Kapitel Sechs

Am nächsten Morgen erwachte Ben in heiterer und gelöster Stimmung. Er stand früh auf, duschte und rasierte sich, frühstückte ausgiebig und nutzte die Zeit vor Unterrichtsbeginn, um die Wohnung aufzuräumen. Da mußten mindestens fünfzehn Gläser eingesammelt und in die Spülmaschine geräumt werden. Alle Aschenbecher quollen über. Poppäas kleines Katzenklo mußte frischgemacht werden. Er öffnete die Fenster, um durchzulüften und die abgestandene Luft zu vertreiben. Dann brachte er sein Arbeitszimmer in Ordnung. Er stellte die Bücher auf die Regale zurück, leerte den vollgestopften Papierkorb, wischte Krümel, Asche und Weinflecken von der Tischplatte. Die ganze Zeit summte er vor sich hin. Ben hatte sich lange nicht mehr so großartig gefühlt. Es war, als hätte er gerade eine Menge Geld geerbt oder eben erfahren, daß er hundert Jahre alt werden sollte. Sein ganzer Körper war wie elektrisiert, und so tanzte er singend durch die Wohnung, während er aufräumte. Als Angie um neun Uhr an die Tür klopfte, begrüßte er sie mit einer Umarmung, einem stürmischen Kuß und einer Flut von Entschuldigungen für die vorangegangene Nacht.

«Es war ein harter Brocken«, erklärte er, während er sie in die Wohnung hereinzog,»die vierte Rolle war ein hartes Stück Arbeit, aber es ist mir gelungen, sie gestern nacht fertigzuübersetzen und mir acht Stunden wohl verdienten Schlaf zu gönnen. Ich habe mich seit Wochen nicht so gut gefühlt!«

Angie strahlte.»Das freut mich. Weißt du, dein Telefon war dauernd besetzt.«»Und deshalb, mein Schatz, habe ich eine Überraschung für dich. Am Samstag morgen bei Tagesanbruch setzen wir beide uns in mein Auto und fahren hinunter nach San Diego für zwei vergnügliche, ausgelassene Tage.«

«O Ben, das klingt ja großartig.«

«Wir gehen in den Zoo und ins Meerwasseraquarium, wir essen bei Boom Trenchard’s, und wir lieben uns die ganze Nacht lang. «Er küßte sie lange.»Oder. vielleicht unternehmen wir auch einfach nichts und lieben uns nur zwei Tage lang ohne Unterbrechung. «Sie kicherte.»Alberner Kerl!«

Ben hielt sie eine Armlänge von sich weg, um ihr schönes Gesicht zu betrachten, und sog den süßen Duft ihres Parfüms und das erregende Gefühl ihrer Nähe in sich auf. Er war in diesem Augenblick so verliebt, daß er glaubte, er müsse zerspringen.»So, was führt dich heute morgen zu mir?«

«Deine Leitung war besetzt.«

«Was? Oh!«Er schnalzte mit den Fingern.»Ich habe den Hörer letzte Nacht neben die Gabel gelegt, um nicht gestört zu werden.«

«Von wem? Etwa von mir?«

«I wo.«

«Ach, ist schon in Ordnung.«

«Ha, ich habe eine Idee! Fahre mit mir an die Uni, warte eine Stunde, und ich spendiere dir das tollste Mittagessen, das du dir vorstellen kannst.«

«Klingt großartig.«

Sie fuhren zusammen an die Uni, und Angie ging auf dem Campus spazieren, während Ben seine Vorlesung in Manuskriptdeutung hielt und sich wortreich bei seinen Studenten für den Ausfall der letzten beiden Sitzungen entschuldigte. Unterdessen schlenderte Angie durch den Universitätsgarten und fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Es war gut, Ben so gelöst zu sehen, nachdem er eine Zeitlang ganz und gar von diesen Schriftrollen eingenommen war. Er war wieder er selbst.

Zumindest versuchte Angie, sich das einzureden. Sie hatte zuvor seine neuen Sandalen und das leichte Hinken in seinem Gang bemerkt, und ihr war aufgefallen, wie seltsam geschraubt und linkisch er heute morgen geredet hatte. Aber sie beschloß, dies alles zu vergessen und aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Ben war nur müde, das war alles.

Nach dem Unterricht fuhren sie die Küste hinauf zu einem beliebten Restaurant, das in die Klippen hineingebaut war und sogar über die Wellen hinausragte.

Nachmittags suchten sie sich einen abgeschiedenen Platz und liebten sich im Auto. Anschließend machten sie bei Sonnenuntergang einen Ausflug in die Berge, aßen in Hollywood zu Abend und sahen sich einen Film im Kino an.

Während dieser ganzen Zeit fühlte Ben sich Angie näher, als er es je gewesen war. Ihre gute Laune und ihr Humor ließen ihn alles andere vergessen. Sie war schön anzusehen und sehr erregend. Der Tag war vollkommen gewesen, von dem Augenblick, wo er mit diesem Hochgefühl aufgewacht war, bis zu dem leidenschaftlichen Gutenachtkuß, mit dem er sich um Mitternacht von Angie verabschiedete. Es war ein traumhaft schöner Tag gewesen.

«Das nächste Mal nehmen wir uns ein Zimmer im Hotel Circle«, versprach er Angie, kurz bevor er sie verließ.»Und wir können nach Tijuana hinunterfahren, wenn du willst.«

Sie war unter seiner Aufmerksamkeit richtig aufgeblüht und strahlte übers ganze Gesicht. Sie fühlte sich überglücklich und war sich ganz sicher, daß sie den vollkommenen Mann gefunden hatte, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.

Um Mitternacht standen sie beide ein wenig angesäuselt und todmüde in der Toreinfahrt zu Angies Wohnung und lachten leise.»Laß uns das wieder tun«, flüsterte Ben.»Jeden Tag, Liebling, jeden Tag.«

Und er verließ Angie mit dem Gefühl, sich eine Zeitlang im Paradies aufgehalten zu haben.

In bester Laune fuhr er nach Hause. Während des ganzen Tages hatte er sich nicht einmal gefragt, warum er denn auf einmal so gelöst und voller Freude gewesen war.

Und natürlich hatte er in diesem Zusammenhang nicht eine Sekunde lang an David Ben Jona gedacht.

Am nächsten Morgen fühlte er sich völlig anders. An diesem Freitag war seine Hochstimmung wie weggeblasen und hinterließ ihn in annähernd demselben Gemütszustand wie in den Tagen zuvor. Während ihres Telefongesprächs am Dienstag hatte John Weatherby Ben mitgeteilt, er sei in Jerusalem, um ihn anzurufen und» eine neue Serie Fotos abzuschicken. Diesmal gute. «Das bedeutete, sie könnten jeden Tag eintreffen, spätestens am Montag. Ben konnte es kaum erwarten, die nächste Rolle zu bekommen.

Er war kaum in der Lage, sich auf seinen Kurs» Sprachen der Archäologie «zu konzentrieren, und noch schwerer fiel es ihm, die Alt- und Neuhebräisch-Stunde durchzustehen. Die ganze Zeit über konnte er nur an die nächste Rolle denken. Falls Weatherbys Brief per Einschreiben käme, müßte er vor fünf noch schnell mit dem Zettel aufs Postamt gehen und dort Krach schlagen, um seinen Brief noch vor Montag zu bekommen. Ansonsten wäre ein elendes Wochenende vorprogrammiert.

Ben stellte überrascht fest, daß Judy Golden im Seminar fehlte. Obgleich ihre Gegenwart ihn durcheinanderbrachte, erfüllte ihn ihre Abwesenheit mit noch größerer Unruhe. Und diesmal hatte er sogar daran gedacht, den Kodex mitzubringen.

Nachdem er den Unterricht pünktlich zu Ende gebracht hatte, hastete Ben nach Hause und fand einen gelben Zettel in seinem Briefkasten. Ein Einschreiben aus Israel konnte am Montag zwischen neun und fünf auf dem Postamt abgeholt werden.

Er verlor keine Zeit. Um Viertel vor fünf war Ben auf dem Postamt und verlangte, den Postamtsvorsteher zu sprechen. Innerhalb von fünf Minuten hatte er beachtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es wurde ihm gestattet, auf seinen Postboten zu warten, der kurz darauf im Postamt eintraf. Er händigte Ben mißbilligend seinen Umschlag aus, wobei er ihn darüber belehrte, daß dies eigentlich gegen die Vorschriften sei.

Fünfzehn Minuten später war Ben wieder in seiner Wohnung, schaffte sich ein wenig Platz auf seinem Schreibtisch, verbannte Poppäa ins Schlafzimmer und setzte sich hin. Nachdem er sich innerlich auf den nächsten Auszug aus David Ben Jonas Leben vorbereitet hatte, fiel sein Blick auf das Telefon, und mit weniger Skrupeln als das letztemal nahm er den Hörer von der Gabel. Dann wischte er seine verschwitzten Handflächen an der Hose ab und öffnete den Umschlag.

Darin war ein Brief von John Weatherby.

Die gesamte Knesseth einschließlich des Premierministers habe die Ausgrabungsstätte besucht, hieß es darin. Sogar der amerikanische Botschafter und der berühmte Professer Yigael Yadin seien nach Khirbit Magdal geeilt. Es folgten Beschreibungen von den gräßlichen Arbeitsbedingungen: unberechenbare Wetterumschwünge, Insekteneinfälle, ungenießbares Essen und kalte Nächte erschwerten die Ausgrabungen. Und am Ende wünschte John Weatherby allen Mitarbeitern seines Archäologenteams den Segen Gottes.

Ben warf den Brief auf die Seite und riß den inneren Umschlag auf. Drei Fotos fielen heraus.

Das eine war ein Schnappschuß, auf dem Dr. Weatherby über seine Schreibmaschine gebeugt zu sehen war. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt, und die Brille mit dem Drahtgestell saß ihm ganz vorne auf der Nase. Er saß an einem Kartentisch vor einem Zelt. Das zweite Foto zeigte Dr. Weatherby, seine Frau Helena und Professor Yigael Yadin — alle drei posierten am Rand der Ausgrabungsstätte. Sie lächelten, als hätten sie im Lotto gewonnen. Ihre Kleider waren staubig und schweißgetränkt.

Das letzte Foto war von der Ausgrabungsstätte selbst — die Grabung war darauf schon viel weiter fortgeschritten als auf dem ersten Bild, das Ben erhalten hatte. Pappschilder zeigten die verschiedenen Ebenen an, und ein abgegrenzter Bereich schien die Fundstelle der berühmten Tonkrüge zu sein. Der Schauplatz wurde von einer Vielzahl Menschen bevölkert: Ben konnte darauf hagere, alte Wissenschaftler und kräftige, junge Studenten erkennen, die in Khakikleidung über ihre Arbeit gebeugt waren.

Er schaute nochmals in den Umschlag. Es gab keine weiteren Fotos. Fluchend knallte er das ganze Bündel auf den Tisch. Jetzt mußte er doch noch auf die Ankunft von Rolle Nummer fünf warten! Wieder vierundzwanzig Stunden der Anspannung, des ungeduldigen Hin- und Herlaufens, des Wartens darauf, daß David wieder zu ihm sprechen würde.

Poppäa Sabina kratzte ärgerlich an der Schlafzimmertür, und Ben ließ sie heraus. Er nahm die Katze auf den Arm und ließ sich mit ihr auf der Couch im dunklen Wohnzimmer nieder. Poppäa war gekränkt, weil ihr nicht genug Beachtung geschenkt wurde, und Ben schmollte wie ein enttäuschtes Kind.

Nachdem er eine halbe Stunde lang versucht hatte, mit seiner unglaublichen Ernüchterung fertig zu werden, beschloß Ben, vernünftig zu sein und sich zu beruhigen. Er entschloß sich auch, Rolle Nummer vier nochmals durchzugehen. Da er beim Lesen solche Schwierigkeiten gehabt hatte, wollte er sich vergewissern, daß ihm keine Fehler unterlaufen waren.

Zwei Stunden verbrachte er an seinem Schreibtisch und fügte hier und da Korrekturen in seine Übersetzung ein. Als er die letzte Zeile des zweiten Fotos beendet hatte, fühlte er sich seltsam glücklich und freudig erregt. Er sprang vom Schreibtisch auf und lief singend in die Küche, wo er sich ein Glas Wein eingoß. Mitten im Einschenken jedoch ließ ihn sein eigenes Pfeifen in seiner Tätigkeit innehalten. Bestürzt stellte er Glas und Flasche hin und starrte finster auf die kahle Wand.

Warum um alles in der Welt war er plötzlich so glücklich? Er lief zur Küchentür und blickte von dort quer durchs Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer. Im Halbdunkel konnte er gerade noch seine Schreibtischecke und die Lehne seines Drehstuhls wahrnehmen. Auf dem Schreibtisch lag sein Übersetzungsheft wie ein weißer Fleck.

Ben verharrte eine Weile im Kücheneingang und blickte durch die stille Wohnung. Er starrte ins Leere und spürte, wie ein unheimliches Gefühl Besitz von ihm ergriff. Er bekam eine Gänsehaut, und die Haare an den Armen und im Nacken standen ihm zu Berge. Eine furchterregende Kälte erfüllte den Raum. Jetzt wußte er es.

Langsam ging er zurück ins Arbeitszimmer und blieb einen Meter vom Schreibtisch entfernt stehen. Zuerst schaute er auf das Foto von dem beschädigten Papyrus, dann auf seine Übersetzung. Die Worte» am nächsten Tag erhielten Saul und ich den Bescheid, daß wir unsere Lehre bei Rabbi Eleasar antreten könnten «fielen ihm wieder ein.

Und jetzt wußte er es genau.

Diese Worte hatten ihm eine riesige Freude bereitet. Als ob es mir passiert wäre, flüsterte er, über das Foto gebeugt.»Deswegen war ich gestern in einer so guten Stimmung. Es war, als wäre ich in Rabbi Eleasars Schule aufgenommen worden. «Ben kniff die Augen fest zusammen, und merkwürdigerweise fröstelte es ihn. Er rieb sich die kalten Arme und zitterte hemmungslos. Die gestrige Freude war nicht meine eigene gewesen, dachte er, es war Davids Freude gewesen. Davids Freude. Ben öffnete die Augen und blickte wieder auf die aramäischen Worte. Ein Gefühl, als habe er eine Brücke überquert, als sei er an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gab, ließ ihn erschauern.

Er versuchte, diese Empfindung abzuschütteln, die einen warnenden Beigeschmack hatte, und zwang sich zu einem Lachen. Dann sagte er laut zu sich selbst:»Ich glaube, jetzt bin ich völlig übergeschnappt. «Aber seine Stimme klang blechern, das Lachen fast wie ein Röcheln.»O David«, murmelte er mit einem Schauder,»was machst du nur mit mir?«

Es war nicht das erstemal, daß Ben von einem Klopfen an seiner Tür aufwachte. Während er mühsam die Augen aufschlug und versuchte, sich zurechtzufinden, konnte Ben sich nicht vorstellen, wer ihn zu einer solch ungewöhnlichen Stunde sprechen wollte. Dann bemerkte er, daß er keine Ahnung hatte, wie spät es eigentlich war. Er schwang sich aus dem Bett und schleppte sich barfuß ins Wohnzimmer, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Angie hereinkam und die Tür hinter sich schloß. Sie trug einen Hosenanzug aus Baumwolle und hatte ihr Haar kunstvoll mit einem Schal hochgebunden.

«Hallo, Liebling«, rief sie strahlend und stellte ihren Handkoffer auf dem Couchtischchen ab.»Hallo«, erwiderte er verwirrt.

Sie küßte ihn auf die Wange, tätschelte ihn auf die andere und ging zur Küche.»Irgend etwas sagt mir, daß wir heute morgen nicht rechtzeitig fortkommen.«

«Was?«murmelte er.»Wozu fortkommen?«

Angie blieb an der Küchentür stehen.»San Diego, erinnerst du dich? Du wirst dieses Wochenende ein gefallenes Mädchen aus mir machen. Das hast du versprochen. «Dann ging sie in die Küche und begann herumzuklappern.»Ich hoffe, du glaubst nicht an den Wetterbericht«, hörte er sie aus der Küche rufen,»denn es wäre eine gute Entschuldigung dafür, achtundvierzig Stunden in einem Motel zu verbringen!«

Ben stand mitten im Wohnzimmer und fragte sich:»San Diego?«Angie streckte ihren Kopf aus der Tür.»Willst du hier frühstücken oder unterwegs?«

«Nun, ich.«

«Gute Idee. Kaffee hier und was zu essen unterwegs. So gefällt es mir. Vielleicht in San Juan Capistrano. In der Nähe der Mission gibt es ein entzückendes Cafe im spanischen Stil. «Noch mehr Geschirrgeklappere kam aus der Küche, und schließlich tauchte Angie wieder auf.»Der Kaffee braucht nur eine Minute zum Durchfiltern. Geh duschen, und wenn du herauskommst, ist er fertig.«

«Angie.«

Sie blieb vor einem Spiegel stehen, um ihre Frisur zu richten.

«Hm?«

«Angie, wir können nicht fahren.«

Sie hielt mitten in der Bewegung inne.»Was willst du damit sagen?«

«Ich will damit sagen, daß ich heute vielleicht die fünfte Rolle bekomme.«

Angie ließ langsam die Arme sinken und drehte sich zu ihm um.»Ach ja?«

Er machte mit ausgestreckten Händen einen Schritt auf sie zu.»Ich will hier sein, wenn sie kommt.«

«Wird der Briefträger sie nicht in den Kasten stecken?«

«Nein. Die Rollen kommen immer per Einschreiben. Wenn ich nicht hier bin, um sie entgegenzunehmen, muß ich bis Montag warten.«

Ihre Stimme klang kühl.»Ach so?«

«Komm schon, Angie. Versuche mich zu verstehen. «Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.»Ich habe mich so auf diesen Ausflug gefreut.«

«Ich weiß.«

«Früher bist du auch weggegangen, wenn Manuskripte zugestellt werden sollten. Du hast sogar diesen Kodex aus Ägypten drei Tage auf dem Postamt liegenlassen, bevor du hingefahren bist. Normalerweise bist du zuverlässiger, wenn es darum geht, deine Wäsche von der chemischen Reinigung abzuholen. Was ist mit diesen Schriftrollen so anders?«

«Himmel noch mal, Angie!«explodierte er.»Du weißt verdammt gut, was so anders ist!«

«He«, erwiderte sie ruhig,»schrei mich nicht an. Ich bin im selben Raum. Schon gut, schon gut, die Rollen bedeuten dir viel. Und sie sind anders als alles, was du bisher erhalten hast. Aber du hast gesagt, die fünfte Rolle käme vielleicht heute. Kannst du es nicht darauf ankommen lassen und mit mir nach San Diego fahren?«Ben schüttelte den Kopf.

«Weißt du, es ist nicht nett von dir, mich so zu enttäuschen. Das hast du bisher noch nie getan.«

«Es tut mir leid«, verteidigte er sich schwach.

«Also gut. Ich werde versuchen, dich zu verstehen. Du mußt mich nur für diese niederschmetternde Enttäuschung entschädigen.«

«Hör zu, Angie«, sagte er rasch,»wenn ich die Rolle heute nicht bekomme, gibt es keinen Grund, warum wir nicht morgen früh nach San Diego fahren und den Tag dort verbringen können. «Sie schaute ihn traurig und liebevoll an.»Wird es immer so sein, wenn man mit einem Schriftenkundler verheiratet ist?«

«Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin nie mit einem verheiratet gewesen.«

Sie lachte und küßte ihn auf die Wange. Das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Luft.»Geh duschen und zieh dich an. Ich kann ebensogut mit dir auf die Rolle warten, und wenn sie nicht mit der Nachmittagspost kommt, können wir schon heute abend nach San Diego aufbrechen. Was hältst du davon?«

Ben duschte ausgiebig. Er war sich der Tatsache bewußt, daß ihm der Gedanke an Angies Gesellschaft leicht widerstrebte. Obwohl er es ihr nicht erklären konnte und es in der Tat nicht einmal selbst verstand, hatte er doch das dringende Bedürfnis, bis zur Ankunft der fünften Rolle allein zu bleiben. Es schien ihm, als müßte er sich wieder auf David vorbereiten.

Sie saßen schweigend über dem Kaffee, wobei Angie ständig aus dem Fenster blickte und nach Regen Ausschau hielt, während Ben an die nächste Rolle dachte.

Als er seinen schwarzen Kaffee umrührte, schweifte er in Gedanken ab, bis er schließlich ein Gesicht vor sich sah, daß er sich schon lange nicht mehr vergegenwärtigt hatte: die große Nase und die langwimprigen Augen von Salomon Liebowitz. Damals war Salomon ein gutaussehender junger Mann gewesen, mit einem muskulösen Körper und markantem Gesicht. Er hatte lockiges, schwarzes Haar gehabt, einen recht dunklen Teint und einen sinnlichen, vollen Mund. Die Leute hatten die beiden Jungen oft wegen ihrer äußeren Erscheinung aufgezogen: der eine ein dunkelhäutiger, semitischer Typus und der andere ein blasser, blauäugiger Blondschopf. Vom Aussehen her waren sie so verschieden wie Tag und Nacht, doch was ihre Gesinnung und Einstellung anbetraf, hatten sie gut zusammengepaßt. Beide verfügten sie über einen außergewöhnlichen Ideenreichtum und waren bei ihren Streifzügen durch Brooklyn unzertrennlich. In der Jeschiwa waren sie ausgezeichnete Schüler gewesen, die miteinander um das Lob der Lehrer wetteiferten. Sie saßen häufig bis spät in die Nacht beieinander, lernten zusammen und trafen später gemeinsame Verabredungen mit Mädchen.

Welch eine Überraschung war es da gewesen, daß sie, als sie nach Beendigung der Jeschiwa auf eigenen Füßen standen, so entgegengesetzte Wege eingeschlagen hatten.»Ben?«

Er konzentrierte seinen Blick auf Angie.

«Ben? Du hast kein Wort von dem, was ich sagte, mitbekommen. Denkst du über die Rollen nach?«Er nickte.

«Willst du mir davon erzählen?«Angie legte ihren Kopf zur Seite. Ben konnte sich nicht genau erklären, warum Angie ihn heute morgen so reizte. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie Interesse an den Rollen heuchelte, damit er sich besser fühlte. Der Ausdruck in ihren Augen sagte:»Es wird vorübergehen. Der kleine Ben wird darüber hinwegkommen, und dann können wir spielen gehen.«

«Das verstehst du doch nicht!«antwortete er und wandte seinen Blick von ihr ab. Im Morgenlicht fiel es Ben trotz des trüben Wetters auf, daß Angie zuviel Make-up trug. Und dieses verdammte Parfüm, das sie immer an sich hatte, verdarb ihm den Geschmack an seinem Kaffee.

«Du kannst es mir trotzdem erklären.«

«Oh, um Himmels willen, Angie, versuch doch nicht künstlich, dich mir anzupassen. «Er stieß seinen Stuhl zurück und stand mit den Händen in den Hosentaschen auf. Ein leichter Sprühregen tröpfelte ans Fenster.

«Was ist nur los mit dir, Ben? Ich habe dich niemals so erlebt. Mal bist du nett und fröhlich und im nächsten Augenblick launisch und gereizt. Du warst doch sonst nie so unausgeglichen.«

«Es tut mir leid«, murmelte er und entfernte sich ein paar Schritt von ihr. Himmel noch mal, dachte er, alles, was ich will, ist doch nur, daß du mich alleine läßt! Damit ich in Ruhe nachdenken kann. Und du platzt hier herein in deiner feenhaften Aufmachung und mit deinem Kindergartenstimmchen und.

«Diese Rollen nehmen mich mehr und mehr gefangen, Angie. Ich kann nichts dagegen tun. Sie sind. sie sind. «Was? Was sind sie? Sind sie im Begriff, mich völlig zu beherrschen?

Er roch, wie der Duft ihres Parfüms näher an ihn herankam. Dann fühlte er ihre schlanken Hände auf seinen Schultern.»Laß mich lesen, was du bis jetzt übersetzt hast. «Ben drehte sich um, damit er sie ansehen konnte. O Angie, Liebes, dachte er unglücklich, ich weiß ja, daß du versuchst, mich zu verstehen. Ich weiß, daß du das alles nur meinetwegen tust. Bitte, tu’s nicht.»Darf ich?«

«Sicher, warum nicht? Setz dich.«

Sie streifte ihre Schuhe ab, sank auf die Couch und zog die Füße aufs Polster. Als er ihr das Heft reichte, überflog sie die Seiten und meinte dann:»So viel! Ist ja toll!«

Er ging ins Wohnzimmer zurück und nahm seinen Kaffee. Er schmeckte jetzt besser.

Nach einer beachtlichen Weile warf Angie das Übersetzungsheft auf den Couchtisch und urteilte:»Das war interessant. «Ben schaute sie an.

«Ich denke, du hast ein ganzes Stück Arbeit geleistet. Ich hoffe, daß Weatherby sie dir großzügig honoriert.«

Bens Augen weiteten sich ungläubig.»Was denkst du über David Ben Jona?«

«Was ich über ihn denke? Oh. «Sie zuckte die Schultern.»Eigentlich gar nichts. Wenn er jetzt noch Jesus erwähnt, dann hast du wirklich das große Los gezogen.«

Ben setzte seine Kaffeetasse ab.»Angie«, begann er leiser, wobei er jedes Wort mit besonderer Sorgfalt abwägte,»David Ben Jona. wenn du seine Worte liest. fühlst du dann nicht etwas?«Sie hielt den Kopf schief und fragte:»Was meinst du?«

«Nun«, er wischte sich seine feuchten Hände an seiner Hose ab,»wenn ich zum Beispiel seine Worte lese, dann fühle ich mich ganz stark mit einbezogen. Weißt du, was ich meine? Ich werde darin eingeschlossen und kann mich nicht daraus befreien. Es ist, als spräche er wirklich zu mir.«

«Ben.«

Er sprang auf und fing an, mit einem auffällig hinkenden Gang durch das Zimmer zu gehen. Kann es sein, daß nur ich davon betroffen bin? überlegte er verstört. Bekomme ich als einziger diese Gefühle, wenn ich Davids Worte lese? Was ist es nur? Was ist die Ursache dafür?

Das ist lächerlich! Schau sie nur an. Wie kann sie so verdammt desinteressiert an der ganzen Sache sein, während ich zum Nervenbündel werde!

«Ben, was ist los mit dir?«

Er beachtete sie nicht, sondern hing seinen Gedanken nach. Jona, der Vater von David, und Jona Messer, der Vater von Ben, und beide sagten:»Denn der Herr behütet den Weg der Gerechten; doch der Weg der Sünder führt in den Abgrund. «Du bist einer aus dem Stamme Benjamins. Der Fluch Mose wird über dich kommen, und der Herr wird dich mit Wahnsinn schlagen.»Ben!«

Er hielt plötzlich inne.»Angie, ich möchte für eine Weile allein sein.«

«Nein!«Mit einem Satz sprang sie auf.»Schick mich nicht fort. «Ben wich zurück und fühlte sich eingesperrt.»Bis die Post kommt, dauert es noch Stunden«, fuhr sie fort.»Laß uns einen Ausflug machen und das alles für ein Weilchen vergessen.«

«Nein!«schrie er.»Zum Teufel noch mal, Angie, das einzige, was du willst, ist, mich von meiner Arbeit wegzubringen. >Vergiß es für ein Weilchen.< >Mach dich davon frei.< Ist es dir je in den Sinn gekommen, daß ich mich vielleicht gerne damit beschäftige?«

«Ich verstehe«, antwortete sie ruhig.

«Nein, das tust du nicht. Und ich mache dir deswegen auch keine Vorwürfe. Ich will nur allein sein.«

«Ich werde dich nicht stören.«

Er wandte sich von ihr ab und tat so, als ob er den Thermostat kontrollierte.»Es ist kalt hier drinnen«, stellte er ruhig fest. Doch, du wirst mich stören. Du kannst ja nicht länger als fünf Minuten sitzen bleiben, ohne dich zu unterhalten.

Ben drehte sich zu Angie um. Sie saß auf der Couch, ganz das elegante Model aus den Werbeaufnahmen in den Hochglanzzeitschriften, ihre hohen Backenknochen rot geschminkt, ihre Lippen und ihre spitzen Fingernägel blutrot. Wie seltsam, daß ihm gerade jetzt diese Dinge auffielen, die er vorher nie bemerkt hatte. Dies alles war doch greifbare Wirklichkeit. Diese schöne Frau mit dem Kameengesicht und dem wilden, kastanienbraunen Haar, die da gelassen auf der Couch saß, war der Traum eines jeden Mannes. Sie lachte viel, kleidete sich geschmackvoll, hatte einen anschmiegsamen Körper und verstand es, sich jederzeit angeregt zu unterhalten. Ben hatte es immer genossen, daß andere Männer ihr nachschauten, wo immer sie auch hingingen. Angie am Arm war wie eine Medaille am Revers. Doch als er sie jetzt anschaute — und irgendwie war es, als sähe er sie zum erstenmal —, kamen Ben Gedanken, die ihm völlig neu waren.»Ich werde dich nicht stören«, beteuerte Angie.»Und was willst du tun? Während ich im Dunkeln sitze und Bachmusik höre, was willst du tun?«

«O Ben!«Sie sah ihn beunruhigt an.»Also gut, ich gehe. Wenn es das ist, was du wirklich willst. Ich komme morgen früh wieder. Okay?«Sie nahm ihren Handkoffer an sich.»Und bitte, leg den Hörer nicht neben das Telefon. Du hast es gestern abend wieder getan, nicht wahr, denn immer, wenn ich es probiert habe, hörte ich nur das Besetztzeichen.«

«Ich werde es nicht wieder tun.«

Vor der geöffneten Wohnungstür zögerte sie, als sei sie sich unschlüssig, was sie als nächstes sagen sollte.»Ich halte die Rollen wirklich für interessant, Ben.«

«Gut.«

«Aber du darfst nicht vergessen, daß ich mit jüdischen Dingen nicht vertraut bin.«

«Bist du mit mir etwa nicht vertraut?«

«Benjamin Messer!«Angie war aufrichtig überrascht.»Das ist das erste Mal, daß du zugibst, Jude zu sein! Gewöhnlich versuchst du mit allen Mitteln, es zu leugnen.«

«Nicht zu leugnen, mein Schatz. Ich versuche lediglich, es zu vergessen. Da ist ein Unterschied.«

Ben lief den Rest des Vormittags und den ganzen Nachmittag ziellos durch die Wohnung. Er erinnerte sich daran, Poppäa zu füttern. Fand einige Wörter im Los Angeles Times-Kreuzworträtsel heraus. Hörte ein paar Platten, stopfte ein Käsebrot in sich hinein und ging wieder auf und ab. Der Postbote mußte jetzt bald kommen. Er hatte fast ein ganzes Paket Pfeifentabak verbraucht, als er sich um Punkt vier Uhr entschloß, zu den Briefkästen hinunterzugehen. Er hatte auf das Klopfen an der Tür gewartet, denn für eine Einschreibesendung mußte er ja eine Unterschrift leisten. Da sich aber bis jetzt noch nichts getan hatte, fragte er sich, ob der Briefträger wohl schon dagewesen war. Er war dagewesen.

In den anderen Briefkästen lag Post, in seinem eigenen eine Gasrechnung und im Zeitungskasten neue Zeitschriften. Doch kein kleiner gelber Zettel.

Ben bemerkte erst in diesem Augenblick, mit welcher Begierde er die fünfte Rolle erwartet hatte. Und jetzt war er buchstäblich am Boden zerstört. Während ein leichter Regen von einem grauen Himmel herabfiel und die Gehsteige von West Los Angeles sauber wusch, stand Ben da wie ein Schwachsinniger und glotzte die Briefkästen an. Es gab nichts Schlimmeres in der Welt, als seine ganzen Hoffnungen auf etwas zu setzen und es dann nicht zu bekommen. Ihm war zum Heulen zumute.

«Ich halte das nicht länger aus«, murmelte er immer wieder, während er zu seiner Wohnung hinaufstieg. Warum kamen die Rollen nicht schneller? Warum wurde ihm diese quälende Zeit des Wartens auferlegt?

Oben angelangt, drehte Ben die Heizung noch mehr auf, schenkte sich ein Glas Wein ein und ließ sich auf dem Sofa nieder. Im Handumdrehen war Poppäa auf seinem Schoß. Sie schnurrte und tapste auf seinem Bauch herum, als wollte sie ihm ihre Freude über seine Gesellschaft kundtun.

«Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Poppäa«, flüsterte er ihr sanft zu.»Ich war vorher noch nie so. Es wird zu einer fixen Idee. Warum? Worin liegt die Ursache? Ist es David? Wie kann jemand, der seit zweitausend Jahren tot ist, eine solche Kontrolle über mich ausüben?«

Langsam schlürfte Ben den Wein und spürte, wie die Zimmertemperatur anstieg. Es war, als würde er von einer

Wärmedecke umgeben, von einer behaglichen Hülle, in der er sich entspannte und seinen Kopf schläfrig zurücklegte.

Sogleich strömten die Erinnerungen an die Tage mit Salomon Liebowitz in sein Gedächtnis zurück. Es schien, als wären sie viele Jahre lang hinter einer verschlossenen Tür zurückgehalten worden, bis er jetzt aus einem unbekannten Grund den Schlüssel zu dieser Tür gefunden hatte. Und Erinnerungen, die Ben längst vergessen hatte, überschlugen sich nun in seinem Geiste.

Es kamen ihm auch andere Bilder, die weniger heiter waren als die von der Jeschiwa und von Salomon. Es waren Momentaufnahmen von seiner Kindheit in Deutschland, von seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten, von der schmerzvollen Zeit seines Heranwachsens unter der Obhut seiner Mutter.

Ben hatte keine Geschwister gehabt. Und auch keinen Vater. Soweit er sich zurückerinnern konnte, waren da immer nur er selbst und seine Mutter gewesen. Und seine Mutter — sein einziger Elternteil und seine einzige Bezugsperson — war ein schwieriger Mensch gewesen.

Dann flackerte ein anderes Bild kurz in seinem Gedächtnis auf: das Handgelenk seiner Mutter. Irgend etwas stimmte damit nicht. Sie trug immer lange Ärmel, um es zu verbergen. Doch einmal hatte er es zu Gesicht bekommen. Er hatte darauf gedeutet und gefragt:»Was ist das, Mama?«

Ein Ausdruck des Entsetzens war über das Gesicht seiner Mutter gehuscht. Sie hatte schnell ihre Hand über die Verstümmelung gelegt und war aus dem Zimmer gestürzt. Und sie hatte noch Stunden danach und lange in die Nacht hinein geweint.

Als Ben dreizehn Jahre alt war, hatte seine Mutter am Tag seiner Bar-Mizwa, als er in die jüdische Glaubensgemeinschaft eingeführt wurde, ihren Ärmel aufgerollt, um ihm ihr

Handgelenk zu zeigen.»Weil du nun ein Mann bist«, hatte sie ihm in Jiddisch gesagt.»Weil du jetzt über solche Dinge Bescheid wissen solltest. «Und sie hatte ihm die fleckigen Narben gezeigt, die von den Bissen wilder Hunde an einem Ort namens Majdanek herrührten.

Als das Telefon klingelte, sprang Ben mit einem Satz auf und vertrieb Poppäa von seinem Schoß. Er taumelte auf steifen Beinen zum Telefon und rieb sich das Gesicht, bevor er abnahm. Überrascht bemerkte er, daß ihm eine Träne über die Wange lief.»Hallo, Schatz! Nun, wie lautet der Urteilsspruch?«Für einen Moment wußte er nicht, wer am Apparat war, doch dann antwortete er schwerfällig:»Keine Rolle, Angie.«

«O toll!«freute sie sich.»Dann also San Diego?«

«Na ja. San Diego. Aber erst morgen früh. Jetzt bin ich zu müde.«

«Großartig. Bis morgen also. Tschüß, Liebling. «Seine Lippen formten das Wort» Auf Wiedersehen«, aber seine Stimme versagte ihm. Ben stand lange am Telefon und starrte vor sich hin wie unter Hypnose. Dann kam er langsam wieder zu sich und erkannte, daß er eine Zeitlang auf der Couch geschlafen haben mußte. Es war fast sieben Uhr abends.

Im Augenblick wollte er nur eines, und zwar diese Erinnerungen aus seinem Gedächtnis vertreiben. Den Schrecken und die Qual des Konzentrationslagers vergessen. Die Trübsal seiner Kindheit wegwischen. Und Rabbi Salomon Liebowitz hinter die verschlossene Tür zurückdrängen. Es war nicht gut, die Vergangenheit wieder auszugraben. Es machte einen nur unglücklich und trieb einem die Tränen in die Augen.

Er schaltete eine Menge Lichter an und legte eine BeethovenPlatte auf. So gelang es ihm, die Schwermut und die Stille ein wenig zu vertreiben. Als er die Gedanken an die Gesichter von seiner Mutter und Salomon Liebowitz jedoch nicht verdrängen konnte, wurde ihm bewußt, daß er den Abend nicht allein verbringen wollte. Er wählte die drei ersten Ziffern von Angies Nummer, legte dann aber wieder auf. Er dachte einen Augenblick nach und holte schließlich auf gut Glück das Telefonbuch hervor, um nachzusehen, ob sie darin aufgeführt war. Überraschenderweise fand er sie. Das heißt, wenn die Judith Golden aus dem Telefonbuch die war, nach der er suchte.»Hallo?«

«Judy? Hier ist Ben Messer.«

«Ach, hallo, wie geht es Ihnen?«

«Prima. Hören Sie, ich weiß, es ist Samstagabend, und wahrscheinlich haben Sie schon etwas vor. Aber ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen.«

Sie antwortete nichts.

«Es geht um die Schriftrollen«, fuhr er weniger zuversichtlich fort.»Weatherby hat mich um einen Tätigkeitsbericht gebeten, und ich fürchte, wenn ich meine Aufzeichnungen selbst tippe, würde ich eine Woche dazu brauchen. Und so habe ich mich gefragt, ob Sie nicht.«

«Aber mit Vergnügen. Ihre Schreibmaschine oder meine?«

«Nun, ich habe eigentlich eine sehr gute. Sie ist elektrisch und.«

«Wunderbar! Um wieviel Uhr soll ich vorbeikommen?«

Ben seufzte erleichtert.»Ist in einer halben Stunde zu früh?«

«Nein, das paßt ausgezeichnet.«

«Ich werde Sie natürlich dafür bezahlen.«

«Nicht nötig. Lassen Sie mich nur am Ruhm teilhaben. Und vergewissern Sie sich bitte, daß Sie meinen Namen richtig buchstabieren. Bis gleich, Dr. Messer.«

«Bis gleich und vielen Dank.«

Nachdem er aufgelegt hatte, war er nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Eigentlich war er sich nicht einmal sicher, warum er es getan hatte. Wie so oft in letzter Zeit, war er einer plötzlichen Eingebung gefolgt, und nun war es zu spät, um alles rückgängig zu machen.

Ben begab sich langsam ins Wohnzimmer. Er befand sich in einem Zwiespalt, mit dem er sich abfinden mußte: Einerseits wollte er allein sein, andererseits verspürte er gleichzeitig das Bedürfnis nach Gesellschaft. Poppäa war nicht genug, und Angie war zuviel. Vielleicht würde Judy irgendwo dazwischen liegen. Wenn sie am Wohnzimmertisch tippte und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte und er selbst im Arbeitszimmer saß, dann könnte vielleicht ein vernünftiges Gleichgewicht gefunden werden.

Ben wollte sich nicht eingestehen, daß das Tippen des Tätigkeitsberichts nur ein Vorwand war, um Judy bei sich zu haben. Tief in seinem Innern keimte ein unerklärliches Bedürfnis nach Judy Goldens Gesellschaft, so daß er Gründe und Entschuldigungen erfand, um in ihrer Nähe zu sein.

Ben konnte nur noch daran denken, daß er diesen Abend nicht allein verbringen wollte. Denn Salomon Liebowitz würde niemals freiwillig in seinen Verschlag zurückgehen. Und genausowenig würde Rosa Messers Stimme schweigen.»Sie folterten deinen Vater, Benjamin! Sie folterten ihn zu Tode!«

Ben drehte den Plattenspieler auf — Beethovens siebte Symphonie — und summte mit. Geräuschvoll spülte er in der Küche ein paar Tassen aus und setzte eine frische Kanne Kaffee auf.

«Und was sie mir angetan haben!«schrie Rosa Messers Stimme aus der Vergangenheit.»Eine Mutter sollte das ihrem Sohn nicht erzählen. Aber ich bin damals mit deinem Vater zusammen gestorben. Ich bin an dem gestorben, was die

Deutschen deinem Vater und mir antaten! Ich bin nicht mehr lebendig, Benjamin! Eine Frau sollte nicht durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe! Du lebst mit einer Toten, Benjamin!«

Judy Golden mußte sehr laut klopfen, um gehört zu werden. Ben begrüßte sie mit gezwungener Begeisterung. Und zu seiner Überraschung war sie trief endnaß.

«Draußen schüttet es!«erklärte sie.»Wußten Sie das nicht?«

«Nein, ich hatte keine Ahnung. Sie kommen genau richtig, der Kaffee ist gerade fertig.«

Er half ihr aus der dicken Jacke, die er an einen Türrahmen hängte, damit sie schneller trocknete. Dann ging er in die Küche, wobei er ihr auf dem Weg etwas über die Schulter hinweg zurief.»Ich kann Sie nicht hören, Dr. Messer. «Judy sah zum Plattenspieler hinüber.»Donnerwetter«, bemerkte sie leise. Er kehrte um und drehte die Lautstärke herunter.»Entschuldigung.«

«Ich wette, Ihre Nachbarn lieben Sie.«

«Ich habe nur einen auf demselben Stockwerk, und der ist selten zu Hause. Nehmen Sie doch Platz. Sie trinken Ihren Kaffee schwarz, nicht wahr?«

Judy ließ sich auf die luxuriöse Couch fallen und legte ihre Füße auf den Diwan. Die Musik auf der Schallplatte war nun in den zweiten Satz übergegangen — diese langsame, klagende Melodie, die selbst den teilnahmslosesten Zuhörer in ihren Bann schlug. Ben holte aus der Küche Kaffee und ein paar Kuchenstücke, die er zuvor aus dem Tiefkühlfach genommen hatte.

«Sie haben hoffentlich schon zu Abend gegessen. Ich dachte nicht.«

«O ja.«

«Sie haben keine Verabredung oder irgend etwas abgesagt, um herzukommen.?«Seine Stimme wurde schwächer. Judy sah ihn belustigt aus den Augenwinkeln an.

«Ich bin eigentlich nicht der Typ, der sich ständig verabredet. Ich habe genug an meinen Büchern und an Bruno, danke.«

«Bruno?«

«Mein Zimmergenosse.«

Er griff nach einem Stück Kuchen und hatte es schon fast zum Mund geführt, als die eine Hälfte abbrach und in seinen Schoß fiel. Er schaute einen Augenblick verdutzt drein, brach aber gleich darauf in schallendes Gelächter aus. Als sie gemeinsam versuchten, alle Krümel von der weißen Couch und dem weißen Vorleger aufzuklauben, meinte Ben:»Ich wette, daß Sie mit Bruno als Zimmergenossen keine Verabredungen mehr brauchen.«

Judy schaute auf.»Was?«Dann lachte sie noch lauter.»Oh, Dr. Messer! Bruno ist ein Schäferhund!«Ben sagte:»Ach so «und lachte ebenfalls.

Sie hatten sich schnell wieder gefangen und lehnten sich zurück, um Beethovens Klängen aus dem Plattenspieler und dem Regen am Fenster zu lauschen. Ben erlaubte sich, den Kopf zurückzulegen, um sich zu entspannen, und nach einer kurzen Weile hatte er vergessen, daß Judy Golden hier war.

Unzählige Gedanken gingen ihm durch den Kopf, hauptsächlich über seine Liebe zur deutschen klassischen Musik, die er in Kalifornien entdeckt hatte. Damals in Brooklyn hatte er kaum von Beethoven gehört, und allenfalls im Zusammenhang mit etwas Unheilvollem, Hassenswertem. In seiner Jugend war alles, das aus Deutschland kam, schlecht. Volkswagen, Sauerkraut, Bach und Glockenspiele galten allesamt als verabscheuungswürdige Dinge. Sie trugen das Mal des Todes und stanken nach bestialischer Grausamkeit und Unglück.

Nur Jüdisches war gut. Jüdisches war vollkommen, heilig und rein. Und zwischen den zwei Polen — den abscheulichen Deutschen und den geheiligten Juden — war die übrige Welt angesiedelt. Es hatte etwas mit Rosa Messers verzerrtem Bild von den Völkern der Welt zu tun und der Rangfolge, die sie einnahmen. Kein Volk war geringer einzustufen als die Deutschen, denn diese lagen gerade unterhalb der Hölle.»Dr. Messer?«

«Hm? Ah!«Er schnellte mit dem Kopf nach vorn.»Die Platte ist zu Ende.«

«Ach ja, richtig. Ich glaube, ich war in Gedanken. Hören Sie, Sie können jederzeit anfangen zu tippen. Ich weiß nicht, wie lange Sie brauchen werden.«

Sie standen beide auf. Ben ging ins Arbeitszimmer, um die Schreibmaschine zu holen, die in einem Koffer unter seinem Schreibtisch stand. Dann legte er wieder den Telefonhörer neben die Gabel. Mittlerweile dachte er sich gar nichts mehr dabei. Im Wohnzimmer hob er die Schreibmaschine aus dem Koffer, schloß das Stromkabel an und drückte auf den EinSchalter. Die Maschine begann zu summen.

«Sehr schön«, urteilte Judy.»Meine eigene ist eine von diesen alten, schwarz-goldenen mechanischen, die einem brutale Gewalt abverlangen, um eine Taste herunterzudrücken. Das hier ist wie sterben und in den Himmel kommen.«

Er lief nochmals ins Arbeitszimmer und kam mit Schreibmaschinenpapier, Kohlepapier und dem Übersetzungsheft zurück, das er aufgeschlagen auf den Tisch legte. Stirnrunzelnd betrachtete er die erste Seite.»So ein Geschmiere«, murmelte er,»ein fürchterliches Gekritzel. Es sieht fast so aus, als müßten Sie eine ebenso schwere Arbeit beim Entziffern leisten wie ich beim Übersetzen. Und ich habe mich über David Ben Jonas unordentliche Schrift beschwert! Schauen Sie nur das an!«

Judy lächelte, setzte sich vor die Schreibmaschine und begann, mit der Umschalttaste zu spielen. Ben beugte sich über sie und schaute beim Anblick seiner Handschrift noch finsterer drein.»An dieser Stelle habe ich richtig schnell geschrieben, so daß ich einige Wörter zusammenzog. Wissen Sie, David tat das ebenfalls. Beim Übersetzen kann einen das an den Rand der Verzweiflung bringen. Er war ein gebildeter Mann und ein ausgezeichneter Schreiber, doch manchmal, wahrscheinlich wenn er aufgeregt oder vielleicht in Eile war, schrieb er nachlässig — wie ich hier. Nun, das ist das eine, was David und ich miteinander gemeinsam haben. Zuweilen fügte er Wörter zu dicht aneinander, und es kostete mich eine halbe Stunde, um sie zu entziffern. Der geringfügigste Irrtum kann die gesamte Bedeutung eines Satzes verändern. Wie zum Beispiel.«, Ben nahm einen Bleistift und kritzelte eine Folge von Buchstaben oben auf die Seite: Godisnowhere.»Das ist natürlich Englisch, aber es vermittelt Ihnen einen Eindruck von den Schwierigkeiten, auf die ich beim Übersetzen von Davids Aramäisch stoße. Lesen Sie es einmal laut vor. «Judy musterte das Geschriebene eine Sekunde lang und las dann:»God ist nowhere.«(Gott ist nirgendwo.)

«Sind Sie ganz sicher? Sehen Sie nochmals hin. Könnte es nicht auch heißen: God is now here!« (Gott ist jetzt hier.)»Oh, ich begreife, was Sie meinen.«

«Und das verändert die Bedeutung erheblich. Wie dem auch sei, wenn Sie irgendwelche Probleme mit meinem Gekrakel haben sollten, dann brauchen Sie nur zu rufen. Die Abschnitte, die sich Ihnen als wildes Gekritzel präsentieren, sind Stellen, wo ich eine ebensolche Unleserlichkeit in Davids Handschrift antraf.«

«Ich denke, das wird lustig werden.«

«Wenn Sie irgend etwas brauchen, die Küche ist dort drüben, und das Badezimmer finden Sie, wenn Sie da hinten durchgehen. Ich bin im Arbeitszimmer, in Ordnung?«

«Alles klar. Viel Spaß.«

Ben war eben dabei, seine Regale nach einem entspannenden Lesestoff durchzusehen, als es an der Tür klopfte. Es war sein Nachbar, der Musiker, bekleidet mit einem triefendnassen gelben Regenumhang.

«Hallo, Nachbar«, grüßte er,»ich habe da etwas für Sie. Ich war heute nachmittag unten, gerade als der Briefträger wieder einen gelben Zettel in Ihren Kasten stecken wollte. Ich glaubte, Sie seien nicht zu Hause, und wenn es ein Einschreiben ist, könnte es ja wichtig sein. So quittierte ich dafür. «Er zog den schwarzen Umschlag unter seinem Arm hervor.»Andernfalls hätten Sie bis Montag warten müssen, richtig?«

Ben antwortete nicht, sondern starrte nur auf die vertraute Handschrift und die israelischen Briefmarken.

«Hören Sie, es tut mir leid, daß ich es nicht eher herauf gebracht habe, aber ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen. In Ordnung?«

«Was? Oh, ja, ja. Ganz wunderbar! Ich war den ganzen Nachmittag zu Hause und habe auf dieses Einschreiben gewartet, aber ich habe wohl nicht gehört, als der Briefträger klopfte. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

«Lassen Sie es gut sein. Schönen Abend noch. «Lange, nachdem die Tür ins Schloß gefallen war, stand Ben noch immer wie angewurzelt da und starrte auf den Umschlag. Und sein Herz begann wie rasend zu schlagen.

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