Die Veränderung fiel Judy sofort auf. Bens Augen waren nicht mehr blaßblau, sondern dunkelbraun.
Er stand vor ihr und blickte mit einem Lächeln auf den Lippen fast mitleidvoll auf sie herab.»Judith.«, sagte er mit einer unwiderstehlich weichen Stimme.
Als er sich ihr einen Schritt näherte, wich sie zurück.»Warum fürchtest du dich vor mir, Judith?«
«Ich. «Sie suchte krampfhaft nach einer Antwort. Doch es gab keine. Sie konnte nur verwundert den Kopf schütteln und ihr Herz klopfen hören. Ihre Kehle war vom Schreien heiser geworden. Und nun folgte auf den Schock tiefe Bestürzung.
«Wie kannst du dich nach so langer Zeit noch vor mir fürchten?«fragte er sanft.»Judith. «Ben streckte beide Hände nach ihr aus, und Judy schreckte erneut zurück.»Weißt du denn nicht, wer ich bin?«
«Wer. bist du?«
«Ich bin David«, erklärte er mit einem beteuernden Lächeln.»Nein!«schrie Judy und schüttelte heftig den Kopf.»Sag das nicht!«
«Aber es ist wahr.«
«Und wo ist Ben?«
«Ben? Ach so, der hat niemals existiert. Es hat nie einen Benjamin Messer gegeben.«
«O Gott«, wimmerte Judy. Tränen schossen ihr in die Augen und ließen ihn vor ihr verschwimmen.»Ich will, daß Ben zurückkommt. O Gott, was ist nur geschehen?«
Bens Gesichtsausdruck änderte sich und verriet nunmehr Besorgnis.»Bitte, es ist doch nicht meine Absicht, dich zu erschrecken. Weiche nicht vor mir zurück, Judith. Ich brauche dich.«
«O Ben«, entfuhr es ihr. Als ihre Tränen zu fließen begannen, unterdrückte sie ein Schluchzen.»Was. was ist mit deinen Augen passiert?«
Er zögerte einen Augenblick und überlegte. Dann meinte er lächelnd:»Es ist interessant, nicht wahr, daß sie jetzt eine andere Farbe haben? Ich kann es dir nicht erklären, doch ich nehme an, daß dieser Veränderung eine große Bedeutung zukommt.«
Judy starrte den Mann vor sich verstört an, während sie jede Sekunde erwartete, aus diesem Alptraum zu erwachen.
Er fuhr fort:»Es hat nie einen Benjamin Messer gegeben, weil ich schon immer David Ben Jona war. Ich habe über so viele Jahre hinweg geschlummert. Erst die Schriftrollen haben in mir mein eigenes Ich zum Bewußtsein erweckt und mich daran erinnert, wer ich wirklich war. Und jetzt bin ich zurückgekommen, um wieder zu leben. Verstehst du?«
Nein, es lag nicht nur an seinen Augen; das wurde Judy allmählich klar. Zwar, stellten sie die einzige körperliche Veränderung an ihm dar, doch es hatte sich noch ein anderer Wandel an ihm vollzogen. Es war sein Auftreten, seine ganze Haltung. Ruhig und selbstsicher war dieser Mann, nicht derselbe nervöse, von Ängsten geplagte Mensch, der ihr wenige Stunden zuvor gute Nacht gesagt hatte. Dieser Fremde mit dem blonden Haar und den dunkelbraunen Augen wirkte völlig entspannt und selbstbewußt. Er stand in lässiger Haltung vor ihr und sprach in einem Ton, der einen völlig gelösten und von sich selbst überzeugten Mann verriet.
«Ich weiß, daß es schwer für dich sein muß«, hörte sie ihn sagen,»und daß du Zeit brauchen wirst, um dich an mich zu gewöhnen. Bis jetzt hast du mich ja bloß für einen Geist gehalten. «Er sprach diese Worte mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Akzent. Deutsch? Hebräisch?
«Wird Ben zurückkommen?«fragte sie im Flüsterton.»Er kann nicht zurückkommen, weil er nie existierte. Weißt du, als ich Benjamin war, glaubte ich zuerst, David verfolge mich. Dann dachte ich, er wolle von mir Besitz ergreifen. Doch diese Annahmen waren falsch, denn ich war ja die ganze Zeit über David. Benjamin war derjenige, den es nie gab.«
Von einer plötzlichen Übelkeit ergriffen, wandte Judy sich jäh von ihm ab und preßte ihre Hand auf den Bauch.»Warum weist du mich zurück?«fragte er fast flehentlich.»Ich. ich weise dich nicht zurück«, hörte sie sich selbst antworten.»Ich lehne es nur ab, dir zu glauben.«
«Aber du wirst es schon noch tun. Siehst du, das erklärt so vieles. Letzte Nacht, als wir die Rolle lasen. «Er ging lässig an ihr vorbei und nahm auf der Couch Platz.»Als wir gestern nacht die Rolle lasen, da fiel mir auf, daß es an dem Abschnitt über Poppäa Sabina etwas Merkwürdiges gab. Erinnerst du dich?«
Da es ihr schwerfiel, laut zu sprechen, flüsterte Judy nur:»Ich erinnere mich.«
«Es gab daran etwas, das ich nicht genau bestimmen konnte. Natürlich weiß ich jetzt, was es war. Poppäa Sabina heißt doch meine Katze, und aufgrund dieses Erlebnisses kam ich darauf, sie nach der Kaiserin zu nennen. Als ich die Katze vor zwei Jahren kaufte, erinnerte sie mich an Neros Frau, die ich in ihrem Streitwagen an mir hatte vorüberfahren sehen.«
Judy kniff die Augen fest zusammen.»Nein«, murmelte sie kaum hörbar.
«Und als du mir die Brille angeboten hast, brauchte ich sie nicht mehr, denn schon letzte Nacht war ich nicht mehr Ben. Ich sah, wie sehr du dich über meinen Zustand beunruhigt hast, aber es gab keinen Grund zur Besorgnis, liebe Judith, da es sich nur um das letzte Stadium meiner Selbstwerdung handelte.«
Sie schlug die Augen auf und starrte ihn an, als wäre er ein Monster.
«Bitte, komm und setze dich zu mir.«
«Nein.«
«Bitte, halte dich nicht von mir fern. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen. Ich dachte, du würdest dich freuen. «Als er traurig den Kopf schüttelte, tauchte im Eingang zur Küche eine kleine schwarze Gestalt auf, die den Mann auf der Couch mit mißtrauischem Blick und stark geweiteten Pupillen beäugte. Poppäa lief vorsichtig ein paar Schritte in seine Richtung, doch als er sich vorbeugte, um sie zu locken, machte sie einen Buckel und fauchte ihn an. Ben lachte nur leise.»Das tut sie, weil ich jetzt ein Fremder für sie bin. Sie wird mich schon noch kennenlernen, und dann werden wir Freunde sein.«
Judy blickte die Katze ungläubig an. Poppäas Fell war gesträubt, ihre Ohren lagen flach am Kopf an. Im nächsten Augenblick schoß sie voller Angst in die Küche zurück, und man konnte hören, wie sie sich in einem kleinen Winkel verkroch.
«Sie wird es schon noch lernen«, ließ sich Bens sanfte Stimme vernehmen.»Und auch du wirst dich daran gewöhnen, liebste Judith. «Judy blickte ihn an und sah ein traurigsüßes Lächeln auf seinem Gesicht. Seine ganze Haltung, sein ganzes Wesen schien um Vergebung und Annahme zu bitten. Und als sie ihn so sah, fühlte Judy, wie ihr Herz ihm entgegenschlug.
«Ich fürchte mich vor dir«, gestand sie schließlich.»Aber das mußt du doch nicht. Ich würde dir nie etwas zuleide tun.«
«Ich weiß nicht, was du bist. Ich weiß nicht, wer du morgen oder selbst in der nächsten Stunde sein wirst. Und das macht mir Angst.«
«Aber es ist alles vorbei, Judith, siehst du das nicht? Kein Identitätskampf und kein Bemühen um Selbstfindung mehr. Die Höllenqualen, die Benjamin Messer durchstehen mußte, die Alpträume und die Tränen und die quälenden Gedanken waren nichts anderes als die Schmerzen meiner Geburt. Es war notwendig, daß er, daß ich all dies erduldete, damit ich wiedergeboren werden konnte. All das gehört nun der Vergangenheit an, meine liebe Judith, denn ich bin jetzt eins mit mir selbst und mit meiner Persönlichkeit ins reine gekommen. Ich hoffte, du würdest verstehen.«
Sie musterte ihn noch ein wenig länger und näherte sich dann vorsichtig und behutsam der Couch. Während sie sich auf der äußersten Kante, so weit wie möglich von ihm entfernt, niederließ, hielt sie fortwährend die Augen auf ihn gerichtet. Endlich flaute ihre Übelkeit ab, und die Unruhe verebbte. Die erste Erschütterung war vorüber, und jetzt ließ auch die Bestürzung nach. Statt dessen fühlte sich Judy unsicher, weil sie nicht wußte, was sie als nächstes tun sollte. Ben streckte seine Hand aus, als wollte er ein Geschenk überreichen. Judy ergriff sie und fühlte, wie sie noch ruhiger wurde. Er lächelte ihr beruhigend zu und erweckte den Anschein von völliger Kontrolle und Selbstvertrauen. Seine Hand war warm und zart, seine Stimme ermutigend.»Was sich verändert hat, hat sich verändert, und es gibt keinen Weg zurück. Was gestern war, wird nie wiederkehren. Benjamin Messer lebt nicht mehr. Ich war nicht glücklich in dem Leben von damals. Aber in diesem hier bin ich es. «Judy spürte, wie er ihre Hand drückte und sie ein wenig zu sich hin zog. Zuerst wehrte sie sich, gab dann aber nach und ließ es zu, daß er sie auf der Couch nahe an sich heranholte. Er hielt sie mit beiden Armen umschlungen, aber so leicht, als befürchtete er, sie zu zerbrechen, und er sprach mit gefühlvoller Stimme:»Du kannst mich doch unmöglich als Ben gemocht haben, denn dieser Ben war ein geplagter Mann.
Er war ein Mensch, der seine Vergangenheit und sein Erbe verleugnete und der immer etwas sein wollte, was er nicht war. Benjamin Messer war nur eine Seite meiner Persönlichkeit, und es tut mir leid, daß du gerade diese kennenlernen mußtest. Nun, da ich David Ben Jona bin. «Er zog sie an sich und drückte ihr Gesicht gegen seinen Hals.»Doch nun, da ich endlich David Ben Jona bin, kannst du, teure Judith, in deinem Herzen vielleicht ein wenig Liebe für mich finden.«
Als Judy erwachte, lag sie im Bett. Obgleich sie noch alle Kleider anhatte, war sie zugedeckt, und ihre Schuhe standen fein säuberlich neben dem Bett. Ein ermutigend heller Tag flutete durchs Fenster und brachte die noch an der Scheibe hängenden Regentropfen zum Glitzern. Durch das Geäst der Bäume hindurch konnte sie weiße Wolken und blauen Himmel erkennen. Und durch die offenstehende Tür hörte Judy, wie jemand im angrenzenden Zimmer herumhantierte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Obgleich ihr die unheilvollen Ereignisse der letzten Nacht auf Anhieb wieder einfielen, konnte sie sich nicht daran entsinnen, ins Bett gegangen oder eingeschlafen zu sein. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war, daß sie mit Ben eng umschlungen auf der Couch gesessen und seiner sanften Stimme gelauscht hatte, die auf unwiderstehliche Weise von Liebe gesprochen hatte.
Sie war sich unschlüssig, ob sie aufstehen sollte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie vielleicht im Nebenzimmer vorfinden würde. Bens Wahnsinn konnte in jede Richtung losbrechen; seine vorübergehende Festigkeit konnte durch die leichteste Herausforderung ins Wanken geraten. Doch obwohl es ihr widerstrebte, ihm gegenüberzutreten, verlangte es sie danach, an seiner Seite zu bleiben und über ihn zu wachen. Sie steckte in einem unüberwindlichen Zwiespalt der Gefühle: Einerseits verspürte sie den Drang, aus diesem Irrenhaus zu fliehen; andererseits hegte sie den Wunsch, Ben zu helfen, die Krise durchzustehen. Sie stand geräuschlos auf und schlich leise ins Bad, um von ihm nicht gesehen zu werden. Judy versuchte, eine Entscheidung zu treffen, was sie als nächstes tun sollte.
Unter der kühlen Dusche wichen die Erinnerungen an die unheilvolle vorangegangene Nacht einer analytischen Betrachtungsweise. Als sich ihre Schläfrigkeit verlor und der Schrecken allmählich nachließ, fühlte Judy sich eher in der Lage, die Situation zu meistern. Immerhin hatte Ben — in seiner neuen Identität als David — noch keine Neigung zu Gewalttätigkeiten erkennen lassen. Und wenn er seine gegenwärtige Ruhe und Gelassenheit beibehielte — zumindest bis die letzte Rolle gelesen war —, könnte sie gut mit ihm fertig werden. Was danach geschehen würde, konnte sie sich nicht im geringsten vorstellen. Und es war ihr im Augenblick auch gleichgültig. Momentan ging es für sie und Ben allein darum, einen weiteren Tag irgendwie durchzustehen.
Er schaute auf, als sie ins Zimmer kam, und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.»Guten Morgen, Judith. Fühlst du dich besser?«
«Ja, danke. «Sie musterte ihn vorsichtig.
«Du bist in meinen Armen eingeschlafen, und da habe ich dich ins Bett getragen. Du bist so leicht; es war, wie wenn man ein Kind hochhebt.«
Als er sprach, starrte Judy ihn mit wachsender Faszination an. Der Mann vor ihr war, mit Ausnahme der braunen Augen, in jeder Hinsicht Benjamin Messer. Nur war es nicht.
Er kam auf sie zu und ergriff ihre Hand. Dann führte er sie zum Eßtisch.
Nein, dieser Mann war zweifellos verändert. Er mochte genauso aussehen wie Ben Messer, unterschied sich aber von ihm durch sein ganzes Verhalten. Die Gebärden und das zuweilen etwas gespreizte Benehmen gehörten zu einem anderen. Und seine Art, sich zu geben, war völlig neu. Dieser Mann erschien älter, reifer und auffallend selbstsicher. Er war ein Mensch, der sich selbst voll unter Kontrolle hatte und es gewohnt war, den Ton anzugeben. Er setzte sich an den Tisch vor eine dampfende Tasse Kaffee und einen Teller mit Eiern und Buttertoast. Während er ihr gegenüber Platz nahm, erklärte er:»Ich habe schon gegessen. Bitte, laß es dir schmecken, du wirst dich gleich besser fühlen. «Judy merkte beim Essen, wie hungrig sie eigentlich war. Gierig verschlang sie das Frühstück und stürzte zwei Tassen Kaffee hinunter. Während sie aß, hielt Ben/David seinen beunruhigenden Blick ständig auf sie geheftet und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Ein kaum merkliches heimlichtuerisches Lächeln umspielte die ganze Zeit über seinen Mund. Zweimal wollte sie etwas sagen, doch jedesmal hob er eine Hand und meinte:»Iß zuerst. Später werden wir uns unterhalten. «Und sie gehorchte.
Anschließend gingen sie zusammen ins Wohnzimmer, das zu Judys Überraschung mit peinlicher Gründlichkeit gereinigt worden war. Sogar der Weinfleck auf dem Teppich erschien blasser, und alles wirkte sauber und ordentlich. Ohne nachzusehen, vermutete sie, daß es im Arbeitszimmer wohl genauso aussah.
Als sie sich auf der Couch niederließen, sagte Ben:»So, nun fühlst du dich sicher besser. Ist es dir jetzt immer noch unbehaglich, mit mir zusammen zu sein?«
«Ich weiß nicht«, antwortete sie unsicher.»Bist du.?«Er lachte herzlich.»Ja, ich bin noch immer David. Ich habe dir doch gestern nacht gesagt, daß Ben fort ist und nie mehr wiederkommt. Aber ich sehe ein, daß es Zeit braucht, dich davon zu überzeugen. Das ist schon in Ordnung, denn ich bin ein geduldiger Mensch. «Judy lehnte sich bequem auf der Couch zurück. Jetzt, da sie gegessen hatte, fühlte sie sich wirklich besser und überlegte, was sie als nächstes sagen sollte.»Wenn du David Ben Jona bist«, begann sie vorsichtig,»dann kannst du mir ja sicher verraten, was in der nächsten Rolle steht?«
Er lächelte vielsagend.»Du willst mich auf die Probe stellen, Judith. Das ist ein Zeichen von Ungläubigkeit, und ich will, daß du an mich glaubst. Tust du das?«
«Du weichst meiner Frage aus.«
«Und du meiner.«
Judy drehte sich um, so daß sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte.»Ich habe keine Lust, Wortspiele mit dir zu veranstalten, Ben. Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist. Du behauptest, du seist jetzt der wiedergeborene David. Ist das richtig?«
«Wenn dir diese Ausdrucksweise zusagt, ja. Aber es ist mehr als eine Wiedergeburt, mehr als eine Wiederverleiblichung, denn, siehst du, ich war ja nie wirklich fort. Als Benjamin Messer bin ich die ganze Zeit über hier gewesen.«
«Ich begreife.«
«Das glaube ich nicht.«
«Nun, zumindest versuche ich es. «Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn wieder.
Ja, diese neue Persönlichkeit war zweifellos umgänglicher. Benjamin Messer war ein Mensch gewesen, der von seiner Vergangenheit gequält wurde und mit dem man nur schwer auskommen konnte. Als David von ihm Besitz ergriffen hatte, war er still und in sich gekehrt. Doch dieser neue Zustand, in dem er nun tatsächlich den Juden verkörperte, war beinahe angenehm. Er wirkte vernünftig, war mitteilsam und schien einigermaßen gefestigt.
Wenn er nur nicht plötzlich wieder in eine andere Zeit abglitt oder von Gedächtnisschwund heimgesucht würde; wenn er keine Wutausbrüche bekam, wie Ben sie zuvor gehabt hatte, dann wäre diese neue Entwicklung möglicherweise nur von Vorteil. Zumindest im Augenblick.
«Und wie soll es weitergehen?«fragte sie ruhig.»Das kann ich nicht wissen. Die Zukunft ist mir ebenso unbekannt wie dir.«
«Aber gewiß kannst du nicht als Ben Messer weitermachen.«
«Und warum nicht? Der Name hat mir bis jetzt gute Dienste geleistet. Ich kann die Identität auch noch eine Weile länger benutzen, bis ich mir über meine Pläne klar werde. Doch wie dem auch sei, liebe Judith«, er griff nach ihrer Hand,»sie werden dich mit einschließen. «O Ben, schrie sie innerlich voller Verwirrung, ich will, daß du mich immer mit einschließt! Und ich liebe dich über alles. Aber was bist du jetzt? Wer bist du? Und wer wirst du morgen sein?» Warum schaust du so traurig, Judith?«Sie wandte ihr Gesicht ab.»Weil ich Ben liebe.«
«Aber ich bin doch der gleiche Mann.«
«Nein«, entgegnete sie schnell,»nein, das bist du nicht.«
«Nun. «Seine Stimme wurde leiser.»Kannst du in deinem Herzen nicht auch ein wenig Liebe für mich finden?«
Sie wandte sich jäh um. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Sehnsucht und sanfte Trauer wider. Sie spürte, wie er mit den Fingerspitzen ihre Wange streichelte, hörte seine liebevolle Stimme. In ihren Augen war es Ben, der da ungeschickte Versuche unternahm, mit ihr zärtlich zu werden, doch im Herzen wußte sie, daß es ein anderer Mann war. In seinem Identitätskampf hatte Ben die Schlacht verloren und auf sonderbare Weise die Persönlichkeit des Mannes aus den Schriftrollen angenommen. Aus welchen unausgesprochenen Bedürfnissen und verborgenen Gründen heraus es auch geschehen sein mochte, Ben hatte sich nun einmal entschlossen, David zu werden, einfach, weil er nicht mehr stark genug war, als Ben weiterzuleben.»Ich will dich zurück«, flüsterte Judy in einem letzten Versuch, auf ihn einzuwirken.»Schick David dorthin zurück, wo er hingehört, Ben, und komm zurück zu mir.«
Doch der Mann, der sie weiter geheimnisvoll anlächelte und mit seinen tiefsinnigen, dunklen Augen liebevoll anblickte, war nicht Benjamin Messer.
Es war unvorstellbar, daß die nächste Rolle an diesem Nachmittag eintreffen würde, und doch war es so. Nummer zwölf kam wie gewöhnlich als Einschreiben und erforderte die übliche Unterschrift. Aber diesmal wurde sie anders in Empfang genommen. Anstelle der Erregung und Unruhe, die Ben beim Erhalt der vorangegangenen Rolle an den Tag gelegt hatte, wurde Rolle Nummer zwölf mit Gelassenheit und stiller Freude entgegengenommen. Ben stieg in aller Seelenruhe die Treppe hinauf und betrat die Wohnung. Dann lief er voll Bedacht umher, legte Heft und Bleistift zurecht und stellte das Licht richtig ein. Pfeifenhalter, Tabaksbeutel und Aschenbecher waren vom Schreibtisch entfernt und aus dem Blickwinkel verbannt worden — sie waren nicht länger notwendig. Poppäa Sabina, die sich auf dem Drehstuhl zusammengerollt hatte, machte einen Buckel und fauchte Ben an, als er sich näherte. Dann sprang sie vom Stuhl und schoß wie ein Pfeil aus dem Zimmer. Ben schüttelte nur den Kopf.
Judy blieb zögernd an der Tür stehen und beobachtete ihn, wie er sich langsam darauf vorbereitete, die nächste Rolle in Angriff zu nehmen. Das war nicht der Ben, den sie früher gekannt hatte, der zu diesem Zeitpunkt die Fotos schon herausgezerrt, den Umschlag auf den Fußboden geworfen und bereits die ersten Worte übersetzt hätte, noch bevor er sich hingesetzt hatte.
Als er aufblickte und sie im Türrahmen stehen sah, fragte er:»Bist du nicht interessiert?«
«Doch schon.«
«Nun, dann komm und setz dich neben mich. Lies, während ich schreibe. Wir werden diese Tage meines Lebens noch einmal miteinander durchleben.«
Während Judy einen Stuhl heranzog und sich neben ihn setzte, murmelte sie:»Weißt du nicht bereits, was darin steht?«Doch er gab keine Antwort.
Rolle Nummer zwölf befand sich in erbärmlichem Zustand. Sie setzte sich aus sechs Bruchstücken zusammen, deren Kanten zerfressen waren; mitten auf der Seite klafften Löcher, und stellenweise war die Handschrift unleserlich. Doch was verblieb, war noch immer ein großer Teil und sehr informativ.
Ich kehrte heim in ein von politischen Unruhen geschütteltes Judäa. Meine Landsleute sahen sich immer weniger imstande, die Anwesenheit unserer römischen Oberherren hinzunehmen, und ich gewahrte überall Anzeichen des Aufruhrs. Salmonides und ich waren beide zutiefst erschrocken, als wir entlang der Straße nach Joppe so viele Kreuze sahen, und fragten uns verwundert, ob die Zelotenbewegung in unserer Abwesenheit derart Zulauf bekommen hatte. Wir sahen auf den Straßen auch wesentlich mehr römische Legionen als früher, viele von ihnen bis zu den Zähnen bewaffnet und von Rom neu ausgerüstet, und wir erkannten, daß uns unruhige Zeiten bevorstanden.
Aber nach einer Abwesenheit von so vielen Monaten war es schön, wieder unter Freunden zu sein und meine Lieben in die Arme zu schließen. Sie hatten sich alle in meinem Haus zusammengefunden: Saul und Sara und der kleine Jonathan; Rebekka und unsere Freunde von den Armen und sogar Jakob, der in seinen weißen Gewändern abseits der Gruppe stand und sich in asketisches Schweigen hüllte. Saul wusch meine Füße, als ich hereinkam, und ich bemerkte, daß er Tränen in den Augen hatte. Er sprach:»Wahrlich, es ist ein freudiger Tag, der mir meinen Bruder zurückgebracht hat! Wir haben dich vermißt, David, und jeden Tag gebetet, daß dir in Babylon nichts zustoßen möge.«
Ich bemerkte, daß er seine besten Kleider trug und daß er seinen Gesetzesunterricht heute hatte ausfallen lassen, um den ganzen Tag mit mir zu verbringen. Dann kam Rebekka zu mir. Sie fiel mir um den Hals und küßte mich und ließ ihre Tränen ungehindert auf meine Schulter fließen. Wenn sie auch tief im Herzen vor Sorge vergangen war, so sprach sie es dennoch nicht aus. Auch erinnerte sie mich mit keinem Wort an die Einsamkeit, unter der sie in meiner Abwesenheit gelitten hatte. Rebekka war eine gute Frau, die wußte, daß ich aus Notwendigkeit gehandelt hatte.
So hielt ich sie auf Armeslänge von mir weg und versprach:»Es wird in Zukunft keine Reisen nach Rom mehr geben, meine Liebste, denn ich habe genug gesehen.«
Als nächster begrüßte mich der kleine Jonathan, dessen Wiedersehensfreude keine Grenzen kannte. Er drückte mich an sich und küßte meine Wangen und plapperte, ohne Luft zu holen, über all die Dinge, die ich versäumt hatte, während ich weg gewesen war. Und mein Herz lachte vor Freude, ihn zu hören und ihn anzuschauen, denn ich liebte den kleinen Jonathan innig. Er hatte Sauls Gabe, schnell Freundschaft zu schließen, und er hatte das schöne Gesicht seiner Mutter. Doch tief im Herzen wußte ich, daß ich Jonathan so übermäßig liebte, weil ich noch immer kein eigenes Kind hatte und daran schier verzweifelte.
Als Sara zu mir trat, um mich willkommen zu heißen, wurden meine Knie weich, und mein Herz schrie auf, denn sie war noch immer die eine Frau, die ich über alles liebte, und es war ihr Bild gewesen, das ich in den endlosen Nächten auf See vor mir gesehen hatte. Seitdem sie den Armen beigetreten war und viel Zeit in der Gesellschaft von Miriam und den anderen Frauen verbrachte, war Sara noch schöner und strahlender geworden, Ihr Glaube an Gott und an die Wiederkehr des Königreichs Israel hatten ihr eine besondere innere Schönheit und eine Ruhe verliehen, die sich in ihren Augen widerspiegelten.
Seit dem Tag im Olivenhain hatten wir nie wieder von Liebe gesprochen. Doch man kann sich einander auch auf andere Art als durch Worte mitteilen, und an diesem Tag sah ich auf ihrem Gesicht und in ihren Augen, daß sie mich noch immer liebte. Jakob, der Führer der Armen, wartete, bis alle mich begrüßt hatten, bevor er selbst zu mir trat und mir den Friedenskuß gab. Dann sprach er:»Bruder, es bereitete uns großen Kummer, dich in Babylon zu wissen, während wir stets in dem Bewußtsein lebten, daß das Königreich Gottes nahe bevorstand. Josua wird vielleicht schon morgen vor den Toren Jerusalems stehen, und wir befürchteten, daß du an diesem glorreichen Tage noch immer fern von uns weilen könntest. Aber jetzt bist du zurück und wirst das zweite Kommen des Messias nicht versäumen.«
Jakobs stechende Augen drangen in meine Seele vor, und ich sah in seinem Blick den festen Glauben an die bevorstehende Wiederkunft seines Bruders. Er ergriff meine Arme und sprach kein Wort mehr, aber in seinem Gesicht konnte ich seine Gedanken lesen. Er sagte mir, daß dies wirklich die letzten Tage seien, von denen die Propheten gesprochen hatten, denn allerorten herrsche Unruhe und Aufregung. Dies waren die Weissagungen von Jesaja, Jeremia und Daniel: Es wird eine Zeit kommen, da ein Greuel der Verwüstung herrschen wird und das Königreich Zion wiederhergestellt wird.
In meiner Abwesenheit hatten meine Weinberge und Ölpressen mich zu einem noch wohlhabenderen Mann gemacht, so daß ich selbst viele adlige Familien in Jerusalem an Reichtum übertraf. All dies verdankte ich meinem Freund Salmonides, der mit den Jahren nicht zu altern schien und dessen scharfer Verstand nie nachließ. Er verhielt sich auch weiterhin ehrlich und treu und nahm nie mehr als das ihm zustehende Honorar, aus dem ihm mit der Zeit ebenfalls ein kleines Vermögen erwachsen war. Wenn ich ihn pries, winkte er ab und meinte, ich sei der Pfiffige, und er sei nur mein Verwalter. Wie dem auch sei, als ich ein Alter erreichte, in dem die meisten Männer voller Stolz einen kleinen Laden ihr eigen nennen oder sich mit einem Fischerboot zufriedengeben, sprach sich der Reichtum von David Ben Jona allmählich herum, und ich war ein einflußreicher Mann.
Als Mitglied der Armen teilte ich sehr viel von meinem Besitz mit der riesigen Glaubensgemeinschaft, die ständig an Größe zunahm. Neben Jakobus und den Zwölfen predigten nun auch andere Gefolgsmänner in den Städten und auf dem Land von dem Königreich, das kommen sollte, und von dem Meister, der bald zurückkehren würde. Und wenn die Juden allenthalben die Schwerter der Römer erblickten und die Zeloten an Kreuzen hängen sahen, da wußten sie in ihren Herzen, daß die Endzeit tatsächlich begonnen hatte. So wuchs unsere Anhängerschaft unglaublich rasch, bis die Zahl unserer Mitglieder in die Zehntausende ging.
Und während in vielen Häusern Jerusalems mit Brot und Wein das Abendmahl begangen wurde, während sich immer mehr Juden taufen ließen und das Glaubensbekenntnis des Neuen Bundes ablegten, blieb mein Freund und Bruder Saul weiterhin ein Außenstehender.
In mancherlei Hinsicht erinnerten mich die Diskussionen mit ihm an jene, die ich vor Jahren mit Eleasar geführt hatte, als
Simon dabei gewesen war, mich zu überzeugen. Denn jetzt führte ich Saul gegenüber Simons Worte im Munde, und aus seinen Argumenten sprach Eleasar.
«Die Zeit, in der Gott das Königreich Israel neu errichten wird, ist noch nicht gekommen«, versicherte Saul.»Was du in dem Buch Daniel gelesen hast, hast du falsch ausgelegt. Die Zeit, da der Messias von Israel unter uns erscheinen wird, liegt noch in weiter Ferne.«
Dann zitierte ich ihm Jesaja und Esra und Jeremia, um ihm zu beweisen, daß meine Auslegung der Prophezeiungen die richtige sei.»Es sind die letzten Tage, mein Bruder Saul; du kannst es ja überall sehen. Es sind gewaltige Umwälzungen im Gange. «Saul schüttelte nur den Kopf.»So war es auch zur Zeit der Makkabäer«, entgegnete er.»Doch kein Messias kam.«
«Aber diese hier sind schlimmere Zeiten«, gab ich zu bedenken. Und so gingen unsere Argumente hin und her. Saul war ein guter Rabbi und im Tempel sehr begehrt. Er war ein frommer Jude und kannte den Wortlaut des Gesetzes besser als irgendein anderer. Und so stimmte es mich traurig, daß er nicht an die Rückkehr unseres Meisters glaubte. Denn dies würde ein glorreicher Tag sein, und Zion würde wieder neu erschaffen.
Es begab sich, daß wir Kunde von der Feuersbrunst in Rom erlangten, die große Teile der Stadt zerstört und Krankheit und Hunger über Rom gebracht hatte. Und wir hörten auch, daß unser alter Freund und Bruder Simon in der Arena hingerichtet worden war, da man ihn verdächtigt hatte, an der Legung des Feuers beteiligt gewesen zu sein.
Wir von den Armen versammelten uns in Miriams Haus und sprachen Gebete und sangen Psalmen zum Andenken an diesen Mann, der einst des Meisters bester Freund gewesen war und als erster den Messias in ihm erkannt hatte.
Und wir beteten in dieser Nacht auch, weil wir fühlten, daß der Tod Simons — der seinen Namen in Petrus geändert hatte — und seines Freundes Paulus nur als Ankündigung der letzten Tage gedeutet werden konnte. Nun, da Josuas bester Freund um seinetwillen den Märtyrertod gestorben war wie vor ihm schon Stephanus und Jakobus, der Sohn des Zebedäus, müßte unser Meister zu seinem Volk zurückkehren und es zum Sieg über die Unterdrücker führen. Doch es standen uns noch schlimmere Zeiten bevor. Viele unter den Armen waren Zeloten. Diese Männer gingen nun dazu über, sich zu bewaffnen. Selbst unter den Essenern, die in der Vergangenheit jegliche kriegerische Auseinandersetzung abgelehnt hatten, griffen viele nun zum Schwert, weil sie glaubten, der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit stünde nahe bevor. Sie sagten:»Der Messias von Israel steht schon fast vor den Toren, und er wird uns nicht unvorbereitet antreffen. Er ging fort, damit wir die Botschaft verkündigen und das Wort verbreiten sollten; aber nun ist er auf der Straße, die zur Stadt führt, und wir müssen bereit sein, für Zion zu kämpfen.«
Obgleich ich dem nicht zustimmte und selbst nicht zum Schwert griff, wollte ich meinen Glaubensbrüdern nicht das Recht aberkennen, sich zu bewaffnen. Denn es waren die letzten Tage. Ironischerweise trug Saul nun ein Schwert bei sich, denn er hatte Berichte über Aufstände in ganz Galiläa und Syrien gehört. Von Dan bis Beerscheba begannen Juden sich gegen die Unterdrückung durch Rom aufzulehnen.
Bis spät in die Nacht saßen wir von den Armen in unseren Häusern beim Abendmahl zusammen und horchten auf die Trompeten, welche die Ankunft des Messias verkünden würden. Und in diesen Nächten beobachtete ich Sara, die ihre Arme um Jonathan geschlungen hatte und mit gesenktem
Haupt ins Gebet vertieft war, und ich freute mich, daß sie so gläubig war.
Im Frühling des folgenden Jahres schändete Prokurator Gessius Florus den Tempelschatz. Von da an hatten wir keine Stunde Frieden mehr.
Judy starrte auf die unregelmäßige Handschrift im Übersetzungsheft und konnte sich nicht erinnern, sie gelesen zu haben. Ben war den ganzen Abend, bis spät in die Nacht hinein damit beschäftigt gewesen, das aramäische Schriftstück zu entziffern, und Judy hatte jedes Wort gelesen, sowie er es niedergeschrieben hatte. Doch nun, da es keinen Papyrus mehr zu lesen gab und die letzte Zeile übersetzt war, kam es ihr vor, als sähe sie das Notizpapier zum erstenmal. Auch Ben schien verwirrt auf das zu starren, was er gerade geschrieben hatte. Er hielt den Bleistift noch immer über dem Blatt, und seine Hand wartete darauf, mehr zu schreiben. Doch das sechste Teilstück war jäh zu Ende gegangen und ließ sie beide ratlos zurück. Es verging eine Weile, bevor sie aus ihrer Starre erwachten, und es war Judy, die sich als erste regte. Plötzlich wurde sie sich starker Rückenschmerzen bewußt und bemerkte, wie verspannt ihr Körper war, und so befreite sie sich langsam aus der Haltung, in der sie so lange ausgeharrt hatte, und schaute auf die Uhr.
Es war kurz nach Mitternacht, und sie starrte mehrere Minuten auf das erleuchtete Zifferblatt, bevor ihr eigentlich klar wurde, was sie sah.
«Mein Gott«, murmelte sie und beugte ihre steifen Glieder,»wir haben hier acht Stunden lang gesessen!«Dann blickte sie auf Ben. Er war noch immer über das letzte Foto gebeugt. Den Bleistift hielt er über dem Heft, und seine Augen waren auf die letzte Zeile der aramäischen Schrift geheftet. Ein leichter Schweiß war auf seiner Stirn ausgebrochen und rieselte ihm nun an den Schläfen hinunter auf den Hals. Sein Hemd war naßgeschwitzt, und seine Haut zeigte eine ungewöhnliche Blässe.
«Ben«, sagte Judy ruhig,»Ben, es ist vorbei. Das war das Ende der Rolle.«
Als er nicht antwortete, nahm sie ihm sachte den Bleistift aus den Fingern und ergriff seine Hand.»Ben? Kannst du mich hören?«Schließlich wandte er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Seine braunen Augen wirkten jetzt noch dunkler, da er gänzlich erweiterte Pupillen hatte. Sein Blick war völlig leer und teilnahmslos. Winzige Tränen spiegelten sich darin.
«Ben, du bist erschöpft. Wir haben acht Stunden hier am Schreibtisch verbracht, und sieh dich nur an. Du mußt dich hinlegen. «Ben löste sich langsam aus seiner Betäubung, schluckte heftig und fuhr sich mit einer trockenen Zunge über die Lippen.»Ich hatte vergessen«, begann er heiser,»ich hatte vergessen, wie es damals war. Ich hatte vergessen, wie schlimm diese Tage waren.«
«Ja, das waren sie. Komm mit, Ben.«
Obwohl er imstande war, aufzustehen, mußte er sich doch auf Judy stützen. Sie legte einen Arm um seine Hüfte und schleppte sich mühsam mit ihm ins Wohnzimmer, während sie die feuchtkalte Klebrigkeit seines Körpers spürte. Dort brachte sie ihn durch gutes Zureden dazu, sich auf der Couch auszustrecken und den Kopf auf ein Kissen zu legen. Dann setzte sie sich neben ihn, sah ihm ins Gesicht und wischte ihm behutsam den Schweiß von der Stirn.»Es bleibt nur noch eine Rolle übrig«, flüsterte sie,»nur noch eine einzige. Und dann ist alles vorbei.«
Ben schloß die Augen, und die Tränen flossen an seinem Gesicht herunter. Ein leiser, wimmernder Ton entwich seiner Kehle und schwoll allmählich zu einem rauhen Schluchzen an.»Wir warteten auf den Messias«, jammerte er.»Wir warteten und warteten. Er hatte gesagt, daß er wiederkäme. Er hatte versprochen.«
«Ben.«
«Ich bin nicht Ben!«schrie er plötzlich und stieß ihre Hand weg.»Ich bin David Ben Jona. Und ich bin ein Jude. Der Messias wird kommen, und Zion wird wiederhergestellt, wie es in den alten Büchern prophezeit wurde.«
Judy rührte sich nicht. Sie behielt ihn fortwährend im Auge, entschlossen, sich keine Angst einjagen zu lassen. Einen Moment später fuhr Ben sich mit beiden Händen übers Gesicht und murmelte:»Es tut mir leid. Verzeihe mir. Es war die Überanstrengung, die Anspannung.«
«Ich weiß«, erwiderte sie sanft.
Ben wischte sich die Tränen weg und wandte Judy dann seine volle Aufmerksamkeit zu. Er bemerkte die Sorge in ihren Augen, die liebevolle Art, mit der sie sich um ihn kümmerte.»Wir waren eine Weile dort, nicht wahr?«meinte er.»Wir waren wieder im alten Jerusalem. «Sie nickte.
«Und du warst die ganze Zeit über bei mir. «Er streckte eine zitternde Hand aus und strich über ihr langes Haar.»Ich habe dich jede Minute an meiner Seite gespürt, und es machte mich froh. Du fragst dich wahrscheinlich, was das Ganze bedeuten soll.«
«Ja.«
«Und ich ebenfalls, aber der Sinn und Zweck von dem allen ist auch mir nicht enthüllt worden. Es sollte eben sein, und so sollten wir uns damit abfinden. Bald wird meine letzte Rolle eintreffen, und diese ist wirklich die letzte, und dann wird uns Gottes Absicht offenbart. «Judy richtete sich auf und schaute weg. Sie ließ ihre Augen durch das dunkle Zimmer schweifen und versuchte angestrengt, etwas zu sehen, was nicht da war. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, wie es gewesen war, eine Weile in Jerusalem zu verbringen, an der Seite eines Mannes zu sein, den sie liebte, sich vollkommen einem Glauben zu verschreiben, der, wie sie wußte, den Kern aller anderen Glaubensrichtungen bildete.
In diesem Augenblick gelangte Judy zu einer überraschenden Erkenntnis. Als Ben über ihr Haar strich und mit besänftigender Stimme auf sie einredete, wurde ihr klar, daß sie, während sie in der Nacht zuvor verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Ben zu sich selbst zurückzubringen, heute nacht gar nicht mehr sicher war, daß sie dies wollte.
Wie sie ihn so ansah, in Bens Gesicht schaute, dessen Augen jedoch einem anderen Mann gehörten, wußte sie, daß sie, wenngleich sie ihn letzte Nacht zu sehr geliebt hatte, um ihn zu David werden zu lassen, ihn heute nacht zu sehr liebte, um ihn zurückzuverwandeln.»Du bist glücklich, nicht wahr?«flüsterte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.»Ja, das bin ich.«
Wie kann ich dann nur wünschen, daß du wieder unter Bens Qualen zu leiden hast? fragte sie sich verzweifelt. Ist es nicht weniger grausam, dich in diesem Zustand zu belassen?» Judith, du hast ja Tränen in den Augen.«
«Nein, nein, das kommt nur von dem vielen Lesen. Acht Stunden. «Sie erhob sich jäh und wandte sich von der Couch ab. Diesen Mann zu lieben und bei ihm zu bleiben bedeutete nur eines: daß auch sie die Wirklichkeit aufgeben und den Wahnsinn mit ihm teilen mußte.
«Ich brauche einen Kaffee«, verkündete Judy mit fester Stimme und stürmte in Richtung Küche davon.
Dort in der Dunkelheit, ihr Gesicht gegen die Wand gepreßt, sah sie den Entscheidungen ins Auge, die sie treffen mußte. Wenn sie bei Ben bleiben und seinen Wahnsinn ertragen wollte, führte kein Weg daran vorbei, daß sie selbst ein Teil dieses Wahnsinns würde.
Und als sie in die Dunkelheit starrte, kamen die Phantasiebilder zurück: das kurze Aufblitzen von Palmen, staubigen Straßen und engen Gassen, der Lärm von Straßenhändlern auf dem Marktplatz, der Duft von Jerusalem im Sommer, der Geschmack von gewässertem Wein.
Es wäre so leicht.
Judy riß sich selbst aus den Träumereien und schaltete das Licht ein. Daß ihr eigener gesunder Menschenverstand und ihr Bezug zur Wirklichkeit rasch dahinschwanden, darüber bestand kein Zweifel mehr. Alles, was ihr blieb, war die Entscheidung, es wieder geschehen zu lassen oder jetzt wegzurennen und nie mehr zurückzukommen. Judy hatte keine Zeit mehr, das eine gegen das andere abzuwägen, denn plötzlich wurde sie durch Geräusche, die aus einem anderen Zimmer kamen, aufgeschreckt. Sie trat aus der Küche und sah sich um.
Im Schlafzimmer brannte Licht. Sie näherte sich vorsichtig und blieb im Türrahmen stehen. Ben war dabei, die Schubladen der Kommode zu durchwühlen.»Was suchst du?«fragte sie.»Den Reisepaß.«
«Den Paß?«
«Ben hatte einen Reisepaß, aber ich erinnere mich nicht, wo ich ihn hingelegt habe.«
Judy stellte sich neben ihn und musterte ihn stirnrunzelnd.»Wozu willst du deinen Reisepaß?«
Ohne aufzusehen, brummte er:»Um nach Israel zu kommen. «Sie riß die Augen auf.»Israel!«
«Er muß irgendwo hier drinnen sein. «Und er begann, Haufen von Kleidungsstücken herauszuheben und auf den Fußboden zu werfen.
«Ben. «Sie legte eine Hand auf seinen Arm.»Ben, warum willst du nach Israel gehen?«
Er gab keine Antwort. Seine Bewegungen wurden hastiger, hektischer.»Ich weiß, daß er da drinnen ist!«
«Ben, antworte mir!«schrie sie.
Endlich richtete er sich auf, und der vor Wut rasende Blick, den Judy in seinen Augen wahrnahm, jagte ihr panischen Schrecken ein.»Um nach Israel zu gehen!«brüllte er zurück.»Es wird dort einen Aufstand geben, und ich muß bei ihnen sein. Ich kann nicht hier in diesem fremden Land bleiben, während meine Brüder vom Feind erschlagen werden.«
«Erschlagen! O Ben, hör mich an!«
Er fing wieder an, die Schublade zu durchwühlen. Judy packte ihn am Arm und rief:»Aber du kannst nicht nach Israel gehen! Dort wartet nichts auf dich. Dieser Krieg fand doch schon vor zweitausend Jahren statt. Er ist vorbei, Ben. Er ist vorbei!«
Zweimal versuchte er, ihre Hand abzuschütteln, doch das dritte Mal ergriff er sie und stieß sie von sich.»Steh mir nicht im Weg, Frau!«
«Aber Ben.«
Judy versuchte abermals, ihn festzuhalten, diesmal mit beiden Händen. Doch als sie das tat, drehte sich Ben jäh zu ihr um, packte sie an den Schultern und schleuderte sie heftig von sich. Judy taumelte zurück, blieb mit dem Fuß am Bett hängen und stürzte zu Boden. Sie lag ausgestreckt zu seinen Füßen und blickte erstaunt zu ihm auf. Im nächsten Moment erstarrte Ben. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte ungläubig zu Boden. Dann sank er wortlos auf die Knie nieder und streckte in einer Gebärde der Hilflosigkeit die Hände aus.
«Was habe ich getan?«stammelte er.
Judy rührte sich nicht, sondern blieb mit zitterndem Körper und leicht geöffneten Lippen liegen.
Ben starrte sie noch immer an. Sein Gesicht drückte Bestürzung und Verwirrung aus.»Die Person, die ich über alles liebte, die Frau, die mir teurer war als mein eigenes Leben und die ich einmal sogar über die Thora stellte. «Seine Stimme klang belegt und dumpf.
Ben schaute auf seine Hände hinunter und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Und während er so vor dem stummen Mädchen kniete, überkam ihn ein heftiges sexuelles Verlangen. Und er wußte, daß es tausendmal stärker war als das, was er damals, vor vielen Jahren, im Olivenhain verspürt hatte. Er wurde überwältigt von dieser schrecklichen, brennenden Begierde, diesem plötzlichen heftigen Verlangen, noch einmal in Sara einzudringen, noch einmal die Gesetze der Thora und den Bund der Freundschaft mit Saul zu brechen. Als er so vor ihr auf den Knien lag und sie wie einen Sperling zittern sah, hatte er auf einmal den Wunsch, diesen wunderbaren Nachmittag von einst noch einmal zu erleben und an nichts anderes zu denken als daran, diese Frau zu besitzen.
Aber ich darf es nicht, hielt sein Verstand dagegen, denn sie ist keine freie Frau, und ich bin kein freier Mann. Es ist ein unmittelbarer Verstoß gegen Gottes Gesetz und eine Herabwürdigung meiner Freundschaft zu Saul. Und dennoch.
Er starrte weiter auf seine Hände und zwang sich, nach unten zu sehen, denn er wußte, wenn er einmal zu Sara aufblickte, würde er sich in der Tiefe ihrer Augen verlieren.
«Ben«, flüsterte eine zarte Stimme. Sie war schwach und zerbrechlich wie der Körper, von dem sie kam, zart wie die Frau, die er so abscheulich von sich gestoßen hatte.
Er antwortete nicht. Schauer der Leidenschaft marterten seinen Körper, und der gepeinigte Mann kämpfte mit seiner ganz Willenskraft gegen die heftige Begierde an, die in ihm brannte. Dann ein anderes sanftes Flüstern:»David. «Es war eine einschmeichelnde Stimme. Eine süße, unwiderstehliche, schüchterne Einladung.
Schließlich gab er auf und sah sie an. Und der Anblick des kleinen, blassen Gesichtes und der langen, schwarzen Haare ließ sein Herz fast zerspringen. Nachdem er einmal schwer geschluckt hatte, brachte er mit schwacher Stimme heraus:»Wir dürfen es nicht, Sara, Liebste. Dieses eine Mal hätte nie sein dürfen.«
Eine unendliche Trauer lag in ihren Augen, ein Leid, das ihn bestürzte. Es war, als ob sie ihn wollte und dennoch in ihrem Innern einen persönlichen Kampf austrug, von dem er nichts wußte. Wie hätte er es auch wissen sollen? Daß sie in ihrer großen Liebe zu Ben und im Bewußtsein, daß sie Ben niemals würde haben können, gewillt war, sich David hinzugeben. Aus dem Verlangen heraus, Ben zu haben, würde sie sich einem Fremden schenken und vorgeben, eine andere Frau zu sein.
«Es ist schon lange her«, flüsterte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Er faßte ihre Hand und drückte die Fingerspitzen an seine Lippen. Ein gewaltiges Grollen wurde in seinen Ohren laut. Jegliches Empfindungsvermögen schien ihn zu verlassen. Sanft hob Ben Judy vom Boden auf und trug sie auf seinen starken Armen zum Bett, wo er sie behutsam niederlegte.
«Sara, weine bitte nicht«, murmelte er in völliger Verwirrung.»Ich lasse dich, wenn das dein Wunsch ist.«
Doch sie streckte ihre kleine Hand nach der seinen aus, und er spürte, wie fiebrig sie war. Wieder hielten ihn seine treue Ergebenheit zu Saul und die strengen Vorschriften der Thora vom nächsten Schritt zurück, so daß er eine Sekunde lang unentschlossen über ihr stand. Judy blickte flehentlich und ebenso verwirrt wie er zu ihm auf. Sie spürte, wie ihr eigenes sexuelles Verlangen alle anderen Empfindungen zurückdrängte und den letzten Zweifel besiegte. Schließlich ergab sie sich und murmelte:»Wenn nicht Ben, dann eben David. «Und zu dem Mann, der über ihr stand, sagte sie:»Nun, mein Liebster, so wollen wir die Gunst der Stunde nutzen. «Im Nu war er über ihr, und seine Leidenschaft entfesselte sich. Er küßte ihren Mund mit einer Heftigkeit, über die sie beide erschraken. Judy schmeckte, wie sich das Salz ihrer Tränen mit dem Geschmack seiner Zunge mischte. Sie spürte, wie sein Mund den ihren verschlang, und versuchte, die Schluchzer in ihrer Kehle zu unterdrücken.