Kapitel Drei

Angie deckte das Geschirr vom Abendessen ab und räumte die Küche auf, während Ben in ihrem Wohnzimmer eine Art» Reise nach Jerusalem «spielte.

Zuerst setzte er sich in einen Lehnstuhl und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Dann stand er auf und ließ sich auf den Diwan fallen. Eine Minute später sprang er auf und setzte sich auf das eine Ende der Couch, um sich gleich wieder zu erheben und sich auf dem anderen Ende niederzulassen. Nach einer kurzen Weile lief er im Zimmer umher, bevor er sich auf den Klavierhocker setzte, und als Angie wieder aus der Küche kam, fand sie ihn in dem Lehnstuhl, in dem er zuerst gesessen hatte.

«Ich denke, wir sollten heute abend besser nicht ins Kino gehen«, meinte sie.»Warum nicht?«

«Nun, normalerweise bleibt man während eines Films auf seinem Platz sitzen und. «Sie beschrieb mit dem Arm einen Bogen durchs Zimmer.

Ben lächelte und streckte seine Beine aus.»Tut mir leid. Ich glaube, ich bin nervös.«

Angie setzte sich auf die Armlehne und fuhr mit den Fingern durch Bens üppigen blonden Haarschopf. Es war der zweite Abend nach seiner sensationellen Entdeckung der Zeitangabe in David Ben Jonas Manuskript.

Er wirkte mit seinem sehnigen Körper fast athletisch, so daß man, wenn man ihn ansah, niemals ernstlich vermuten würde, daß sein Leben sich größtenteils zwischen Universität und Arbeitszimmer abspielte.

«Ich bin froh, wenn du wieder von Weatherby hörst.«

«Ich auch. David Ben Jona hatte kein Recht, mich so hängenzulassen. «Angie musterte Bens Gesicht eingehend und bemerkte, wie angespannt er war. Sie dachte darüber nach, wie aufgeregt er gewesen war, als er sie vor zwei Tagen angerufen und unzusammenhängendes Zeug in den Hörer gequasselt hatte. Er hatte weitergeplappert über Jerusalem, das zerstört worden sei, und einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, die Araber hätten einen atomaren Angriff unternommen. Doch dann hatte er etwas über die» Zeit Christi «gesagt, und Angie hatte erleichtert erkannt, daß Bens Erregung von den Schriftrollen herrührte.

Sie war die ganze Nacht mit ihm aufgeblieben, während er immer und immer wieder dieses dritte Foto durchgegangen war.»Nur ein einziges Mal in der gesamten Geschichte wurde Jerusalem völlig zerstört. Es geschah im Jahr siebzig unserer Zeitrechnung und versprengte die Juden in alle Himmelsrichtungen. Offensichtlich war auch David von dieser Katastrophe betroffen und floh in seine Heimatstadt, um sich dort zu verstecken. Ich bin überzeugt, daß meine Folgerung richtig ist. Ich bin sicher, nichts übersehen zu haben. «Dann hatte er sich das Foto noch einmal vorgenommen und es rasend schnell überflogen.»Siehst du? Siehst du hier? Dieses Wort ist ganz unmißverständlich. Und dieser kurze Satz hier. «Er hatte etwas in einer hartklingenden, fremden Sprache gemurmelt.»Es besteht kein Zweifel daran, was es besagt. Und es bedeutet auch, daß Weatherby mit seiner Schätzung fast zweihundert Jahre daneben lag, Angie!«Dann hatte er ihr über das außergewöhnliche geschichtliche Ereignis der Zerstörung der Stadt Jerusalem berichtet, bei der fast alle Bewohner infolge der Belagerung durch die römischen Streitkräfte den Tod gefunden hatten. Die Juden hatten sich schon jahrelang gegen die römische Herrschaft aufgelehnt. Es war häufig vorgekommen, daß Rebellen und Aufwiegler gekreuzigt worden waren. Und als schließlich ein Aufstand ausbrach, den die Geschichtsschreiber als ersten jüdischen Krieg bezeichnen, kostete es Rom fast fünf blutige Jahre, um ihn zu beenden.

«Siehst du, wir glauben, die Schriftrollen vom Toten Meer wurden in jene Höhlen gebracht, weil stets Gefahr von römischen Soldaten drohte. Die Essener-Mönche, die die Tonkrüge mit den Schriftrollen versteckten, rechneten damit, eines Tages zurückzukommen und sie zu holen. Die Masada-Handschriften wurden inmitten eines Ruinenfelds gefunden, das von der Zerstörung durch römische Legionen zeugt. Die Römer brannten die Festung nieder, nachdem sie sie eingenommen hatten. Und die Briefe von Simon Bar Kochba, dem letzten Führer des jüdischen Aufstandes, im Jahr einhundertfünfunddreißig nach unserer Zeitrechnung, wurden nach dem endgültigen und totalen Sieg über die jüdischen Patrioten in den Höhlen der Wüste Juda verborgen. Und jetzt gelangen wir zu David Ben Jona, der wegen des Einzugs der römischen Truppen nach Magdala flieht. Siehst du, wie alles zusammenpaßt?«

Angie hatte genickt und ein Gähnen unterdrückt. Dann hatte Ben weitererzählt, wie die Vernichtung Jerusalems den Staat Israel für Jahrhunderte ausgelöscht hatte.»Bis 1948. So lange brauchten sie, um das Land zurückzubekommen, um dessen Besitz sie neunzehnhundert Jahre vorher so verzweifelt gekämpft hatten. «Später war Ben in einen tiefen Schlaf gesunken, aus dem er sich durch nichts hatte wachrütteln lassen. Angie hatte am Morgen in der Universität angerufen und Bens Unterricht abgesagt, und am Nachmittag hatten sie beide an Weatherby nach Galiläa telegraphiert. Am Freitagmorgen war Ben schon viel ruhiger und wesentlich ausgeglichener gewesen und konnte die Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Er hatte wie gewöhnlich seine beiden Freitagsstunden gegeben und für drei seiner Studenten sogar Sprechstunden abgehalten.

Darüber dachte er jetzt nach, als er zu Hause saß. Angie war bei ihm und hatte ihren kühlen Arm um seinen Nacken gelegt, während sie ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr. Zunächst hatten ihn zwei Studenten aus seinem Kurs» Deutung hebräischer Manuskripte «sprechen wollen, doch als dritte war Judy Golden zu ihm gekommen, und über diese Begegnung dachte er nun nach.»Ich möchte das Thema meiner Seminararbeit ändern, Dr. Messer. «Sie war auf dem Stuhl ihm gegenüber in seinem winzigen Büro gesessen und hatte einen ganzen Stapel Bücher in den Armen gehalten. Ihr glänzendes schwarzes Haar hing ihr lose über die Schultern und rahmte ihr ungewöhnlich blasses Gesicht ein.

Als sie sprach, war es Ben aufgefallen, wie verschieden sie doch von Angie war. Dann war es ihm seltsam vorgekommen, daß er daran dachte.

«Wird das nicht schwierig für Sie? Ich denke, daß Sie die Materialsuche abgeschlossen haben und die Gliederung bereits feststeht.«

«Das ist richtig. Aber ich habe das Interesse an dem Thema verloren.

Na ja.«, sie blickte ihn unverwandt an,»nicht direkt das Interesse verloren. Nur war es so, daß mich etwas anderes mehr zu interessieren begann. Ich weiß, wie sehr Sie es mißbilligen, wenn man mitten im Semester das Thema wechselt, aber ich denke, ich könnte ein anderes Sachgebiet besser bearbeiten.«

Ben hatte nach seiner Pfeife gegriffen.»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«

Judy schüttelte den Kopf. Eigentlich störte es sie. Sie haßte es wie die Pest, wenn ihr jemand Rauch ins Gesicht blies. Doch schließlich war dies sein Büro, und sie wollte ihn um einen

Gefallen bitten. Ben machte wie üblich aus dem Anzünden seiner Pfeife ein langes Ritual und verbrachte die nächsten ein oder zwei Minuten schweigend damit. Als er endlich fertig war und sie durch eine graue Wand aus Tabakrauch anblickte, meinte er:»Ich sollte Ihnen eigentlich von einem solchen Schritt abraten, doch offensichtlich sind Sie mit einem anderen Thema glücklicher, und Ihre Zeugnisse zeigen, daß Sie eine gute Studentin sind. Ich werde mir also Ihr neues Thema notieren. «Er öffnete seinen schäbigen AllerweltsKarteikasten, nahm eine Karte heraus, strich etwas durch und hielt dann den Kugelschreiber bereit. Erwartungsvoll hob er die Augenbrauen.

«Der neue Titel soll lauten: >Das Hebräische des Eleasar Ben Jehuda<.«

Ben schrieb es auf, steckte die Karte zurück und zog an seiner Pfeife.»Es scheint kein leichtes Thema zu sein, obwohl es gut zum Unterrichtsstoff paßt. Aber was gefällt Ihnen nicht an Ihrem ersten Thema, >Die Sprache der Aschkenasim

«Es war zu eng und schränkte mich zu sehr ein. Und vielleicht war es auch nicht so gut auf das Thema des Unterrichts anwendbar. Was Ben Jehuda für das Hebräische tat, kann man heute im israelischen Rundfunk hören und in Zeitungen aus Tel Aviv nachlesen.«

«Es scheint eine sehr anspruchsvolle Arbeit zu sein. Werden Sie überhaupt so viel Zeit haben?«Judy grinste.»Mehr als genug.«

Ben paffte gedankenverloren an seiner Pfeife.»Worüber wollen Sie Ihre Magisterarbeit schreiben?«

«Nun, das steht für mich schon fest. Ich habe mich schon immer für besondere religiöse Gruppen interessiert, die sich dem Einfluß bedeutender historischer und religiöser Strömungen entzogen.«

«Wie die Samaritaner?«

«Ja genau, nur dachte ich daran, mich mit den Kopten, der christlichen Kirche Ägyptens, zu befassen. Vielleicht mit ihren Ursprüngen.«

«Tatsächlich? Irgendwie dachte ich, Sie würden sich etwas aussuchen, was näher mit Ihrer Heimat verbunden ist.«

«Warum? Für was halten Sie mich eigentlich, Dr. Messer, für eine strenggläubige Jüdin?«

Ben starrte sie eine Sekunde lang an, dann warf er seinen Kopf zurück und lachte. Seltsamerweise entsprach dies genau seinem Eindruck von Judy Golden — der Tochter Israels, der glühenden Zionistin.»Ich bin nicht einmal eine orthodoxe Jüdin«, fügte sie belustigt hinzu.»Tut mir leid, Sie zu enttäuschen. Ich koche am Sabbat.«

«Ach wirklich?«Er rief sich die samstäglichen Rituale und Beschränkungen ins Gedächtnis zurück. Heute konnte er darüber lächeln. Schon seit langem hatte er nicht mehr an diese so lange zurückliegenden trostlosen Sabbate gedacht. Und seltsam genug, jetzt, da er vor Judy Golden saß, wurde ihm erst bewußt, daß ihm die Worte» ich bin Jude «seit dreiundzwanzig Jahren wieder zum ersten Mal über die Lippen gekommen waren, als er sich vor zwei Tagen mit ihr unterhalten hatte. Damals hatte es ihn nicht überrascht, doch jetzt, in der Gegenwart dieses Mädchens, verwirrte es ihn.»Die Kopten sind eine interessante Gruppe«, hörte er sich selbst sagen.»Sie führen ihre Kirche auf den heiligen Markus zurück und haben dem gewaltigen Druck des Islam bis heute standgehalten. Ihr Museum im Süden Kairos ist ganz einzigartig.«

«Das kann ich mir vorstellen.«

Seine Pfeife ging langsam aus. Daher klopfte er sie in dem billigen Glasaschenbecher auf seinem Schreibtisch aus.»Zufällig bin ich übrigens gerade dabei, einen erst kürzlich gefundenen Kodex aus der Gegend von Alexandria zu übersetzen. Man hat ihn in einem alten, verlassenen Kloster entdeckt, das wohl im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert zum letzten Mal bewohnt war.«

«Wirklich?«

«Ich werde Ihnen diesen Kodex gerne einmal zeigen.«

«Oh, das wäre einfach.«

«Ich versuche, daran zu denken, ihn mitzubringen. Vielleicht nächste Woche. «Er schielte auf seine Armbanduhr. Um diese Zeit war die Post sicher schon da gewesen. Er wollte nach Hause. Es könnte ja etwas von Weatherby dabeisein, vielleicht eine weitere Schriftrolle.»Es ist nicht das Original, verstehen Sie, aber eine qualitativ gute Fotoablichtung. Die Urschrift wird in Kairo aufbewahrt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen.«

Ein lautes Krachen ertönte aus dem offenen Kamin, ein paar Funken flogen, und Ben kehrte in die Gegenwart zurück. Angie war aufgestanden und bürstete sich vor dem Spiegel die Haare. Er beobachtete sie dabei, während ihr bronzefarbenes Haar den Schein des Feuers widerspiegelte. Sie waren übereingekommen, zwischen zwei Semestern zu heiraten, und bis dahin lagen noch viele Wochen vor ihnen. Sie wollte ihre Einrichtung verkaufen und in seine Wohnung ziehen. Der einzige Grund, weshalb sie nicht schon jetzt zusammenlebten, war seine Arbeit. Dafür brauchte er Zurückgezogenheit, Ruhe und Einsamkeit.

«Vielleicht bekommst du ja morgen etwas«, tröstete sie ihn, als sie sein Gesicht hinter sich im Spiegel sah.

«Hoffentlich. «An diesem Nachmittag war er gleich im Anschluß an sein kurzes Gespräch mit Judy Golden nach Hause geeilt und hatte dort nur einen gähnend leeren Briefkasten vorgefunden.»Die nächste Rolle könnte möglicherweise noch weltbewegender sein. «Ben fühlte, wie sich seine Stirn in Falten legte. Inwiefern würde sich sein Leben durch die Heirat ändern? Wie konnten sie sich einigen, damit ihm seine gewohnte Privatsphäre auch dann erhalten bliebe, wenn Angie einzog? Sie hatte zwar versprochen, ihn nicht bei der Arbeit zu stören und nicht in sein Zimmer zu kommen, während er übersetzte. Und dennoch wurde er an Abenden wie diesem von winzigen Zweifeln beschlichen. Angie bestand darauf, ins Kino zu gehen. Es geschehe zu seinem eigenen Besten, meinte sie, wenn sie ihn dazu bringen konnte, sich ein wenig zu entspannen und seine Schriftrollen zu vergessen. Aber Ben war sich nicht sicher, ob er das wirklich wollte.

Am Montagmorgen fühlte er sich endlich wieder normal. Übers Wochenende hatte er viel Zeit allein verbracht und nachgedacht. Das hatte ihm geholfen, die Dinge wieder etwas klarer zu sehen. Schließlich war er Wissenschaftler und kein Romantiker. Nur weil die ersten drei Fragmente in einem so guten Zustand gewesen waren und solchen Zündstoff geboten hatten, hieß das noch lange nicht, daß das übrige Material aus dem Versteck in den Ruinen von Migdal ebenso ergiebig war. Er mußte sich auf eine Enttäuschung gefaßt machen und seine Hoffnungen nicht noch höher schrauben. Den ganzen Samstag und Sonntag über hatte er am alexandrinischen Kodex gearbeitet und Randall dann einen ausführlichen Tätigkeitsbericht geschickt.

Seine äußere Ruhe und seine Unvoreingenommenheit als Wissenschaftler wurden jedoch jäh erschüttert, als er am Montagnachmittag den Briefkasten öffnete und ihm daraus ein leicht beschädigter Briefumschlag mit israelischen Marken in die Hände fiel. Mit Überraschung stellte er fest, daß seine Handflächen schwitzten, als er seine beinahe schon rituellen Vorbereitungen für die Arbeit traf.»Ich bin aufgeregter, als ich dachte«, sagte Ben zu sich selbst. Dann lachte er leise. Er wußte, weshalb.»Niemand hat vor Tutenchamuns Grab von

Howard Carter gehört! Und noch hat niemand von Benjamin Messer gehört!«

Er ging durch das Zimmer und löschte alle Lichter, außer seiner Schreibtischlampe, so konnte er sich am besten auf seine Arbeit konzentrieren. Dann legte er ein paar Platten von Bach und Chopin auf und drehte den Ton ganz leise. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, vergewisserte sich, daß sich der Pfeifentabak in Reichweite befand, und nahm seinen Platz am Schreibtisch ein.

Er wischte sich die Handflächen an den Hosen ab. Ben war allgemein für sein unbekümmertes Wesen und seinen Sinn für Humor bekannt. Er lächelte viel und lachte oft und versuchte, die Dinge nicht zu ernst zu nehmen. Wenn jedoch seine Leidenschaft für alte Manuskripte ins Spiel kam, so wurde er schnell ernst. Er achtete die unbekannten Männer, über deren Wörter und Sätze er ganze Tage in mühevoller Arbeit zubrachte. Er ehrte ihre Ideale, ihre Hingabe und die Frömmigkeit, mit der sie ihre heiligen Worte niedergeschrieben hatten. Ben schätzte diese gesichts- und namenlosen Männer und hatte sogar ein wenig Ehrfurcht vor ihnen. Meistens stimmte er nicht mit ihren religiösen Anschauungen und ihrem nationalen Eifer überein. Ihre Überzeugungen waren nicht die seinen, und trotzdem bewunderte er sie wegen ihrer Inbrunst und Standhaftigkeit. Und jedesmal, wenn er sich einen neuen Text vornahm, verweilte er einen Augenblick, um sich des längst vergessenen Mannes zu erinnern, der ihn geschrieben hatte.

Diesmal waren es vier Fotos, die sich in einem versiegelten Innenumschlag befanden, an dem ein fehlerhaft getippter Brief von John Weatherby festgeklammert war. Dieses Schreiben las Ben zuerst. Der alte Archäologe berichtete in knappen Sätzen über die sich ausbreitende Neuigkeit von dem Fund und über die Aufregung, die dadurch entstanden war. Er sprach von vier weiteren Tonkrügen, die gefunden worden seien, von dem beklagenswerten Zustand von zweien der Schriftrollen und von der Hektik, mit der er zwischen Jerusalem und der Ausgrabungsstätte hin- und herhetzte. Weatherbys Brief endete mit den Worten:»Es tat uns leid, als wir die Rolle Nummer vier so stark beschädigt vorfanden. Und als wir feststellten, daß Rolle Nummer drei wegen eines Sprungs im Tonkrug nur noch als Teerklumpen geborgen werden konnte, waren wir alle sicher, daß der Fluch Mose auf uns lastete!«

Ben lächelte schmerzlich bei diesen letzten Zeilen. Es gab nicht wenige Leute, insbesondere Journalisten, die den Fluch des alten David Ben Jona begierig aufgreifen und zur Sensation hochjubeln würden. Man erinnere sich nur, was sie aus dem Fluch Tutenchamuns gemacht hatten! Er schüttelte den Kopf. Der Fluch Mose, freilich! Und was wird geschehen, wenn Weatherby mein Telegramm erhält? Dann wird jeder erfahren, wann David seine Beichte abgefaßt hat, und wenn das erst einmal durchsickert, wird es keine Ruhe mehr geben.

Ben malte sich in Gedanken die Schlagzeile aus: SCHRIFTROLLE AUS DER ZEIT JESU IN GALILÄA GEFUNDEN. Das wäre genug, um einen weltweiten Rummel auszulösen. Sag nur» erstes Jahrhundert «und» Galiläa«, und du hast rings um dich her eine Massenhysterie. Und wenn man dann noch einen antiken Fluch ins Spiel bringt. Schließlich löste Ben die Klammer und ließ die vier Fotos vorsichtig herausgleiten. An jedem von ihnen haftete in der rechten oberen Ecke eine Zahl, um auf die Reihenfolge hinzuweisen. Sie waren in der Abfolge aufeinandergelegt, in der sie gelesen werden sollten. Er steckte die anderen drei zurück und nahm sich das erste vor. Es zeigte zerfetzten Papyrus, der vor einem neutralen Hintergrund aufgenommen worden war. Sofort erkannte er David Ben Jonas Handschrift. Dieses Bruchstück maß sechzehn auf zwanzig Zentimeter, befand sich in relativ gutem Zustand und war in Aramäisch geschrieben.

Es ist gut für einen Mann, seinen Vater zu kennen, aber Du wirst über mich nur das erfahren, was ich Dir mitteile. Wisse, mein Sohn, daß Dein Vater David als Sohn von Jona Ben Ezekiel und seinem guten Weib Ruth vom Stamme Benjamins in der Stadt Magdala geboren wurde. Man schrieb damals das zwanzigste Herrschaftsjahr des Imperators Tiberius Claudius Nero, in dem Paulus Fabius Persicus und Lucius Vitellius Konsuln waren. Es war Dezember und das achtunddreißigste Jahr des Herodes Antipas, Tetrarch von Galiläa und Peräa.

«Guter Gott!«murmelte Ben erstaunt.»David Ben Jona, wirst du niemals aufhören, mich zu verblüffen?«

Er legte den Kugelschreiber nieder und massierte sich die Schläfen. Ben hatte Kopfschmerzen, die immer stärker wurden, und er wußte, daß sie von seiner wachsenden Anspannung und Aufregung herrührten. Zweifelnd starrte er wieder auf diesen ersten Abschnitt. Seine Bedeutung war schwindelerregend.

Die Tatsache, daß David bei seinen Zeitangaben sehr genau gewesen war, stellte wahrscheinlich sein größtes Geschenk an die Menschheit dar. Nicht, daß er damit etwas wirklich Weltbewegendes sagte. Aber die Bedeutung lag darin, daß er so feste Richtlinien für eine andernfalls unsichere Wissenschaft geschaffen hatte. Viele andere Manuskripte in Museen auf der ganzen Welt, die nur im nachhinein mit mutmaßlichen Datumsangaben versehen worden waren, könnten jetzt mit Davids Alphabet und Handschrift verglichen und zeitlich genauer bestimmt werden. Mit seinen eigenen Worten hatte der alte Jude den offiziellen Titel des Herodes bestätigt und dessen Herrschaftszeit mit der des Tiberius, des unmittelbaren Nachfolgers von Kaiser Augustus, in Verbindung gebracht. In diesen wenigen Zeilen hatte David Ben Jona durchblicken lassen, daß Magdala größer gewesen sein mußte, als man bisher vermutet hatte. Er gab sich auch selbst als ein weltlich gesinnter Mann zu erkennen, der gebildet und wahrscheinlich sogar ein Gelehrter war, obgleich er nicht hellenisiert war.

War das möglich? Ben putzte geistesabwesend seine Brille mit einem Hemdzipfel. Konnte ein solch weltlicher Jude wie dieser sich dem Einfluß seiner hellenistischen Umgebung entziehen und sein Judentum weiterhin bewahren? Wenn man Hillel und Gamaliel betrachtete, ja. Wenn man Saulus von Tarsus als Beispiel heranzog, ebenfalls.

Ben schauderte plötzlich. Als er noch einmal die Zeilen überflog, die er bereits übersetzt hatte, um sich von der Richtigkeit der Zahlen zu überzeugen, blieb er an dem Jahr des Kaisers Tiberius hängen. Im zwanzigsten Jahr. Tiberius hatte fast dreiundzwanzig Jahre lang regiert, von vierzehn bis siebenunddreißig nach der Zeitrechnung. Das würde bedeuten, daß David Ben Jona am dreizehnten Dezember im Jahr vierunddreißig nach der Zeitrechnung zur Welt gekommen war. Geboren war er im Jahr vierunddreißig nach der Zeitrechnung, und er hatte die Schriftrollen um siebzig nach der Zeitrechnung verfaßt. Damals mußte er also etwa sechsunddreißig Jahre alt gewesen sein. Ben spürte, wie seine Kopfschmerzen schlimmer wurden.»Er ist nicht älter als ich!«flüsterte er.»Er ist im gleichen Alter!«Er wußte selbst nicht genau, warum er von dieser Entdeckung so beeindruckt war. Er stand auf und ging langsam durch sein dunkles Wohnzimmer. Schließlich sank er in den Lehnstuhl und legte seine Füße auf den Diwan. Dann schloß er die Augen, um seine Kopfschmerzen abklingen zu lassen.

Ein junger David Ben Jona anstelle eines alten änderte plötzlich alles. Von Anfang an hatte Ben sich einen weißbärtigen alten Patriarchen vorgestellt, der mit gichtigen Händen über seinen kostbaren Rollen arbeitete. Es erschien einfach passend. Es waren stets die frommen alten Weisen, die mit einem gewissen Fanatismus Dinge niederschrieben.

Doch David Ben Jona war, wie es schien, ein kräftiger, junger Jude gewesen, nicht älter als Ben selbst, der von dem geheimnisvollen Entschluß getrieben worden war, seine Lebensgeschichte zu Papier zu bringen.

Aber warum sagt er dann, daß er bald sterben müsse? fragte sich Ben. Er hatte sich den Juden altersschwach auf seinem Totenbett liegend ausgemalt. Dabei verhielt es sich völlig anders. Wie kann ein Sechsunddreißigjähriger wissen, daß er bald sterben wird? Einem plötzlichen Drang folgend, lief Ben mit großen Schritten zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich wieder vor das Manuskript. Argwöhnisch blickte er auf jedes Wort, auf jeden Buchstaben. Nein, es gab keinen Zweifel. David Ben Jona war zwei Jahre nach dem überlieferten Datum der Kreuzigung Jesu geboren.

Ohne einen Augenblick zu zögern, begann Ben den Rest des ersten Fotos zu übersetzen.

Mein Vater — Dein Großvater, den Du nie kennenlerntest — war Fischer von Beruf. Nachts warf er auf dem See Genezar eth seine Schleppnetze nach Fischschwärmen aus, und tagsüber hängte er seine Netze zum Trocknen auf. Wir waren eine gesegnete Familie — fünf Knaben und vier Mädchen —, und wir alle halfen meinem Vater bei seiner Arbeit.

Hier endete das erste Fragment. Ben prüfte seine Übersetzung nochmals, steckte das Foto in den Umschlag zurück und zog das zweite Teilstück daraus hervor. Er wollte sich eben daranmachen, als das Telefon klingelte.

«Verdammt!«fluchte er leise und knallte seinen Kugelschreiber auf den Tisch.

«Ben, Liebling«, ertönte Angies Stimme,»ich habe darauf gewartet, daß du anrufst.«

«Ich habe heute nachmittag einen weiteren Umschlag von Weatherby erhalten. Eine vollständige Schriftrolle in vier Ausschnitten. Entschuldige, daß ich nicht dazu kam, dich anzurufen. Waren wir etwa verabredet?«

Während sie antwortete, blieben seine Augen an dem ersten Wort des Fotos Nummer zwei haften. Es hieß: Maria.

«Verabredet? Na hör mal, Ben, seit wann brauchen wir eine Verabredung? Paß auf, ich bin eben dabei, einen Braten zu machen.«

«Ich kann nicht, Angie. Nicht heute abend. «Schweigen.

«Es tut mir leid, Liebes, ehrlich. «Und das stimmte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ben daran, die Rollen für eine Weile ruhen zu lassen und sich bei Angie zu entspannen. Ihre Stimme klang wie immer höchst verlockend.»Du fehlst mir, Schatz«, bettelte sie sanft.

Ben seufzte und war schon drauf und dran nachzugeben, als sein Blick erneut den Namen Maria oben auf der Schriftrolle erhaschte.»Wirklich, Angie, ich kann nicht. Ich habe es Weatherby versprochen.«

«Und was ist mit Joe Randall?«Natürlich. Er hatte den Kodex vergessen.

«Und was ist mit mir?«Ihre Stimme klang zart, unwiderstehlich.»Hast du nicht auch mir ein Versprechen gegeben? Ben, du bist den ganzen Tag über an der Uni, und abends übersetzt du. Was bleibt da noch für uns übrig?«

«Es tut mir leid«, wiederholte er kraftlos.»Wirst du noch lange brauchen?«

«Das läßt sich schwer sagen. Wahrscheinlich nicht. Soll ich hinterher zu dir kommen?«

«Das wäre schön. Die Uhrzeit spielt keine Rolle. Brauchst nicht zu hetzen. Ich weiß, wie wichtig die Manuskripte sind. Alles klar?«

«Alles klar. Bis später.«

Er wandte sich dem zweiten Fotoabzug zu. Die erste Zeile lautete: Maria und Sarah und Rahel und Ruth waren meine Schwestern. Die nächsten beiden Abzüge waren im Handumdrehen übersetzt, denn es handelte sich dabei nur um Namenslisten und Familienstammbäume. Drei von Davids Schwestern waren verheiratet und lebten in verschiedenen Teilen von Syria-Palästina. Eine war im Alter von zwölf Jahren an einem Blutsturz gestorben. Seine vier Brüder, allesamt älter, hießen: Moses, Saul, Simon und Judas, in dieser Reihenfolge. Die drei ältesten hatten geheiratet und waren in Magdala geblieben. Judas, der jüngste, war in einem der vielen unberechenbaren Stürme auf dem See ums Leben gekommen.

Wir waren keine arme Familie und dankten Gott jeden Tag für seine Gaben und Segnungen. Mein Vater war ein frommer Mann und befolgte das göttliche Gesetz, wie die besten Juden es tun. Er ging in die Synagoge, um mit den Gelehrten zu sprechen, und las jeden Tag in den heiligen Schriften. Er war kein weltlich gesinnter Mann und lebte nach einer grundlegenden Wahrheit, die besagte:»Denn der Herr behütet den Weg der Gerechten, doch der Weg der Sünder führt in den Abgrund.«

Bens Herz zuckte leicht zusammen. Diese letzten Worte — die er nicht so oft gelesen hatte, wie er sie gehört hatte — klangen für ihn so vertraut, daß er sich im Stuhl zurücklehnen mußte.»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, murmelte er ungläubig. Wie lange war es her? Wie viele Jahre waren vergangen, seit er genau diesen Satz zum letzten Mal gehört hatte, diesen Satz, den man ihm immer und immer wieder vorgesagt hatte, so daß er zum ständigen Begleiter seiner Kindheit geworden war? Die Tatsache, daß die Worte nun, nach so vielen Jahren, wieder aus den dunkelsten Winkeln seiner Erinnerung zu ihm drangen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Und eine vertraute Stimme, eine, die er längst vergessen hatte, klang nun seltsam fern und doch nahe zugleich an sein Ohr:»Benjy, erinnere dich immer daran, was dein Vater dich gelehrt hat, daß Gott den Weg der Gerechten behütet, und daß der Weg der Sünder in den Abgrund führt.«

Das Lieblingszitat seines Vaters, das dem ersten Psalm entstammte, war den meisten Leuten nicht geläufig. Für Ben aber war es eines der vertrautesten Leitmotive seiner Kindheit gewesen, denn seine Mutter hatte es mindestens einmal am Tag wiederholt. Es war die Grundphilosophie seines Vaters gewesen, und Rosa Messer hatte dafür gesorgt, daß ihr Sohn sich diesen Satz einprägte. Nur daß Ben seit über zwanzig Jahren nicht einen Gedanken an diese Worte verschwendet hatte! Bis jetzt.

Ben Messer blickte mit halb zugekniffenen Augen auf das aramäische Schriftstück, und eine bittersüße Wehmut überkam ihn. Wie erschütternd, gerade jetzt auf genau diese Worte zu stoßen! Wie sonderbar, daß dieser seit Jahrhunderten tote Jude sie nun zu ihm sprach und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten in ihm weckte.

Zwei Jonas, der eine war vor zweitausend, der andere vor dreißig Jahren gestorben, und beide hatten sie nach derselben Philosophie gelebt, nach derselben düsteren Warnung aus den Psalmen. Ben starrte eine Weile vor sich hin und dachte an die lange begrabene Erinnerung, die David zufällig ans Tageslicht gebracht hatte. Ben durchlebte sie nur für einen Augenblick, wandte sich dann aber von ihr ab und drängte die Vergangenheit in den Schatten zurück. Ben lächelte wehmütig. Die Erschütterung hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn für einen Moment die Arbeit vergessen lassen, die vor ihm lag. Eine Sekunde lang war er das hilflose Opfer von Davids Macht gewesen, der Macht, das Vergangene zurückzubringen. Jetzt schüttelte er den Kopf und zwang sich, die Übersetzung wiederaufzunehmen.

Einmal nahm er uns alle mit nach Jerusalem zum Passahfest, und obwohl er beim Anblick des Tempels und beim Erklingen des Widderhorns Tränen in den Augen hatte, war er doch froh, zu seinem einfachen Leben am Seeufer zurückzukehren. Die Tage meiner Kindheit verliefen unbeschwert und ruhig und wurden nur einmal erschüttert, als ich neun Jahre alt war. Bei demselben Bootsunglück auf dem See, bei dem mein Bruder Judas ums Leben gekommen war, hatte ich mir das Bein gebrochen. Und obgleich es rasch heilte, blieb mir davon ein hinkender Gang zurück, der bis zum heutigen Tag nicht von mir gewichen ist. Als meine Brüder zu Männern herangewachsen waren, traten sie in die Fußstapfen unseres Vaters und wurden Fischer. Nur ich bildete die Ausnahme. Ich glaube, mein Vater hatte sein ganzes Leben lang etwas anderes mit mir, seinem jüngsten Sohn, vorgehabt. Ich ertappte ihn oft dabei, wie er mich bei verschiedenen Gelegenheiten mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ansah. Und ich nehme an, daß ich aus diesen nur ihm bekannten Gründen im Alter von dreizehn Jahren von Magdala weggeschickt wurde, um in Jerusalem zu Füßen der Gelehrten zu studieren. Und dies, mein Sohn, ist der Zeitpunkt, an dem alles begann.

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