Kapitel Acht

Ben ging geradewegs ins Badezimmer und besprengte sein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Während er es mit einem groben Handtuch trockenrieb, lief er ins Arbeitszimmer zurück und schaute auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig. Die Sonne war vor einer halben Stunde aufgegangen.

Das Arbeitszimmer glich einem Schlachtfeld. Während seiner langen Übersetzungsnacht hatte Ben jedes Nachschlagewerk, das er besaß, herausgezogen, hatte über jedem Wort und jedem Buchstaben Davids geschwitzt, hatte kontrolliert und gegengeprüft und schließlich in einem Durcheinander von Büchern, Papieren und Tabakresten sein Werk beendet.

Er rieb seine schmerzenden Arme und hinkte in die Küche, um sich einen Pulverkaffee zu bereiten. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer bemerkte er, daß seine Schreibmaschine wieder in ihrem Koffer auf dem Tisch stand und daß ein Stoß Papier fein säuberlich darauf lag. Sein Übersetzungsheft und eine tadellos getippte Abschrift lieferten den einzigen Beweis dafür, daß Judy dagewesen war. Er schaute aus dem Fenster auf den bedeckten Himmel. Die Gehsteige waren noch immer naß, die Bäume glänzten vom Regen. Wann war sie gegangen? Wann hatte sie leise ihre Arbeit beendet und war auf Zehenspitzen, ohne ein Wort zu sagen, aus der Wohnung geschlichen?

Ben ging in die Küche. Die beiden Kaffeetassen und die Teller vom Vorabend waren gespült und weggestellt worden. Der nicht verzehrte Kuchen lag, sauber in Zellophan eingewickelt, auf einer Ablage im Kühlschrank.

Er konnte sich an ihr Weggehen nicht erinnern. Eine halbe Stunde später, als er mit seinem Kaffee und dem

Übersetzungswust von Rolle fünf auf dem Schoß auf der Couch saß, wurde Ben von einem Klopfen an der Tür aufgeschreckt. Lächelnd stand er auf und dachte bei sich: >Aha, Judy, Sie sind also zurückgekommen, um mir zu sagen, was für ein miserabler Gastgeber und rücksichtsloser Arbeitgeber ich bin. Wieviel schulde ich Ihnen für das Tippen? Ich zahle Ihnen das Doppeltem Zu seiner Überraschung war es nicht Judy.»Angie!«rief er erstaunt.

«Hallo, Liebling!«Frisch und lebhaft kam sie herein, drückte ihm einen Kuß auf die Wange und hielt ihre Nase in die Luft.»Rieche ich Kaffee?«

«Es ist Pulverkaffee«, erklärte er verwirrt.

«Das ist mir auch recht. «Angie drehte sich lächelnd zu ihm um.»He, du hast dich ja noch gar nicht rasiert. Bin ich zu früh?«

«Wofür?«

Sie lachte.»Ein Komiker zu dieser frühen Morgenstunde! Weißt du, ich habe versucht, dich anzurufen, bevor ich weggefahren bin. Ich wollte sichergehen, daß du auch schon auf bist. Aber deine Leitung war belegt. Hast du schon wieder den Hörer abgenommen? Ganz schön ungezogen von dir!«

Sie wandte sich um und ging in Richtung Küche davon. Als er sie so betrachtete, ihren schlanken Körper in den engen, gelben Hosen und der geblümten Bluse, da fiel es ihm plötzlich siedendheiß ein.»O Gott!«murmelte er. Und ein flaues Gefühl überkam ihn. Ben stellte sich neben die Küchentür und beobachtete Angie, die dabei war, Kaffee zu machen. Er fragte sich, wie er seinen nächsten Satz in Worte fassen sollte. Alles, was er herausbrachte war:»Angie. «Das reichte. Sie war eben im Begriff, den Pulverkaffee in ihre Tasse zu löffeln, doch plötzlich hielt sie inne, erstarrte für eine Sekunde, dann stellte sie das Kaffeeglas hin und drehte sich zu Ben um:»Was ist eigentlich los?«

«Angie, ich bin nicht eben gerade aufgestanden. Ich war die ganze Nacht auf. Ich bin überhaupt nicht ins Bett gegangen.«

«Warum nicht?«

Er erklärte, daß der Nachbar für das Einschreiben quittiert und es erst später heraufgebracht hatte. Angies Gesicht blieb ausdruckslos, ihre Stimme eintönig.»Warum hast du mich dann nicht angerufen?«Ben rang nach Worten.»Ich war so aufgeregt. Ich habe es wohl vergessen.«

Angie schaute einen Augenblick lang zu Boden und rang sichtlich mit sich selbst. Als sie wieder zu ihm aufsah, hatte sie einen rätselhaften Ausdruck in den Augen.»Du hast es vergessen. Du hast alles, was mich betrifft, vergessen.«

«Ja«, antwortete er kaum lauter als ein Flüstern.»Also gut. «Sie begann zu zittern.»Angie, ich.«

«Ben, du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich gebe mir alle Mühe, Verständnis für dich aufzubringen. Du siehst, es ist nicht einfach für mich. «Mit einiger Mühe drängte sie sich an ihm vorbei und lief ins Wohnzimmer.»Es war niemals so, Ben«, fuhr sie mit fester Stimme fort.»Früher hast du immer Zeit für mich gefunden, ganz egal wie wichtig ein Auftrag war. Aber die Dinge liegen nun anders. Du bist anders. Warum bist du mit einemmal so.. verändert?«Er streckte hilfesuchend die Hände aus.

Ja, dachte Angie nun sachlich, Ben hatte sich verändert. Wo war nur der ausgeglichene, berechenbare Ben, den sie bis dahin gekannt hatte? Statt dessen sah sie einen seltsam irrationalen Menschen vor sich, der ständig zwischen zwei Persönlichkeiten schwankte. Und es schien, als wäre er sich dessen nicht einmal bewußt, als hätte er keine Gewalt mehr über sich.

Ganz so, als würde er von irgend jemandem beeinflußt. Sie sah ihn aus schmalen Augen durchdringend an. Was war neben seinem sprunghaften Wesen noch anders an ihm? Welche äußerlichen Veränderungen hatte er durchgemacht? Oh, gewiß, sie waren ihr schon vorher aufgefallen, doch sie hatte geflissentlich darüber hinweggesehen, sie einfach nicht beachtet. Diesmal aber musterte sie Ben mit anderen Augen und stellte die leichten Veränderungen fest, die sich allmählich an ihm vollzogen hatten.

Die plötzliche Vorliebe für Sandalen. Das Hinken in seinem Gang. Seine geschraubten Sätze. Die Tatsache, daß er sich anhörte wie ein Fremder, der sich alle Mühe gab, richtig zu sprechen. Nichts von alledem hatte vor dem Auftauchen der Schriftrollen zu Ben Messer gehört.

Sie schlenderte hinüber zur Couch und sah die darauf ausgebreiteten Seiten seiner Übersetzung.»Ist es eine gute Rolle?«fragte sie ruhig.

«Ja, und eine lange. Möchtest du sie lesen?«

Sie fuhr herum. Auf ihrem Gesicht zeigte sich Ärger.»Was ist so besonders an diesem David, daß er dir mehr bedeutet als ich?«

«Das tut er nicht, Angie.«

«O doch, Ben!«Ihre Stimme wurde lauter.»Seinetwegen vergißt du mich! Du verbringst deine Zeit lieber mit ihm als mit mir. «Sie wurde schrill.»Irgendein alter, toter Jude hat dich plötzlich so.«

«Lieber Gott, Angie!«schrie Ben.

«Und sag bloß das nicht! Warum nennst du unnütz den Namen von jemandem, an den du nicht einmal glaubst?«

«Du glaubst ja auch nicht an ihn, Angie.«

«Was weißt du schon davon?«Sie machte einen Schritt auf ihn zu.»Woher willst du das wissen? Hast du mich je danach gefragt? Haben wir je über Gott oder Jesus oder Glaubensdinge geredet?«

«Na wunderbar, das ist jetzt der richtige Moment, um theologische Probleme aufs Tapet zu bringen!«

«Warum auch nicht? Kein anderer Zeitpunkt war dir je gut genug. Irgendwie ist es dir immer gelungen, dem Thema aus dem Weg zu gehen, als hättest du in Sachen Religion eine Monopolstellung. Ich weiß, daß du ein Atheist bist, Ben, aber das heißt noch lange nicht, daß es alle anderen auch sind.«

«In Gottes Namen, Angie! Was zum Teufel hat das alles mit dem heutigen Vormittag zu tun?«

Sie schaute wieder auf die Couch hinab, und plötzlich legte sich ihr Ärger. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie auf die überall verstreuten Papiere blickte.»Ich weiß nicht, Ben«, meinte sie in sanftem Ton,»aber da besteht ein Zusammenhang. Ich weiß wirklich nicht, was hier vor sich geht, aber es geht um mehr als nur um einen archäologischen Fund. Ich kann es nicht genau bestimmen. Ich kann es nicht einmal in Worte fassen, aber ich bekomme ein ganz merkwürdiges Gefühl dabei. Als ob. «Sie blickte endlich zu ihm auf.»Als ob du langsam von David Ben Jona besessen wärst.«

Ben starrte sie einen Augenblick lang an, dann rang er sich ein nervöses Lachen ab.

«Das ist doch lächerlich, das weißt du genau.«

«Ich weiß nicht.«

«Hör zu, Angie«, er streckte wieder seine Hände aus,»ich bin müde. Ich bin so erbärmlich müde. Können wir es für heute nicht einfach vergessen?«Er massierte sich zerstreut die linke Schulter.»Und ich bin ganz steif. Ich habe die ganze Zeit Wasser geschleppt für die. ich meine, ich mußte doppelt so schnell laufen und doppelt soviel tragen. «Er schüttelte den Kopf.»Nein, ich meine.«

«Ben! Was stimmt denn nicht mit dir?«

«Verdammt noch mal, Angie, ich bin müde, das ist alles! Ich hatte überhaupt keinen Schlaf! Ich will jetzt nur meine Ruhe haben!«

«Aber wie konntest du mich so völlig vergessen?«O Gott, dachte er, während er sich mit den Händen das Gesicht rieb, ich kann mich nicht einmal an letzte Nacht erinnern! Ich erinnere mich nicht daran, wie Judy gegangen ist. Ich erinnere mich nicht daran, daß ich die Rolle übersetzt habe. Da ist ein weißer Fleck. Er sah zu ihr auf.»Es tut mir leid«, gab er sich geschlagen. Angie wich einen Schritt zurück.»Na schön, wie du willst. «Ben streckte seinen Arm nach ihr aus, ging auf sie zu. Aber Angie wehrte ihn mit einer Hand ab und sagte:»Nein, Ben. Nicht dieses Mal. Ich bin gekränkt. Tief gekränkt. Ich muß diese Sache zu Ende denken. Sag mir eines: Gedenkst du, diese Rolle für einen Tag ruhenzulassen? Oder wenigstens für ein paar Stunden?«Er runzelte die Stirn.»Ich kann nicht, Angie. Ich kann. nicht von ihr lassen.«

«Das reicht! Vielleicht komme ich zu dir zurückgekrochen, wenn das alles vorbei und in einem Buch veröffentlicht ist. Bis dahin hoffe ich, daß du und David sehr glücklich miteinander werdet. «Ben merkte, wie das Zimmer vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Durch einen Wirbelwind von Gedanken hörte er undeutlich, wie Angie aus dem Zimmer stolzierte und die Tür hinter sich zuschlug. Er war todmüde und völlig erschöpft, denn die Anspannung der letzten Nacht hatte ihn vollkommen aufgezehrt. Noch lange, nachdem Angie gegangen war, stand er mitten im Wohnzimmer, unschlüssig, was er als nächstes tun sollte, und mit dem Gefühl, zwischen mehreren Wirklichkeiten zu schweben.

Nachdem er sich beruhigt hatte und versucht hatte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, fühlte Ben, wie ihn eine große Niedergeschlagenheit überkam. Es begann in seiner Magengrube — ein kränkliches, hohles, einsames Gefühl, das ihm durch den ganzen Körper kroch und ihn in einem Anfall von Trauer und Bedrücktheit überwältigte. Plötzlich wollte er nur noch schlafen. Er wollte sich in einer dunklen Höhle verkriechen und eine ewig währende Nacht durchschlafen.

Nur war es jetzt Tag. Fast acht Uhr und draußen helles Licht. Er schloß alle Fensterläden und Vorhänge in der Wohnung, um das grelle Tageslicht und die unentrinnbare Gegenwart auszusperren. Dann fiel er, ohne sich überhaupt erst auszuziehen, auf sein Bett und schlief sofort ein.

Der letzte Traum war der wunderbarste. Der erste war die gewöhnliche Mischung aus Personen und der übliche Strudel aus Ereignissen gewesen — von Angie und Judy Golden und von Dr. Weatherby. Er war von einer verwickelten Sequenz zur nächsten übergegangen und bewegte sich dabei durch eine Welt von nebelhaften Gesichtern und gedämpften Stimmen. Doch am Ende, kurz bevor er aus der Bewußtlosigkeit wieder auftauchte, durchlebte Ben einen ganz klaren und beängstigenden Traum.

Er lief zu einer unbestimmten Nachtstunde eine unbekannte Straße hinunter. Es gab keine Lichter, keine Autos oder irgendwelche Orientierungspunkte, die ihm verraten konnten, wo er war. Es war nicht so sehr die Furcht vor dem Nichts, das ihn umgab, als die eisige Angst, die seine Seele beschlich — die unglaubliche Weite des Alleinseins, die Einsamkeit eines Menschen, der keine Familie und keine Freunde hatte und mutterseelenallein kalte, dunkle Straßen hinunter lief. Plötzlich war jemand an seiner Seite. Ein hübsches, junges Mädchen mit langem, rotem Haar und grünen Augen. Er war aber durch ihr unerwartetes Auftauchen nicht überrascht. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Ben sich selbst fragen hörte:»Wo sind wir?«

«Wir sind in Jerusalem«, antwortete sie.»Das ist seltsam.«

«Warum?«»Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. «Daraufhin lachte das Mädchen ganz merkwürdig. Sie hatte ein hohes, schallendes Lachen wie das einer Geisteskranken. Sie sagte:»David, du mußt dir Jerusalem nicht vorstellen!«

«Aber ich bin doch gar nicht David.«

«Wie albern! Natürlich bist du David. Wer solltest du denn sonst sein?«

Bevor er noch irgend etwas erwidern konnte, überkam ihn ein komisches Gefühl, als würde er beobachtet, auf Schritt und Tritt bespitzelt.

Seine Angst wurde größer. Das Mädchen auf seiner Seite war eine Bedrohung. Sie hatte keinen Namen, keine Identität, und doch fürchtete er sie.

«Wie heißt du?«fragte er mit zusammengeschnürter Kehle.»Rosa«, antwortete sie mit schallendem Gelächter.»Nein!«schrie er.»Du bist nicht Rosa!«

Ihr Gelächter dröhnte in seinen Ohren. Es kam von überallher, von allen Seiten gleichzeitig.»Was ist so lustig?«schrie er sie an.

«Wir sind nicht allein«, stieß das rothaarige Mädchen, glucksend vor Lachen, hervor.»Wir sind nicht allein!«Das Gefühl, beobachtet zu werden, steigerte sich in einem Maße, das an Wahnsinn grenzte. Alles um ihn her war Finsternis und Kälte und Trostlosigkeit. Und doch war er sicher, Augen auf sich zu spüren.»Wo?«rief er.»Wo sind sie?«

Das Mädchen, das zu laut lachte, um sprechen zu können, deutete hinunter auf die Erde.

Ben schaute nach unten. Er stand barfuß auf losem Grund. Als er darauf starrte, schien der Boden sich zu bewegen. Ein unheimliches Gefühl ergriff Besitz von ihm. Die Erde bewegte und verschob sich, als ob etwas daraus hervorkommen wollte.»O Gott!«stöhnte er, und das kalte Grausen packte ihn. Als ob etwas daraus hervorkommen wollte.»O guter Gott, nicht!«flüsterte er.

Das Mädchen war fort. Ben stand allein auf der bebenden Erde. Ihm war, als stünde er am Rand der Schöpfung, schwankend über einem Abgrund des Vergessens.

Er wollte nicht hinabsehen. Er wußte, was er da sehen würde und daß es ihn zu Tode erschrecken würde.

Mit weitaufgerissenen, fast aus den Höhlen tretenden Augen starrte er hinunter auf die Erde. Plötzlich brach sie auf.

«O Gott!«schrie er und saß kerzengerade im Bett. Kalter Schweiß bedeckte Bens Körper, und die Bettwäsche war völlig durchnäßt. Er hatte durch seine Kleider hindurch das darunterliegende Laken naßgeschwitzt.

Bens Zähne schlugen aufeinander. Sein Körper zitterte unkontrollierbar.»O Gott, o Gott«, wiederholte er immer wieder.

Das Schlafzimmer war dunkel und kalt. Die Luft war eisig. Hinter den Vorhängen hörte man einen schweren Novemberregen gegen die Scheiben trommeln. Im Nu hatte er alle Lichter angeschaltet und drehte das Thermostat herauf. Mit ruckartigen, ungleichmäßigen Bewegungen streifte er seine Kleider ab und stürzte unter die heiße Dusche, wobei er sich die Haut unter dem knallharten Strahl beinahe verbrühte. Er verzog sein Gesicht, als das Wasser seinen Körper bearbeitete, und versuchte, die Erinnerung an den Alptraum aus dem Gedächtnis zu vertreiben.

Dann zog er frische Kleider an, rieb sich mit dem Handtuch die Haare trocken und ging direkt in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu machen. Im Vorbeigehen drehte er jedes Licht an. An der Spüle hielt Ben schließlich inne. Es gab kein Entrinnen vor der Erinnerung, vor dem Bild, das ihn beinahe zu Tode erschreckt hatte. Alles Hin- und Hergelaufe, alle

Beschäftigung, alle Lichter und aller Kaffee würden nicht verhindern können, daß diese Szene wieder in ihm hochkäme.

Weil sie nun offen ans Tageslicht getreten war. Jahrelang war Ben in der Lage gewesen, sie in sein Unterbewußtsein zurückzudrängen, sie unter dem Alltagstrott zu verbergen. Er hatte sie über sechzehn Jahre lang vergessen, doch der Alptraum hatte die Erinnerung in ihm heraufbeschworen, und es gab keine Möglichkeit mehr, davor wegzulaufen.

Ben verbarg sein Gesicht in den Händen und schluchzte verzweifelt. Langsam, als näherte sie sich aus einer großen Entfernung, ließ sich allmählich wieder die Stimme seiner Mutter vernehmen. Sie sagte:»Benjamin Messer, heute bist du dreizehn Jahre alt. Du bist nun ein Mann. Es ist deine Pflicht, der Sohn zu sein, den dein Vater sich wünschte, denn er starb, als er dich beschützte. Ich habe dir nie erzählt, wie dein Vater umkam, Benjamin. Von heute an solltest du es wissen.«

Eine Träne rann zwischen Bens Fingern hindurch, als er so an die Spüle gelehnt dastand und die Szene von vor zweiundzwanzig Jahren noch einmal durchlebte. Und er empfand dasselbe Leid und dieselbe Qual wie damals.

«Benjamin«, sprach Rosa Messer ernst,»du solltest wissen, daß dein Vater von den Nazis getötet wurde. Du solltest wissen, daß er starb, während er Zion für die Juden auf der ganzen Welt verteidigte. Er ging nicht wie ein Lamm in den Tod wie die Juden in Auschwitz, sondern kämpfend wie ein Streiter Gottes. Ich stand hinter einem Zaun und beobachtete, wie die Deutschen deinen Vater aus der Baracke holten, ihn nackt auszogen und ihn zwangen, mit einer Schaufel eine Grube zu graben. Dann, Benjamin, stießen die Nazis deinen Vater in das Loch und begruben ihn bei lebendigem Leib. «Ben wußte, daß es lange her war, seit er gegessen hatte, und doch war ihm jetzt der Gedanke an Essen im höchsten Grad zuwider. Da er zumindest imstande war, Kaffee zu trinken, verdickte er ihn mit Sahne und Zucker und stürzte zwei Tassen hinunter, bevor er sich besser zu fühlen begann.

Der Alptraum hatte eine unglaubliche Wirkung auf ihn gehabt. Jetzt fiel ihm wieder ein, wie er vor zweiundzwanzig Jahren, als seine Mutter ihm zum erstenmal die Wahrheit über den Tod seines Vaters erzählt hatte, von denselben Alpträumen heimgesucht worden war. Sie waren nie genau gleich, lediglich in diesem einen Punkt, dem Gefühl, daß sich etwas unter seinen Füßen bewegte. Er war viele Male tränenüberströmt und schweißgebadet aufgewacht und hatte sogar gelegentlich im Schlaf geschrien. Doch nicht nur der schreckliche Tod seines Vaters hatte Ben die Kindheit zum Greuel gemacht. Verantwortlich dafür waren auch die anderen Erzählungen seiner Mutter von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager, mit denen sie ihr Kind belastet hatte. Die langen Abende, an denen er ihren Geschichten lauschte, sich die Greueltaten ausmalte und seine Mutter stundenlang ununterbrochen weinen sah; all dies hatte die Kindheit für Ben Messer zur Trübsal werden lassen, so sehr, daß er sich wünschte, nie als Jude geboren worden zu sein.

Das letzte Mal, als er sich über seinen Vater oder Majdanek Gedanken gemacht hatte, war auch das letzte Mal gewesen, da er mit Salomon Liebowitz zusammengesessen und geredet hatte. Damals war er neunzehn Jahre alt gewesen, und danach hatte er nie wieder geweint.

Ben griff nach den verstreuten Seiten seiner Übersetzung und versuchte, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es hatte ihm wehgetan, von Salomon Abschied zu nehmen, denn Salomon war das einzige Glück seiner Jugend gewesen. Ein Freund, den er liebte, dem er sich anvertraute und auf den er angewiesen war. Aber gleichzeitig wußte Ben, daß er dem Umfeld seiner Kindheit entfliehen mußte, um in einer veränderten Umgebung einen neuen Anfang zu machen. Die alten Straßen von Brooklyn waren voller Erinnerungen. Er mußte ihnen entkommen.

Seine Übersetzung der fünften Rolle war lang — bis dahin war es die längste Rolle — und daher ziemlich unordentlich. Zeilen waren durchgestrichen. Einige Wörter hatte er durchgestrichen und verbessert. Randbemerkungen waren in den Text hineingeschrieben. Und stellenweise stieß er auf seine völlig unleserliche Handschrift. Ben schaute zum Telefon, dann auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig. Er fragte sich, ob Judy Golden wohl zu Hause war.

Sie war wieder durchnäßt, und trotzdem lächelte sie verschmitzt.»Es tut mir gut«, meinte sie, als sie ihren Pullover zum Trocknen aufhängte.»Ich könnte näher am Haus parken, aber ich laufe gerne durch den Regen.«

Judy trug wieder Jeans und ein T-Shirt. Ihr Haar war feucht und klebte ihr am Kopf und verlieh ihr das Aussehen eines nassen Kätzchens.»Danke, daß Sie alles stehen und liegen gelassen haben und gekommen sind«, sagte Ben.

«Ich mußte gar nichts stehen und liegen lassen. Ich bin gespannt, die Rolle zu lesen. Und Sie sagen, es sei bisher die längste?«Sie gingen ins Wohnzimmer, wo alle Lichter brannten und es wohlig warm war. Gegen die regnerische Nacht war es eine sehr behagliche Atmosphäre.

«Diesmal habe ich richtigen Kaffee für uns zubereitet«, verkündete er auf dem Weg in die Küche. Judy sank auf die Couch und schleuderte ihre Stiefel von sich. Dann zog sie die Knie an und schlang die Arme um die Beine. Ben Messers Wohnung war gemütlich, überhaupt nicht zu vergleichen mit ihrer eigenen, die unordentlich und unaufgeräumt war und von einem riesigen Hund bewohnt wurde, der noch dazu schnarchte. Judy hatte laute Nachbarn zu beiden Seiten, und in der Wohnung über ihr lebte, nach dem Getrampel zu schließen, ein zehnfüßiges Ungeheuer. Sie hatte selten den Frieden und die Ruhe, die Ben zu Hause genießen konnte.

Er kam mit dem Kaffee herein und setzte ihn auf dem niedrigen Tisch ab. Als er neben ihr Platz genommen hatte, deutete er auf den Stoß Papier neben dem Tablett und erklärte:»Rolle Nummer fünf. In all ihrer unleserlichen Pracht.«

Sie grinste.»Wissen Sie, als ich letzte Nacht wegging, stand ich im Eingang Ihres Arbeitszimmers und beobachtete Sie am Schreibtisch. Mann, haben Sie sich vielleicht konzentriert! Ich räusperte mich ein paarmal, und Sie hörten mich nicht einmal. Und Ihre Hand schrieb mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern! Es muß eine spannende Rolle sein.«

«Lesen Sie selbst.«

Mit der Kaffeetasse in einer Hand und den Blättern auf ihrem Schoß begann Judy, Rolle Nummer fünf zu lesen.

Lange Zeit vernahm man nichts als den heftigen Regen, der gegen die Fenster klatschte. Gelegentlich konnte man hören, wie sich das Heizgerät an- und ausschaltete, da der Thermostat für eine gleichbleibende Raumtemperatur sorgte. Und Judys schwaches, leises Atmen, während sie die Rolle las.

Ben saß dicht neben ihr und streichelte zerstreut Poppäa Sabina, die auf seinen Schoß gesprungen war. Er konnte seine Augen nicht von Judys Gesicht abwenden, und gleichzeitig wunderte er sich über sie und fragte sich, warum er sie zu sich gerufen hatte. Als ihre großen, braunen Augen langsam über die Zeilen wanderten, erkannte Ben fasziniert, daß sie in eben diesem Augenblick einen Tag im alten Jerusalem durchlebte. Und er fragte sich: Ist das der Grund, warum ich sie hier haben will? Um Davids Erfahrungen mit ihr zu teilen? In der Wärme und Stille der Wohnung, während der Herbstregen ununterbrochen gegen die Fenster prasselte, kam Ben der Erkenntnis, warum er Judy Golden an seiner Seite brauchte, einen Schritt näher. Denn während er von den entfernten Geräuschen des Novemberregens dahingetrieben wurde, glaubte Ben Messer, aus seinem Unterbewußtsein ein sanftes Flüstern zu vernehmen, das ihm sagte: Sie ist hier, weil David es so will.

Als Judy geendet hatte, rührte sie sich nicht von der Stelle, sondern starrte weiter auf die letzte Zeile, die sie gelesen hatte. In der linken Hand hielt sie auf halbem Weg zu ihren Lippen eine Tasse mit kaltem Kaffee. Neben ihr saß Ben, der kaum atmete und in einem Dämmerzustand vor sich hin grübelte.

Endlich brach sie den Bann.»Es ist wunderschön«, flüsterte sie. Ben versuchte, seinen Blick auf Judy zu konzentrieren. Worüber hatte er gerade nachgedacht? Über irgend etwas im Zusammenhang mit David. Ben schüttelte den Kopf und hatte Judy jetzt schärfer im Blickfeld. Er war in Gedanken abgeschweift. Er konnte sich nicht daran erinnern, woran er gedacht hatte. An irgend etwas, was mit David zu tun hatte. Doch nun war es wie weggeblasen.

Ben räusperte sich.»Ja, es ist schön. Wissen Sie, ich bekomme irgendwie ein seltsames Gefühl, wenn ich Davids Worte lese. Wie.beinahe, als ob er direkt zu mir spräche. Wissen Sie, was ich meine? Es ist, als könnte er jeden Augenblick sagen: >Nun, Ben.<«

«Tja, offensichtlich fühlen Sie eine gewisse Verwandtschaft mit ihm. Sie haben doch tatsächlich einige Dinge mit ihm gemein. Dasselbe Alter, beide Juden, beide Gelehrte des Gesetzes. «Ben hörte nicht weiter hin. Sein Blick wanderte die Wände entlang und blieb an einem Aquarell vom Nil und den Pyramiden hängen. Eine andere, aus großer Ferne kommende Stimme trat an die Stelle von Judys Stimme und sagte:»Benjy, dein Vater hat immer gesagt, daß der Herr den Weg der Gerechten behütet, der Weg der Sünder aber in den Abgrund führt. «Jona Messer. Jona Ben Ezekiel.

Dann dachte er an Saul, so kräftig und muskulös neben dem sanften, romantischen David. Und er dachte an Salomon Liebowitz, der den polnischen Rohlingen die Nasen blutig geschlagen hatte. Kann das alles Zufall sein? fragte er sich verwirrt. Ich verstehe es nicht. Es scheint zuviel.

Judys Stimme drang wieder langsam an sein Ohr.»Ich bin sicher, Sie erkennen viel von sich selbst in David, und deshalb bedeuten Ihnen seine Worte so viel.«

Er schaute sie schräg von der Seite an, während er abermals versuchte, ihr Gesicht klar zu sehen.

Judy brachte da einen ganz neuen Gedanken ins Spiel, einen merkwürdigen, schwer faßbaren Gedanken. Ich erkenne viel von mir selbst in David. Was hatte das zu bedeuten? Was bedeutete das alles? Die Übereinstimmungen. David, der zu mir spricht. Judy beugte sich nach vorne, um ihre Kaffeetasse auf dem Glastisch abzustellen, und durch die Bewegung und das Klappern wurde Ben aus seinen Träumen gerissen. Er schüttelte seinen Kopf zum zweitenmal. Seltsame Gedanken. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich darauf komme. Es muß hier drinnen wohl zu warm sein. Vielleicht bin ich auch hungrig.

«Möchten Sie etwas zu essen?«hörte er sich fragen und schreckte von der Lautstärke seiner eigenen Stimme hoch.

«Nein, danke. Bruno und ich haben, kurz bevor Sie anriefen, zu Abend gegessen. Der Kaffee ist völlig ausreichend, danke. «Sie saßen wieder schweigend da und lauschten auf das sanfte Prasseln des Regens gegen das Fenster, während sie sich im Geiste die kahlen, herbstlichen Bäume und die blankgewaschenen Gehsteige ausmalten. Bis Judy ganz unvorbereitet fragte:»Warum sind Sie Paläograph geworden?«

«Was?«

«Warum sind Sie Schriftenkundler geworden?«»Warum? Nun.?«Er runzelte die Stirn und suchte nach einer Antwort.»Niemand hat mir je zuvor diese Frage gestellt. Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich einfach, weil ich mich dafür interessiere.«

«Schon immer?«

«Solange ich mich erinnern kann. Schon als Junge haben mich antike Manuskripte fasziniert. «Ben führte seine Tasse zum Mund und trank schlürfend einen Schluck. Es war tatsächlich so. Niemand hatte ihn je zuvor danach gefragt, und folglich hatte er sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Als er nun darüber grübelte, fiel ihm absolut kein Grund ein, warum er sich der Paläographie, der Handschriftenkunde, verschrieben hatte.»Ich glaube, es hat sich wohl einfach so ergeben.«

«Es ist interessant. Aber man muß dafür sehr geduldig sein, was ich nicht bin. Hatten Sie als Kind eine intensive religiöse Erziehung?«

«Ja.«

«Ich nicht. Meine Eltern waren Reformjuden. Und selbst als solche hielten sie sich an keinerlei Gebote. Ich kann mich nicht entsinnen, je den Unterschied zwischen Jom Kippur und Rosch Ha-Schana gekannt zu haben. «Sie nippte ein wenig an ihrem Kaffee und überlegte sich, wie sie ihre nächste Frage formulieren sollte.»Waren Sie sehr klein, als Sie Deutschland verließen?«

«Ich war zehn.«

Sie sah ihn mit ihren großen Augen an, die so ausdrucksvoll und unwiderstehlich waren, und Ben wußte genau, was sie dachte. Es war ein Thema, das er noch nie zuvor angeschnitten hatte, nicht einmal mit Angie, und er erkannte, daß er gefährlich nahe daran war, sich darauf einzulassen.

«Haben Sie Geschwister?«

«Nein.«

«Da haben Sie aber Glück. Ich war eines von fünf Kindern. Drei Brüder und eine Schwester, und ich war in der Mitte. Gott, was für ein Irrenhaus! Mein Vater war Schneider. Er hatte sein eigenes Geschäft und konnte es sich leisten, uns in relativem Wohlstand aufzuziehen. Rachel, meine kleine Schwester, lebt immer noch bei meinen Eltern. Die anderen sind alle verheiratet. Wissen Sie«, sie lachte leise auf,»ich habe mir so oft gewünscht, ein Einzelkind zu sein. Sie hatten Glück.«

«Hm, ich weiß nicht recht«, erwiderte er geistesabwesend. Wie oft hatte er sich als Kind Geschwister gewünscht?» Eigentlich hatte ich ja doch einen älteren Bruder. Aber er starb, als ich noch klein war.«

«Das ist zu traurig. Erinnern Sie sich an Deutschland?«Ben sah Judy ruhig an und fühlte sich seltsam behaglich dabei, sich so mit ihr zu unterhalten. Er wußte, daß sie ihn aus der Reserve locken wollte. Nachdem sie über ihre eigene Vergangenheit gesprochen hatte, würde es ihm leichter fallen, über seine eigene zu sprechen.»Sie wollen wissen, wie es war, während des Krieges ein Jude in Deutschland gewesen zu sein«, stellte er schließlich fest.»Ja.«

Ben schaute gedankenvoll auf seine Hände. Heute scheint der richtige Tag zu sein, um an wunden Punkten zu rühren, dachte er. Zuerst Angie, dann der Alptraum und nun auch noch das.»Wissen Sie, ich habe nie mit jemandem über diesen Abschnitt meines Lebens gesprochen. Nicht einmal meine Verlobte weiß viel über mich vor meinem zwanzigsten Lebensjahr, und sie ist durchaus bereit, es dabei zu belassen. Warum interessieren Sie sich so dafür?«

«Es liegt wohl in meiner Natur. Ich weiß gern über die Leute Bescheid. Darüber, was sie bewegt. Was einen Juden dazu veranlaßt, kein Jude mehr zu sein.«

«Woher wollen Sie wissen, daß ich je einer war?«»Sie sagten, Sie hatten eine religiöse Kindheit?«

«Ja. das sagte ich, nicht wahr? Also gut, ich werde es Ihnen erklären. Ich habe dem jüdischen Glauben tatsächlich den Rücken gekehrt. Aber ich wurde nicht nur ins Judentum hineingeboren, und damit hatte es sich, wie es auch bei Ihnen der Fall war. Ich war einmal ein praktizierender Jude, und dann habe ich es aufgegeben. Eigentlich tat ich sogar mehr als das. Ich wandte mich erhobenen Hauptes davon ab und schlug die Tür hinter mir zu. Zufrieden?«Sie zuckte die Achseln.»Das war keine sehr theologische Antwort.«

«Das habe ich auch nie behauptet. Na ja. «Es war, als spräche er mit sich selbst.»Vielleicht war ich einfach nicht dazu bestimmt, ein Jude zu sein. In der Kindheit wurde ich weiß Gott genug darauf getrimmt. Hebräisch war mir ebenso geläufig wie Jiddisch. Ich besuchte die Jeschiwa und ging jeden Samstag in die Synagoge. Als ich dann neunzehn war, stellte ich fest, daß es einfach nichts für mich war. Und so habe ich es ganz und gar sein lassen.«

«Sind Sie jetzt ein Atheist?«

Erneut fühlte er sich durch ihre Frage unliebsam überrascht.»Junge, Junge, Sie scheuen sich wohl überhaupt nicht davor, persönliche Fragen zu stellen, oder? Sind Sie Atheistin?«

«Ganz und gar nicht. Ich hänge dem Judentum auf meine eigene Weise, an.«

«Ein Judentum nach Ihrem eigenen Gutdünken.«

«Wenn Sie so wollen.«

«Ja, ich bin Atheist. Überrascht Sie das?«

«In gewisser Weise schon. Nur weil es mir sonderbar vorkommt, daß Sie Ihr Leben dem Studium religiöser Schriften widmen, ohne selbst religiös zu sein.«

«Großer Gott, Judy, man muß doch wohl kein Grashüpfer sein, um Insektenkunde zu studieren!«

Sie lachte.»Das ist wahr. Aber trotzdem könnte ich wetten, daß Sie die Thora besser kennen als irgendein Rabbi. «Ben zog die Augenbrauen hoch. Irgendwann in seiner nebelhaften Vergangenheit hatte jemand schon einmal dasselbe zu ihm gesagt. Er konnte sich nur nicht erinnern, wer es gewesen war, aber es hatte in seinem Geist dieselbe Reaktion hervorgerufen. Genau wie damals ertappte sich Ben dabei, wie er dachte: Es ist doch ziemlich seltsam, daß ich über Thora und Judentum vermutlich mehr weiß als beispielsweise der hiesige Rabbi, und doch gibt es dabei diesen großen Unterschied.

Was ist überhaupt Religion? Es ist mehr, als etwas zu wissen, mehr, als etwas auswendig zu lernen und ein Fachmann darin zu sein. Religion ist, etwas zu fühlen.

Und dieses Gefühl, das man gewöhnlich Glauben nannte, war bei Ben nicht vorhanden.

«Warum wurden Sie dann aber Atheist?«hörte er Judy fragen.»Warum haben Sie es nicht einmal mit dem Christentum versucht? Oder mit dem Buddhismus?«

«Es war nicht das Judentum, von dem ich mich abwandte, sondern Gott. Es gibt Leute, die keine Religion brauchen. Sie bringt nämlich nicht jedem den ersehnten Seelenfrieden. Für manche Menschen kann Religion Leid bedeuten.«

«Ja, das kann schon sein. «Sie blickte wieder nach unten auf den Stapel Papier in ihrem Schoß.»Ich frage mich, wie es für David ausgeht. Meinen Sie, daß er ein großer Rabbi wurde? Vielleicht sogar ein Mitglied des Hohen Rats?«

Auch Ben fing an, auf seine übersetzten Seiten zu starren. Er stellte sich einen siebzehnjährigen Juden mit schwarzem, welligem, schulterlangem Haar und den träumerischen Augen eines Propheten vor. David, David, dachte Ben, was versuchst du nur, mir zu sagen? Welche furchtbare Tat ist es, die zu gestehen du deinen ganzen Mut zusammengenommen hast, die du in verborgenen Tonkrügen versiegelt und mit einem mächtigen Fluch geschützt hast? Und dieser Fluch. Bens Miene verdüsterte sich. War es möglich, daß er wirklich über einige Macht verfügte? Könnte er mich etwa in irgendeiner Weise beeinflussen? Ist das der Grund für meine Alpträume, für meine schlaflosen Nächte, für meinen Streit mit Angie? Habe ich deshalb den Eindruck, daß David langsam Einfluß auf mein Leben gewinnt? Kann es sein, daß der Fluch Mose tatsächlich wirkt? — »Dr. Messer?«

Er blickte Judy an. Sie hatte geredet, und er hatte nichts gehört.»Es wird allmählich spät. Deshalb sollte ich mich jetzt vielleicht ans Tippen machen.«

Warum fallen mir so wunderliche Dinge ein? Warum kommen mir Gedanken, die ich nie zuvor hatte, als ob jemand anders sie mir eingäbe.?

«Ja, ans Tippen.«

Sie standen zusammen auf und vertraten sich die Beine. Ben warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wurde von der vorgerückten Stunde aufgerüttelt. Wo war nur die Zeit geblieben?

Judy tippte bis spät in die Nacht hinein, wobei sie ab und zu ein paar kürzere Pausen einlegte. Währenddessen saß Ben allein in seinem dunklen Arbeitszimmer. Das Geklapper der Tasten war weniger störend als die immer wieder einkehrende Stille, so daß Ben einmal, als er glaubte, Judy habe ganz aufgehört, aufstand und nach ihr sah. Judy saß, das Kinn auf die Hände gestützt, vor der Schreibmaschine und starrte ins Leere. Einen Augenblick später setzte sie ihre Tipparbeit fort, als hätte sie sich plötzlich auf sich selbst besonnen. Ben kehrte an seinen Schreibtisch zurück, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Wieder zogen die Ereignisse von Rolle Nummer fünf an seinem inneren Auge vorbei. Er verweilte ein wenig bei Rebekka, malte sich den Unterricht in der Vorhalle des Tempels aus, sah sich dabei, wie er den ersten Brief an seinen Vater schrieb, und wunderte sich, daß Eleasar von seiner Tätigkeit als Wasserträger erfahren hatte. Dies waren gute Jahre, damals in Jerusalem, als er im Hause des Rabbis wohnte. Ben wünschte, er könnte diese Jahre noch einmal zurückholen, denn er hegte süße Erinnerungen daran.»Dr. Messer?«

Er ließ seine Hände sinken und setzte sich auf.»Ja?«

«Ich bin fertig.«

«Prima. «Ben stand auf.»Wissen Sie was? Ich bin mit einemmal hungrig. Mögen Sie Pizza?«Judy zögerte.»Passen Sie auf, ich flitze schnell nach unten und besorge uns eine mit allem darauf, was dazugehört. Ich denke, mein Magen hat nichts Eßbares mehr bekommen, seit, nun seit. ich kann mich nicht erinnern, wie lange es schon her ist.«

Er lief zur Garderobe.»Ich werde nicht lange brauchen. Die Pizzeria ist gerade hier um die Ecke, und es geht immer sehr schnell. Gewöhnlich hole ich mir dort etwas, wenn ich viel Arbeit habe. Ich werde auch eine Flasche billigen Wein dazu kaufen. Was halten Sie davon?«

«Einfach toll.«

Nachdem er gegangen war, schlenderte Judy durch die Wohnung und nahm einige der Kunstgegenstände in Augenschein. Es waren vorwiegend Sachen aus dem Mittleren Osten, viele Geräte aus archäologischen Funden, ein paar Souvenirs und schließlich der übliche, in besseren Häusern anzutreffende Nippes. Sie stand gerade vor dem Aquarell vom Nil und den Pyramiden, als das Telefon klingelte.

Ohne zu zögern, nahm Judy den Hörer ab.»Hallo?«Am anderen Ende der Leitung trat eine kurze Stille ein, dann hörte sie, wie aufgelegt wurde.

Judy wollte eben weggehen, als das Telefon abermals klingelte. Diesmal nahm sie ab und sagte:»Bei Dr. Messer«, aber der andere Teilnehmer legte wiederum auf.

Es klingelte kein drittes Mal mehr, und als Ben schließlich mit dem Wein und der Pizza nach Hause kam und Judy ihm von den Anrufen erzählte, zuckte er nur die Schultern und meinte:»Wenn es wichtig ist, werden sie schon zurückrufen.«

Sie breiteten die Pappschachtel auf dem Kaffeetischchen aus, holten Gläser und Servietten und nahmen die Pizza in Angriff.»Sie haben einige interessante Dinge in Ihrer Wohnung«, bemerkte Judy, während sie von ihren Fingern Käsefäden ableckte.»Alles Beute von meinen Reisen.«

«Ich mag dieses Gemälde dort.«

«Die Pyramiden? Ja, es ist auch eines von meinen Lieblingsbildern. Es bringt Erinnerungen zurück. «Er lachte ein wenig in sich hinein.»Wissen Sie, es gibt da einen Trick, mit dem die Kameltreiber einen bei den Pyramiden aufs Kreuz legen. Es ist eine Touristenattraktion, auf einem Kamel um die Pyramiden herum zu reiten, und es kostet auch nur ein paar Piaster. Wenn Sie jedoch auf dem Höcker des hinterlistigen Tieres dahinschweben und sich gerade richtig großartig fühlen, fängt der Kameltreiber an, Ihnen eine Lügengeschichte aufzutischen, wie sehr er Sie doch ins Herz geschlossen habe und wie gerne er Ihnen einen extra langen Gratis-Ritt zukommen lassen würde. Niemand versteht es besser, einem zu schmeicheln, als ein Araber. So nehmen Sie natürlich gerne an. Der Kameltreiber läuft neben dem Kamel her, während Sie immer weiter in die Wüste hinausreiten, weit genug, daß man Sie nicht mehr hören kann und die Menschen um die Pyramiden herum wie Ameisen wirken. Dann wendet sich der Kameltreiber an Sie, während Sie hoch oben auf seinem reizbaren Tier sitzen, und teilt Ihnen mit, daß es Sie fünf amerikanische Dollar kostet, wieder zurückzukommen.«

«Scherz beiseite! Ist Ihnen das wirklich passiert?«

«So wahr ich hier sitze. Und ich mußte ihn auch bezahlen, sonst wäre ich von seinem Biest womöglich noch zertrampelt worden. Und außerdem ist es ein langer Rückweg über die Sanddünen.«

«Ist er ungeschoren davongekommen?«

«Natürlich nicht. Sobald wir zurückkamen, fand ich einen Polizisten und schilderte ihm den Vorfall. Er verhielt sich wirklich prima in der Sache und brachte den Mann dazu, mir mein Geld zurückzugeben. Die Polizei ist überall in Ägypten und kann manchmal ganz hilfreich sein.«

«Ich beneide Sie. Die weiteste Reise, die ich je nach Osten unternahm, war letztes Jahr eine Fahrt nach Brooklyn. Sind Sie schon einmal dort gewesen?«

«Das will ich meinen. Ich bin dort aufgewachsen.«

«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Wo ist Ihr Brooklyner Akzent?«

«Ich habe hart daran gearbeitet, ihn loszuwerden.«

«Sie klingen wie ein Kalifornien«

«Danke.«

«Warum? Mochten Sie Brooklyn nicht?«

Ben stellte sein Weinglas ab und wischte sich Gesicht und Hände mit einer frischen Serviette ab. Der Wein begann, seine Wirkung zu tun. Er lehnte sich zurück und starrte vor sich hin.»Es ist schwer zu sagen. Einerseits mag ich Brooklyn, andererseits wieder nicht.«

«Schmerzliche Erinnerungen?«

«Manche, nicht alle. «Er dachte an Salomon Liebowitz.»Ist dort Ihr Bruder gestorben?«

Ben wandte langsam sein Gesicht, so daß er Judy ansehen konnte.»Mein Bruder starb in einem Konzentrationslager in Polen.«

«Oh«, flüsterte sie kaum hörbar.

«Er war noch ein ganz kleiner Junge und verhungerte. Mein Vater ist übrigens auch dort umgekommen.«

«Wo?«

Er schloß die Augen und drehte seinen Kopf weg.»Der Ort hieß Majdanek in Lublin, Polen. Etwa einhundertfünfundzwanzigtausend Juden fanden dort den Tod. Zwei davon waren mein Vater und mein Bruder.«

«Wie sind Sie diesem Schicksal entgangen?«fragte sie leise.»Ich weiß nicht recht. Mein Vater äußerte sich sehr offen gegen die Nazis und bekämpfte sie, wo er konnte. Bevor sie in unser Haus kamen, wurden wir von Nachbarn gewarnt, und so war mein Vater noch imstande, mich mit ihrer Hilfe wegzuschaffen. Ich fand im Haus eines Sympathisanten Aufnahme, während mein Vater, meine Mutter und mein Bruder fortgebracht wurden. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, auch sie zu verstecken.«

«Was geschah mit Ihrer Mutter?«

«Sie überlebte es und kam 1944 aus dem Lager, als die Sowjets es befreiten.«

«Nun. «Judy stellte ihr Glas ebenfalls ab und wischte sich schweigend die Hände an einer Serviette ab. Sie wußte, daß es Ben Messer nicht leichtgefallen war, sich ihr so anzuvertrauen, daß es ihm jetzt vielleicht sogar lieber gewesen wäre, ihr nichts darüber gesagt zu haben. Deshalb fühlte Judy eine gewaltige Verantwortung.»Ich habe keine Familienangehörigen im Krieg verloren. Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns, Cousinen, Tanten, Onkel, davon betroffen waren. So kann ich nur in recht bescheidener Weise mit Ihnen mitfühlen.«

«Hols der Teufel. Es geschah vor über dreißig Jahren.«

«Trotzdem.«

«Ich war fünf, als meine Mutter mich wieder zurückholen konnte. Wir wohnten weiterhin bei Freunden, die ihr irgendwie halfen, eine Arbeit zu finden. Sie war eine ausgezeichnete Näherin, und sie war imstande, ob Sie es glauben oder nicht, in dieser Nachkriegszeit genügend Arbeit zu finden, um sich Geld zusammenzusparen. Fünf Jahre später, als ich zehn war, wanderten wir nach Amerika aus. Meine Mutter arbeitete hart, um uns hier durchzubringen. Ich kann mich an sie erinnern, wie sie den ganzen Tag und die ganze Nacht beim Schein einer einzigen Lampe dasaß, mit einem Haufen änderungsbedürftiger Kleidungsstücke zu ihren Füßen. Sie war eine geschickte und gewissenhafte Näherin, und es mangelte ihr nie an Kundschaft. Aber der Lohn war gering und die Arbeit anstrengend. Es machte sie vorzeitig alt.«

Er wandte sich wieder zu Judy um. Seine Augen glänzten feucht.»Das und Majdanek.«

Judy schwieg. Sie erkannte, daß hier alte Wunden aufgerissen worden waren, und blieb ruhig sitzen, bis er fortfuhr.»Majdanek hatte sie alt und krank gemacht. Als wir nach Amerika kamen, war sie dreiunddreißig Jahre alt, doch jeder hielt sie für meine Großmutter. Mit ihr aufzuwachsen war eine Erfahrung für sich. Sie sprach unablässig von meinem Vater und meinem Bruder, oftmals gerade so, als seien sie noch am Leben. Es war nicht leicht, wir beide allein in einem fremden Land, und vermutlich halfen ihr die Erzählungen über ihre Familie dabei, nicht den Verstand zu verlieren. Sie überhäufte mich mit ihrer Liebe und mütterlichen Fürsorge. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich war alles, was sie hatte. «Bens Gesicht verzog sich zu einem zynischen Lächeln.»Ich erinnere mich, daß mir immer die Schnürsenkel aufgingen. Bei welchem Kind passiert das nicht? Doch sie machte eine Riesenaffäre daraus. Wenn sie es sah, geriet sie so außer sich, daß sie mir drohte, sie werde sie mir dicht über dem Fuß zunähen. >David<, pflegte sie zu sagen, >wenn du über diese Schnürsenkel stolperst und dir den Hals brichst, dann bin ich ganz allein. Liebst du deine Mutter nicht?< Das arme Geschöpf lebte in der ständigen Angst, mich zu verlieren. Es wundert mich, daß sie mich überhaupt zur Schule gehen ließ.«»Ich kann ihre Gefühle verstehen«, meinte Judy einfühlsam.»Aber warum nannte sie Sie David?«

«Was?«Er hob den Kopf.»Ach, Unsinn. Ich meine natürlich Benjy. Sie nannte mich Benjy.«

Judy räusperte sich und rückte auf der Couch nach vorne.»Es ist spät, und ich sollte jetzt besser gehen.«

«Oh, natürlich.«

Sie stand auf und sah sich nach ihrer Tasche um.»Danke für die Pizza«, sagte sie mit fester Stimme.»Das war sehr nett von Ihnen.«

Ben holte ihren Pullover, der inzwischen getrocknet war. Als er ihr beim Hineinschlüpfen behilflich war, meinte er:»Ich teile es Ihnen mit, sobald ich Rolle Nummer sechs bekomme.«

«Gut.«

Er öffnete seinen Garderobenschrank und zog seine Jacke heraus.»Ich begleite Sie zum Wagen. Man kann nie wissen, wer sich um diese Zeit draußen herumtreibt.«

In melancholischem Stillschweigen gingen sie die Treppe hinunter und traten auf die nasse Straße hinaus. Judy kickte beim Laufen braune Blätter vor sich her und hatte das Gefühl, viel länger als nur einen Abend mit Ben Messer zusammengewesen zu sein. An ihrem Wagen standen sie in dem leichten Dunst und versuchten, die richtigen

Abschiedsworte zu finden. Es war kein x-beliebiger Besuch gewesen — viel war gesagt und viel offengelegt worden. Jetzt teilte Judy Golden Bens Geheimnisse. Sie stand nicht mehr außerhalb seines Lebens.

Er war einen Kopf größer als sie und mußte deshalb nach unten sehen, um ihr zuzulächeln. Tröpfchen sammelten sich auf seinen Brillengläsern und behinderten seine Sicht, aber er konnte erkennen, daß sie zurücklächelte. Sie verstanden sich wortlos.

Schließlich murmelte sie:»Gute Nacht «und stieg ins Auto. Er trat zurück, als sie den Motor anließ, und winkte ihr nach, als sie abfuhr. Während er ihre Rücklichter allmählich verschwinden sah, flüsterte Ben:»Schalom «und ging langsam in seine Wohnung zurück.

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