Schritte zurück.»Es war blöd von mir, das zu sagen. Es tut mir leid, es rutschte mir nur so heraus.«

«Oh, schon in Ordnung. «Er setzte ein Lächeln auf.»Aber was meinten Sie damit?«

Sie wurde noch röter.»Nun, ich meine, jemand erzählte mir, Sie seien Deutscher. Sie seien in Deutschland geboren, sagten sie mir.«

«Oh, das. Ja, das stimmt. aber. «Ben ging seinen Weg in der eingeschlagenen Richtung weiter, und Judy versuchte an seiner Seite mit ihm Schritt zu halten.

«Der Gebrauch von C. E. bedeutet nicht zugleich eine theologische Meinung. Es ist, wie wenn ich sage >Ms<. Wenn ich Sie Ms. Golden nennen würde, müßte das nicht unbedingt bedeuten, daß ich ein Anhänger der Frauenemanzipation bin.«

«Trotzdem sieht man C. E. nicht oft. «Sie mußte doppelt so viele Schritte machen, um mit seinem Tempo mitzuhalten.»Ja, das kann schon sein. «Ben hatte niemals wirklich darüber nachgedacht. Unter jüdischen Historikern und Geisteswissenschaftlern hatte man den Gebrauch von >A. D.< zur Bezeichnung der neuen Zeitrechnung fallenlassen, weil es ein Einverständnis mit der Bedeutung dieses Begriffs mit einschloß. Statt dessen benutzte man jetzt >C. E.<, Common Era, eine objektivere Bezeichnung, die aber eigentlich dasselbe aussagte.

«Was hat die Tatsache, daß ich in Deutschland geboren wurde, damit zu tun?«

«Nun, es ist ja eine jüdische Erfindung.«

Für einen Augenblick zeigte sich eine leichte Überraschung auf seinem Gesicht. Dann lachte er kurz auf und meinte:»Oh, ich verstehe. Wissen Sie denn nicht, daß ich auch Jude bin?«Judy Golden blieb unvermittelt stehen.»Wirklich?«Er schaute auf ihr Gesicht hinab.

«Was ist denn los? Oh, warten Sie, sagen Sie’s mir nicht. Ich sehe nicht jüdisch aus, ist es das, was Sie denken?«

«Ich befürchte, jetzt bin ich wirklich ins Fettnäpfchen getreten«, erwiderte Judy verlegen.»Genau das habe ich gedacht. Und dabei hasse ich diese Vorurteile selbst.«

Sie liefen in Richtung auf das nächstgelegene Parkhaus weiter.»Das erklärt es«, sagte sie.»Erklärt was?«

«Das C. E.«

«Da muß ich Sie leider enttäuschen. Für mich beinhaltet diese Abkürzung keinerlei persönliche Anschauung. Ich benutze sie als objektive Bezeichnung und nicht aufgrund einer Nichtanerkennung des Glaubens, der durch die Worte Anno Domini, im Jahr unseres Herrn, zum Ausdruck kommt.

Außerdem wird es in zahlreichen Büchern so gehandhabt, und auch viele meiner Kollegen sind dazu übergegangen, diesen Begriff zu verwenden. Die Juden haben da kein Monopol. Nur weil jemand C. E. sagt anstatt A. D. heißt das noch lange nicht, daß er ein Zionist ist.«

Unwillkürlich faßte sie nach ihrer Kette.

«Wissen Sie«, fuhr Ben fort, als sie sich dem Parkhaus näherten,»Sie sprechen Hebräisch wie eine Muttersprachlerin. Haben Sie Israel je besucht?«

«Nein, aber eines Tages würde ich das gern tun. «Sie blieben am Eingang stehen. Hinter ihnen ging die Sonne unter und tauchte den Horizont in flammendrotes Licht. Ben wartete höflich darauf, daß die junge Frau noch etwas sagte, obwohl er insgeheim hoffte, daß das Gespräch beendet sei. Schließlich meinte er:»Jemand wie Sie, mit Ihrem Interesse für die Religion, die hebräische Sprache und das jüdische Erbe, sollte eigentlich seinen ganzen Besitz verkaufen und sich ein einfaches Flugticket nach Israel holen.«

«Das habe ich schon mehrmals versucht, aber meine Pläne schlugen immer fehl. Es ist schwer, Geld dafür aufzutreiben. Trotzdem danke, Dr. Messer, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben. Auf Wiedersehen.«

«Auf Wiedersehen.«

Der Anblick des alexandrinischen Kodex auf seinem Schreibtisch verschaffte Ben gleich wieder ein schlechtes Gewissen, als er sich mit einem Glas Wein und einer noch nicht angezündeten Pfeife darüber beugte. Dr. Joseph Randall hatte ihn in einer Fotokopie vor zwei Wochen zwecks genauerer Übersetzung an Ben geschickt. Er war in einem koptischen Kloster in der Wüste bei Alexandria gefunden worden und befand sich nun im Ägyptischen Museum in

Kairo. Es handelte sich um ein Manuskript in griechischer Sprache, das viele Parallelen zum Codex Vaticanus aufwies, einer im vierten Jahrhundert in Ägypten entstandenen Pergamenthandschrift der Bibel. Randalls Papyrus mit dem Titel» Apostelbrief des Markus «enthielt viele Ungenauigkeiten, und obwohl er unwiderlegbar vor vielen hundert Jahren geschrieben worden war, war er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht echt.

Ben legte seine Pfeife zur Seite und trank den Wein aus. Aus der Stereoanlage ertönte leise und unterschwellig Bachs Toccata und Fuge in d-moll. Das half ihm oftmals, sich zu konzentrieren. Im dritten und vierten Jahrhundert wimmelte es nur so von Fälschungen, von denen man viele für Briefe und Geschichten der Apostel hielt. Die vor ihm liegende Handschrift mußte jahrhundertelang sehr verehrt worden sein, bevor sie beim Auszug der Mönche aus dem Kloster zurückgelassen wurde, denn der Evangelist Markus galt als der Begründer der christlichen Kirche in Ägypten vor neunzehnhundert Jahren. Das war es wenigstens, was die Kopten glaubten.»Wenn es überhaupt einen heiligen Markus gegeben hat«, murmelte Ben. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Auch der Wein hatte nicht geholfen, und Bach ging ihm langsam auf die Nerven. Außerdem hatte er vergessen, auf dem Heimweg an der Reinigung zu halten.

Der Kodex war ein langes Werk und nicht sehr sorgfältig verfaßt. Einige Wörter waren nebulös und machten ganze Sätze unklar und bedeutungslos. Er griff auf mehrere andere Texte zurück, um Vergleiche anzustellen, und spürte, wie er sich selbst zwingen mußte, um beim Thema zu bleiben. Als wenig später Poppäa Sabina heraufsprang, um die Schreibtischplatte zu untersuchen, nahm Ben sie auf den Arm und begann, sie zu streicheln.

«Du hast ganz recht, meine struppige Teufelin. Eine Arbeit, die es wert ist, getan zu werden, ist es wert, gut getan zu werden. Und ich tue sie nicht gut.«

Er hörte das leise Schnurren der Katze an seiner Brust. Dann stand er auf, um es sich in einem der beiden behaglichen Sessel im Wohnzimmer bequemer zu machen. Bens Wohnung lag im Norden des Stadtteils Wilshire, also etwas unterhalb von Hollywood, und war deshalb auch entsprechend teuer, aber dafür hatte er viel Platz und viel Ruhe und konnte ungestört arbeiten. Er hatte die Räume sehr komfortabel eingerichtet. Das Wohnzimmer war sehr bequem mit seinen Teppichen, Kunstgegenständen und einladenden Möbelstücken. Seine vielen Bücherregale hatte er im Arbeitszimmer untergebracht, das ganz in Leder und dunklem Holz gehalten war. Außerdem verfügte er über Schlafzimmer und Küche, mit separatem Eingang und einem Balkon. Ben fühlte sich wohl in seiner Wohnung und nutzte sie häufig als stillen Zufluchtsort.

Trotzdem konnte er sich an diesem Abend nicht so recht entspannen.»Es liegt an diesem alten Juden«, sagte er zu Poppäa, die ihre Nase an seinem Hals rieb.»David Ben Jona ist bei weitem interessanter als dieser gefälschte MarkusBrief.«

Ben stützte seinen Kopf gegen die Sessellehne und starrte an die Decke. Zumindest, dachte er kühl, würde ich eher an die Existenz von David Ben Jona glauben als an einen Heiligen namens Markus, der angeblich das Evangelium niederschrieb. Benjamin Messer räumte ein, daß ein römischer Jude mit Namen Johannes Markus wahrscheinlich im ersten Jahrhundert in Palästina gelebt hatte und vermutlich in die Aktivitäten der Zeloten verstrickt gewesen war. Aber wer war das in Judäa zu jener Zeit nicht? Doch daß er der Autor des früheren und kürzesten Evangeliums sein sollte, war höchst fragwürdig. Immerhin existierte das Markus-Evangelium vor dem vierten

Jahrhundert nicht einmal in irgendeiner vollständigen Form. Was, außer dem Glauben daran, konnte beweisen, daß das Markus-Evangelium» echter «war als zum Beispiel der Markus-Brief, der nun auf Bens Schreibtisch lag? Glaube.

Ben setzte seine Brille ab, die ihm ungewohnt schwer vorkam, und legte sie auf das Seitentischchen neben sich. Was war überhaupt Glaube, und wie konnte man ihn messen? Daß das Neue Testament erst seit ungefähr dem Jahr dreihundert nach Christus in schriftlicher Form nachweisbar war, schien den Glauben so vieler Millionen Christen nicht im geringsten zu beeinträchtigen. Daß die Geschichte von der Unbefleckten Empfängnis, von unzähligen Wundern und von der leibhaftigen Auferstehung nach dem Tod der Menschheit erst Jahrhunderte, nachdem sie sich angeblich zugetragen haben, in Handschriften überliefert worden war und daß ihre Urheberschaft bis heute nicht zweifelsfrei bestimmt werden konnte, hatte keine Auswirkungen auf die Überzeugung von Millionen. Das war Glaube. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Ben an seine Mutter Rosa Messer, die bereits vor vielen Jahren einen gnädigen Tod gefunden hatte. Und ebenso rasch schob er die Erinnerung daran beiseite. Es tat ihm nicht gut, jetzt an sie zu denken. Ebenso hatte Ben längst den Versuch aufgegeben, die wenigen Erinnerungen an seine Kindheit nach seinem Vater, Rabbi Jona Messer, zu durchforsten. Er war gestorben, als Ben noch ein kleiner Junge war.

Das war in Majdanek gewesen, einem Ort in Polen, an den Juden deportiert worden waren.

Das Telefon klingelte dreimal, bevor Ben aufstand, um den Hörer abzunehmen.

«Wie kommst du voran?«fragte Angie. Sie äußerte stets Interesse an seinem neuesten Übersetzungsvorhaben, und ob es nun echt oder gespielt war, spielte für Ben keine Rolle.

«Langsam«, gab er zurück.»Na ja, eigentlich geht es überhaupt nicht voran.«

«Hast du gegessen?«

«Nein. Hab keinen Hunger.«

«Willst du vorbeikommen?«

Ben zögerte. Gott, es wäre schön, bei Angie abzuschalten. Vor dem Kamin zu sitzen und die alten Manuskripte für eine Weile zu vergessen. Und mit ihr zu schlafen.

«Ich hätte wirklich große Lust dazu, Angie, aber ich habe Randall mein Wort gegeben. Gott, dieses Zeug ist der letzte Mist.«

«Kürzlich nanntest du es noch eine Herausforderung. «Ben lachte. Seine Verlobte hatte eine bemerkenswerte Gabe, jemanden aufzuheitern.»Das ist dasselbe. Ja, es ist eine Herausforderung. «Sein Blick schweifte zurück zum Schreibtisch, blieb aber nicht an der Fotokopie von Randalls Kodex, sondern an dem braunen Umschlag haften, der Weatherbys drei Fotografien enthielt. Das war es, was ihn wirklich beschäftigte. Nicht der alexandrinische Kodex oder sein Versprechen gegenüber Joe Randall. Es waren die drei Fragmente einer Schriftrolle, die vor kurzem in Khirbet Migdal ausgegraben worden war und deren letzte paar Zeilen noch nicht übersetzt waren.

«Angie, ich werde ein Nickerchen machen, dann aufstehen und die Arbeit in Angriff nehmen. Ich habe Randall versprochen, ich würde ihm in zwei Wochen die beste Übersetzung abliefern. Du verstehst schon.«

«Natürlich. Und paß auf, wenn es in deiner Magengegend zu rumoren anfängt, ruf mich an, und ich bringe dir einen Schmortopf vorbei.«

Er blieb am Telefon stehen, nachdem er aufgelegt hatte, und bemerkte gar nicht, wie Poppäa Sabina ihm um die Beine strich. Sie schnurrte und miaute abwechselnd und wand ihren schlanken Körper um seine Wade, um ihn auf verführerische Art daran zu erinnern, daß sie auch noch da war. Doch Ben nahm keine Notiz davon. Er dachte an die magdalenische Schriftrolle. In seiner ganzen Laufbahn war ihm so etwas noch nie begegnet. Und wenn von Weatherby noch weitere Rollen kommen sollten und wenn David Ben Jona etwas Interessantes zu sagen hatte, dann wäre Ben Messer an einer der größten historischen Entdeckungen beteiligt, die je gemacht worden waren. Er konnte es nicht mehr länger aushalten. Die Spannung wurde zu groß, und die Neugierde überwältigte ihn. Zum Teufel mit seiner Verpflichtung gegenüber Joe Randall und mit dem alexandrinischen Kodex. David Ben Jona hatte mehr zu sagen, und Ben wollte wissen, was das war.

Diese Segnungen sollen auf Dir ruhen, mein Sohn, auf daß Du Dich beim Lesen meiner Worte daran erinnerst, daß Du ein Jude bist, ein Sohn des Gelobten Landes und ein Teil von Gottes auserwähltem Volk. Da ich Jude bin, da mein Vater Jude war, so bist auch Du Jude. Vergiß dies niemals, mein Sohn.

Nun ist die Zeit für mich gekommen, Dir zu erzählen, was kein Vater seinem Sohn erzählen sollte, und dennoch sollst du es wissen — die Schande und das Grauen meiner Tat — denn dies ist meine letzte Beichte.

Ben beugte sich dichter über das Foto und richtete seine starke Schreibtischlampe neu aus. Er war fast am unteren Ende des Papyrus angelangt, und das Entziffern wurde immer schwieriger.

Jerusalem ist jetzt zerstört. Wir sind über ganz Judäa und Galiläa verstreut, viele von uns bis in die Wüste hinein. Ich bin nach Magdala, an den Ort meiner Geburt, zurückgekehrt, so daß er auch der Ort meines Todes sein wird. Wenn Du überhaupt nach mir suchst, so wirst Du hierher kommen. Und Du wirst hoffentlich diese Schriftrollen finden.

Ben starrte ungläubig auf die Schriftrolle. Es überwältigte ihn so sehr, daß er wie vom Donner gerührt dasaß. Er rieb sich die Augen, beugte sich noch dichter über das Manuskript und las es noch einmal ganz sorgfältig. Jerusalem ist jetzt zerstört. Es war zu phantastisch, um wahr zu sein! Diese vier Worte Jerusalem ist jetzt zerstört konnten nur eines bedeuten: Daß die Worte im Jahr siebzig oder kurz danach geschrieben worden waren!

«Großer Gott!«rief er aus.»Ich glaube es nicht!«Mit einem Ruck stand Ben auf, wobei er seinen Stuhl nach hinten umstieß. Vor ihm, eine Armlänge von ihm entfernt unter der Lampe, lagen funkelnd und glänzend David Ben Jonas neunzehnhundert Jahre alte Worte, die ihm ihre Botschaft über die Generationen hinweg entgegenschrien.

«Großer Gott.«, flüsterte er wieder. Dann hob er seinen Stuhl auf, setzte sich auf die Kante und legte seine Finger auf die Ränder der Fotografie. Lange saß Ben schweigend über der Schriftrolle und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Doch ohne Erfolg. Dies war mehr, als er sich erhofft hatte, mehr, als er sich je erträumt hatte. David Ben Jona hatte gerade seine eigenen Worte für die Nachwelt mit einem Datum versehen, so sicher, als hätte er das Jahr in leuchtendroter Tinte darübergeschrieben.

Die Aufregung machte Ben schwindlig. Er mußte Weatherby sofort davon unterrichten. Das war zu phantastisch, als daß man es glauben konnte! Die gesamte Gelehrten weit würde sich erheben und die Nachricht von dem Fund mit Beifall für John Weatherby und Lob für Benjamin Messer zur Kenntnis nehmen.

Ben versuchte sich zu entspannen und wurde allmählich etwas ruhiger. Er mußte erst ganz sichergehen, daß er das Manuskript richtig übersetzt hatte. Danach mußte er an Weatherby telegraphieren. Dann mußte er nochmals die ersten zwei Fotoabzüge durchgehen und sicherstellen, daß ihm auch dort bei der Übersetzung kein Fehler unterlaufen war.

Voller Freude nahm Ben Poppäa auf den Arm, hielt ihr Gesicht dicht an seines und murmelte:»Ich begreife nicht, wie du so kühl und gelassen sein kannst. Es sei denn, es ist dir egal, daß David Ben Jona uns gerade mitgeteilt hat, daß er etwa vierzig Jahre nach dem Tod Jesu schrieb. Was nur eines bedeuten konnte«, seine Augen hefteten sich wieder auf den Text,»daß David wahrscheinlich zur gleichen Zeit in Jerusalem lebte wie Jesus.«

Als Ben verstummt und er seine letzten Worte noch im Raum klingen hörte, kam ihm eine andere Idee. Er setzte Poppäa rasch auf den Boden und starrte auf die Fotos. Dieser neue Gedanke, der ihm so plötzlich, so unerwartet durch den Kopf schoß, ließ ihn frösteln. Nur mühsam konnte Ben seine Augen von dem Papyrus abwenden. Er blickte in sein dunkles Zimmer. Nein, dieser neue Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht.

Die plötzliche Vorstellung, daß Davids Fluch. der Fluch Mose. etwas mit diesem anderen Galiläer zu tun haben könnte. Und daß David ein Verbrechen zu beichten hatte. Benjamin zitterte, als der kalte Hauch der Vorahnung durch den Raum wehte.

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