Kapitel Siebzehn

In den nächsten zwei Tagen weilten sie weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit, sondern lebten in einem zwielichtigen Reich, das sie sich für ihre eigenen Bedürfnisse geschaffen hatten. Ben wartete geduldig auf die dreizehnte Rolle. In diesen langen Stunden saß er ruhig da und starrte auf die Fotos von den Papyrusstücken, die sich allmählich bei ihm angehäuft hatten, und bei jeder Aufnahme verweilte er, als ob er dabei eine süße Erinnerung durchlebte. Judy war weniger selbstsicher, obgleich sie sich nun einer Kraft ergeben hatte, die zu groß war, um dagegen anzukämpfen. Sie liebte Ben so sehr, daß es ihr mittlerweile gleichgültig war, was mit ihnen geschehen würde, und sie sich keine Sorgen mehr um die Zukunft machte. Denn sie war überzeugt davon, daß ebenso wie alles bisher Geschehene so hatte kommen müssen, auch alle anderen Tage mit einer Unvermeidlichkeit verlaufen würden, die nicht geändert werden konnte.

Sie liebten sich danach noch dreimal, und jede Begegnung war so explosiv wie die erste. Wenn sie bis spät in die Nacht eng umschlungen dalagen und in beglückender Weise die warme Nacktheit des anderen spürten, erzählte Ben leise in einem antiken hebräischen Dialekt von den Wundern Jerusalems und dem Optimismus seiner Zeit.»Ich hatte unrecht«, sagte er in der alten Sprache, die Judy größtenteils verstehen konnte,»ich hatte unrecht, nach Israel gehen zu wollen. Denn zu den Waffen zu greifen und den Feind zu bekämpfen ist ein Akt der Treulosigkeit gegen Gott. Hat er nicht versprochen, den Messias, den Gesalbten, zu schicken, um Israel aus der Unterdrückung zu befreien? In meiner

Schwäche wurde ich ungeduldig und wollte das Urteil Gottes in Frage stellen. Du hattest recht, meine Geliebte, als du versuchtest, mich zurückzuhalten. «Judy kuschelte sich an seinen Körper und ließ ihren Kopf auf seiner Brust ruhen. Es gab keine schönere Stunde als diese, wenn sie in Bens Armen lag und sich die Phantasiebilder ausmalte, die seine sanfte Stimme beschwor: Er sprach von Spaziergängen am Ufer des Sees Genezareth; von den roten Anemonen, die im Frühling blühten; von der Freude über eine reiche Olivenernte; von dem Frieden und der Ruhe auf einem Hügel in Judäa. Sie wollte, daß dieser Augenblick ewig währte. Aber er tat es nicht.

Am Samstag klopfte der Briefträger an ihre Wohnungstür und überbrachte einen eingeschriebenen Brief aus Israel. Nachdem sie Weatherbys Notiz gelesen hatten — etwas über Zeitungsverleger und Museen und öffentlichen Bekanntmachungen —, setzten Ben und Judy sich an den Schreibtisch, um die letzte Rolle zu übersetzen.

Ben schien gelassen und gemächlich, und man hätte tatsächlich meinen können, daß er den Moment hinauszögern wollte, wohingegen Judy sehr beunruhigt war. Sie starrte wie gebannt auf den inneren Umschlag, während sie eine Frage nicht mehr losließ. Was wird aus uns werden, wenn die letzte Rolle erst einmal gelesen ist?

Sie schaute Ben an und sah den friedlichen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie als Davids innere Ruhe erkannte. Wo auch immer Benjamin Messer hingeschickt worden war, wo immer Bens gequälter und von Schuldgefühlen geplagter Geist auch beerdigt sein mochte, der Mann an ihrer Seite war nun ein glücklicherer Mensch geworden. Und das war alles, was sie wollte.

Aber was wäre, fragte sie sich mit nagender Angst, was wäre, wenn ihn allein die Rollen mit der Identität verbänden, die er angenommen hatte? Und was wäre, wenn dieser zarte Faden — weil es die letzte Rolle war oder weil der Inhalt dazu angetan sein könnte — zerreißen würde?

In den darauffolgenden vier Jahren wuchs der Zwist in der Stadt ins Unermeßliche.

An dem Tage, da Prokurator Gessius Florus den Tempelschatz plünderte, erhoben sich Hunderte von Juden in hellem Zorn. Um den Aufstand zu ersticken, sandte der Prokurator römische Truppen in alle Teile der Stadt, brutale Männer, die alles taten, um die Revolte niederzuschlagen, und viele Juden wurden getötet und verwundet. Als die Nachricht von diesem Ereignis sich über das ganze Land verbreitete, erhoben sich immer mehr organisierte Gruppen von Zeloten gegen unsere Oberherren und erschlugen die Römer, wo immer sie sie antrafen.

Wo es einst gelegentliche Überfälle aus dem Hinterhalt und Sabotage gegeben hatte, wurde nun offen Krieg geführt. Kaiser Nero schickte seinen besten General Vespasian, um dem Aufstand ein Ende zu bereiten, und in allen Städten Judäas, Syriens und Idumäas wurde sehr viel gekämpft. Galiläa wurde am schwersten getroffen, da die römischen Truppen durch dieses Gebiet anrückten, und erlitt schreckliche Verluste. Meine Brüder verließen ihre Familien, um sich den Streitkräften der Rebellen anzuschließen. Später hörte ich, sie seien im Kampf für Zion gefallen. Was mit meiner Mutter und meinem Vater geschah, werde ich wohl nie erfahren.

Zu jener Zeit brodelte Jerusalem vor Angst, vor Haß und vor Blutgier, doch es wurde nur wenig gekämpft. Wir standen tatenlos da und warteten ab, was mit den Städten passieren würde, durch die das römische Meer auf uns zumarschierte.

Wir hörten von vielen Heldentaten in diesen Schlachten. Tausende von Juden, nur die Hälfte von ihnen Zeloten, kämpften mit allen Waffen, die ihnen zur Verfügung standen, um Israels Oberhoheit wiederherzustellen.

Indes wußte ich im Herzen, daß sie unrecht hatten, denn allein der König von Israel würde unsere Fesseln lösen, und er war noch nicht zu uns zurückgekehrt.

Dieses erklärte ich Saul, der eines Nachts spät bei uns erschien, mir ein Schwert in die Hand drückte und meinte:»Die Stunde des Kampfes ist gekommen, Bruder!«

Doch ich lehnte die Waffe ab und sprach:»Wenn ich mich jetzt bewaffnete und auf den Feind losschlüge, dann wäre es vor Gott ein Zeichen von Treulosigkeit. Ich glaube daran, daß der Messias kommen wird; ich glaube an das Versprechen, das Gott seinen Kindern gegeben hat; und ich glaube, daß der neue König von Israel uns an diesem Tag befreien wird.«

«Du bist ein halsstarriger Narr«, erwiderte Saul. Und es verletzte mich tief.

So kam es, daß mein Bruder und ich uns auf schlimme Weise entzweiten.

Die Nachricht von Kaiser Neros Tod in Rom ließ Vespasian zurückeilen, um an der Bürgererhebung um den leeren Thron teilzunehmen. Uns im Osten wurde jedoch keine Atempause gewährt, denn an seiner Statt sandte er seinen Sohn Titus, einen unbarmherzigen, hartgesottenen Mann.

Je mehr Städte in der Provinz besiegt wurden und je näher das römische Heer rückte, desto größer wurde die Angst in Jerusalem.

Unsere Brüder, die in dem Kloster am Salzmeer lebten, verließen ihr Zuhause und zerstreuten sich über das Land, und man erzählte uns, sie hätten ihre heiligen Schriftrollen in Tonkrügen tief in den um das Salzmeer herum gelegenen Höhlen verborgen. Auf diese Weise sollte das Wort Gottes vor dem heidnischen Eroberer bewahrt werden, und die Mönche könnten eines Tages zurückkehren und die Rollen wieder ans Licht bringen.

Jerusalems Stunde nahte heran. Und als die ausgeplünderten und zerlumpten Überlebenden von Tiberias. Jotapata und Caesarea nach Jerusalem strömten, um Schutz zu suchen, und als wir Erzählungen über die Stärke und die Wildheit der Römer hörten, erkannte ich, daß es an der Zeit war, meine Frau und meine Sklaven hinter den Stadtmauern in Sicherheit zu bringen. Sobald die Gefahr vorbei war, wollten wir auf unseren Hof zurückkehren. Rebekka weinte, doch hielt sie sich tapfer, und ich war deshalb stolz auf sie. Wir nahmen nur das Nötigste mit und brachten den Rest in ein sicheres Lager, da wir dachten, wir würden bald zurückkehren.

Miriam hieß uns in ihrem Haus willkommen, wo Rebekka und ich mit anderen Mitgliedern der Armen, darunter Jakobus, Philippus und Matthäus, unsere irdischen Güter teilten und unsere Tage im Gebet verbrachten.

Wir sollten unseren Hof nie wiedersehen.

Vespasian wurde Kaiser von Rom, und sein Sohn Titus erreichte schließlich die Tore Jerusalems.

Ich vermag nicht die kalte Angst zu beschreiben, die uns beim Anblick der römischen Legionen packte. Zu Zehntausenden marschierten sie auf die Stadt zu, und in dem Moment, als ich vom Tempel aus auf den Ölberg blickte, wußte ich, daß unsere letzten Tage gekommen waren.

Zu dieser Zeit trat in der Stadt eine beklagenswerte Situation ein. Nachdem sie die riesige Heeresmacht der Römer gesehen hatten, von der wir nur durch den Fluß Kidron getrennt waren, äußerten viele Bürger den Wunsch, sich jetzt zu ergeben und auf diese Weise ihr Leben zu retten. Doch die Zeloten ließen dies nicht zu, denn sie glaubten, daß dies die letzten Tage seien, die in der heiligen Schrift prophezeit worden waren, und daß sie eine Pflicht gegen Gott zu verrichten hätten. Und so spaltete sich die Bevölkerung Jerusalems in zwei Lager. Die führenden Schichten der Stadt, die Sadduzäer und die Pharisäer, glaubten, daß die Römer nicht angreifen würden und daß eine friedliche Übereinkunft erzielt werden könne. Wir von den Armen glaubten, daß die Antwort im Gebet liege und daß uns Gott, wenn er unseres festen Glaubens ansichtig werde, den Messias schicken werde. So wurde Jerusalem geteilt, und wir bildeten keine gemeinsame Front gegen den Feind. Es kam der Tag, da Titus, der dieser unentschiedenen Situation überdrüssig wurde und endlich eine Wende herbeiführen wollte, den Befehl gab, alles Land in der Umgebung einzuebnen und damit das Bett des Kidron aufzufüllen. So geschah es, daß eine Schar Römer jeden Baum fällte, jeden Zaun niederriß und jedes Gebäude bis auf die Grundmauern einebnete. Auf diese Weise wurde auch mein Hof zerstört, und ich beobachtete, wie die Flammen gen Himmel schlugen, bis nichts Brennbares mehr übrigblieb. Der nächste Schritt, den Titus unternahm, bestand darin, eine gewaltige Rampe zu errichten. Er wählte für seinen Angriff die beste Stelle, gegenüber dem Grabmal von Johannes Hyrkanos, aus, da dort die erste Reihe der Festungswälle auf niedrigerem Grund gebaut war und so einen leichten Zugang zu der dritten Mauer bildete. Von dort aus beabsichtigte er, die Antonia, die Oberstadt und somit auch den Tempel zu erobern.

Doch selbst in dieser Situation, selbst mit dem Feind in unserer unmittelbaren Nähe, wurde der Streit innerhalb der Stadtmauern unvermindert fortgeführt. Immer mehr Leute gerieten in Panik und wollten zu den Römern überlaufen, doch die mächtigen Zeloten, die das Kommando führten, zogen eine Kapitulation nicht in Betracht.

Ich vermochte meinen Augen kaum zu trauen, als ich sah, wie sich die Juden untereinander in den Straßen Jerusalems bekämpften, während die Römer außerhalb der Stadtmauern wie Aasgeier warteten.

Es war für alle eine trostlose Zeit, und niemand konnte in Frieden leben. Ehe die Zeloten es zuließen, daß auch nur ein einziger Jude sich dem Feind ergab, ermordeten sie ihn auf offener Straße als warnendes Beispiel. Denn sie waren zu Fanatikern geworden. Diese Eiferer, so glühend in ihrem Glauben an ein überragendes Zion, wurden allmählich zu Wahnsinnigen, je mehr sie von Rom in die Enge getrieben wurden. Wir saßen allesamt in der Falle und wußten, daß man uns abschlachten würde. Doch angesichts dieser Situation verbohrten sich diese radikalen Juden nur noch mehr in ihre Ideale. Während es unter uns solche gab, die eine friedliche Knechtschaft vorgezogen hätten, gingen die Zeloten lieber in den Tod, als diese Schande zu ertragen.

So bildete Jerusalem auch weiterhin keine geschlossene Front gegen den Feind. Und ob dies nun geholfen hätte oder nicht, vermag ich nicht zu sagen, denn das Ganze entwickelte sich schnell zu einem Alptraum von erschreckendem Ausmaß. Niemand von uns hätte die Katastrophe, die schon bald über uns hereinbrechen sollte, voraussehen können. Und als wir uns des Ernstes unserer Lage richtig bewußt wurden, war es schon zu spät. Ich betete mit meinen Brüdern von den Armen, bis ich Schwielen an die Knie bekam. Titus und seine Männer erhöhten ihre Rampe bis hinauf zur Antonia-Festung. Zerstrittene Splittergruppen von Juden kämpften untereinander innerhalb der Stadt. Und ein noch schlimmerer Feind — weitaus schlimmer, als ich oder meine Brüder oder Titus oder die Zeloten es je hätten vorausahnen können — begann sich heimtückisch in die Stadt einzuschleichen. Und dieser Feind — nicht die rivalisierenden Juden und auch nicht die Römer im Tal des Kidron, sondern allein dieser letzte Feind, der seinen eigenen Krieg gegen uns zu führen begann — war schuld daran, daß die Tage von Jerusalem gezählt waren. Denn kein Mensch kann den Vormarsch des Hungers aufhalten. Kämpfe waren nun an der Tagesordnung, obgleich sie auf den Bereich der Stadtmauern beschränkt waren.

Wieder versuchte Saul, mich dazu zu bewegen, eine Waffe zu tragen, doch ich lehnte ab, denn ich glaubte, Gott werde uns retten, bevor die Römer die Stadtmauern durchbrachen, und ich konnte den göttlichen Ratschluß nicht durch derlei Tun in Zweifel ziehen.

Saul entgegnete:»Während du auf den Knien liegst und dafür betest, daß dein Messias kommen möge, verlieren beherzte Juden ihr Leben durch römische Speere. Hast du nicht gesehen? Hast du nicht gehört? Jüdisches Blut klebt an den Stadtmauern, und die Schreie der Sterbenden dringen bis zu den entferntesten Hügeln vor. Wo ist nun dein Messias?«

Und ich erwiderte:»Gott allein wird die Stunde bestimmen. «Es waren dies die letzten Worte, die wir miteinander sprachen, und sie bereiteten mir großen Schmerz. Saul war ein guter Rabbi und der beste Jude; aber wo war seih Vertrauen auf Gott? Als Titus’ Rampe von Tag zu Tag höher wurde und Jerusalem den ersten nagenden Hunger verspürte, zogen es viele Bürger vor, auf eigene Faust durch die Stadttore zu fliehen. Indem sie zum Feind überliefen, retteten sie ihr Leben, doch sollte dieses von kurzer Dauer sein.

Denn ein paar listige Männer trachteten danach, ihre Reichtümer mit auf die Flucht zu nehmen, und schluckten daher so viele Goldmünzen, wie sie konnten, bevor sie die Stadtmauern erklommen und auf der anderen Seite mitten unter den Römern landeten. Zunächst behandelte man die Abtrünnigen vernünftig und gewährte ihnen Schutz. Doch nachdem ein römischer Söldner einen alten Juden dabei ertappt hatte, wie er aus seinem eigenen Kot Goldmünzen herausklaubte, verbreitete sich in allen Lagern rasch die

Nachricht, daß die Flüchtlinge sich ihr Geld einverleibt hätten. Und so geschah es, daß in dieser schrecklichen Nacht und in allen darauffolgenden Nächten alle Juden, die in römischen Lagern Zuflucht gesucht hatten, bei lebendigem Leib aufgeschlitzt und ihre Eingeweide nach Gold durchsucht wurden.

Ich kann noch immer das Wehklagen derer hören, die in jener Nacht dahingeschlachtet wurden, denn ihr Geschrei wurde vom Wind in alle Teile der Stadt getragen. Diese armen Teufel, die in ihrer Unwissenheit und Treulosigkeit zum Feind übergelaufen waren, um ihre Haut zu retten, hatten auf abscheulichste Weise den Tod gefunden. Vielleicht an die viertausend Menschen wurden in dieser Nacht getötet, Männer, Frauen, ja sogar Säuglinge, aufgeschlitzt von römischen Soldaten wegen der unersättlichen Gier des Menschen nach Gold. Und es heißt, daß der ganze Schatz, den man bei den Ermordeten fand, sich auf nicht mehr als sechs Goldstücke belief.

Ich versuchte, mich nicht der Hoffnungslosigkeit anheimzugeben, wie es so viele um mich herum taten. Die Hungersnot war dabei, den Sieg über die Stadt davonzutragen, als das Getreide knapp wurde und die Wasservorräte zur Neige gingen. Wir von den Armen waren glücklicher dran als andere, denn diejenigen unter uns, die viel hatten, teilten mit denen, die nichts besaßen. Wir beteten täglich, daß der Messias zurückkehren möge, wie er es vierzig Jahre zuvor versprochen hatte. Die Zeit, von der er gesprochen hatte, war da. Diese waren die letzten Tage.

Die Kämpfe wurden schlimmer, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadtmauern. Diejenigen Juden, die noch immer über die Stadtmauer flohen, um ihr Glück mit den Römern zu versuchen, wurden von Titus auf den Bergspitzen gekreuzigt und dort als abschreckendes Beispiel tagelang hängengelassen.

Er wollte erreichen, daß wir ihm die Stadt übergaben, aber wir taten es nicht. Diejenigen von uns, die wir zu Zehntausenden in der Stadt geblieben waren, begegneten dem Hunger, sobald wir den Fuß vor die Haustür setzten. Und wenn wir uns auf die Straße wagten, wurden wir von halbverhungerten Wahnsinnigen belagert, die uns für ein verborgenes Stück Brot in Stücke zu reißen drohten. Wie schnell die Vernunft im Angesicht des Hungertodes weicht! Titus umzingelte die Stadt und brauchte nur wenig zu kämpfen, denn er ließ den Hunger für sich Krieg führen. Als die Wochen vergingen und die Hoffnung abnahm, beteten wir von den Armen unablässig, daß der Messias kommen und uns erlösen möge. Es könnte an diesem Nachmittag, an diesem Abend oder am nächsten Morgen sein, und dann würden wir die Trompeten des Herrn hören und wissen, daß wir gerettet wären. In dieser ganzen Zeit wich Rebekka mir nie von der Seite. Miriams Haus war nun zum Bersten voll, bevölkert mit Familien, deren Häuser nicht länger sicher waren. Wir versuchten, jedem zu essen zu geben, doch es war eine karge Kost. Und noch immer sangen wir die Loblieder auf den Neuen Bund und hofften, Josua unter uns zu finden. Sara und Jonathan hatten alle Hände voll zu tun, um die Kranken und Verwundeten zu pflegen und den Glauben derjenigen zu stärken, die schwächer wurden. Sara half beim Zubereiten und Verabreichen der geheimnisvollen Arzneien, die die Mönche vom Salzmeer ersonnen hatten und die Jakobus und die Zwölf bei ihren Heilungen verwandten. Und ich liebte sie in dieser Zeit mehr als je zuvor, wenngleich sie blaß und dünn geworden war und doppelt so alt aussah, als sie in Wirklichkeit war. Sara zog den göttlichen Ratschluß nicht ein einziges Mal in Zweifel, wie es so viele andere jetzt taten, und ich betrachtete sie als eine Heilige unter den Frauen. Nun ist der Augenblick da, in dem ich über die traurigste Zeit sprechen muß.

Die Nachricht erreichte unser Haus, daß Saul verwundet worden sei und in dem Haus eines Freundes in der Unterstadt liege. Der Junge, der die Botschaft überbrachte, war nicht älter als Jonathan, ein mageres Bürschchen, in einer zerfetzten Tunika, in dessen Augen sich die Greuel widerspiegelten, die er gesehen hatte. Er fiel über die kleine Scheibe Brot her, die wir ihm gaben, und erstickte fast, als er gierig aus dem Becher mit Wasser trank. Als ich dies sah, machte ich mir große Sorgen, denn ich wußte, daß Saul ebenfalls ohne Nahrung sein mußte.

So wickelte ich meine eigene kleine Ration ein und steckte sie in meinen Gürtel, zusammen mit einem Beutel mit weißem Pulver, das Jakobus oft in kleinen Mengen zur Linderung von Schmerzen verabreichte. Ich erzählte Rebekka von meinem Gang, nicht jedoch Sara, da ich nicht wollte, daß sie die schlechten Nachrichten von ihrem Mann erführe. Dann machte ich mich auf den Weg durch die abendlichen Straßen.

Wäre es möglich gewesen, mich auf den Anblick des Schreckens vorzubereiten, dem ich in den Straßen begegnete? Wie blind ich doch gewesen war! In welcher Unkenntnis über das wahre Ausmaß der Not, die in unserer Stadt herrschte! Während ich monatelang in Miriams Haus auf dem Fußboden gekniet und mit meinen Glaubensbrüdern zu Gott gebetet hatte, war Jerusalem ein Friedhof geworden.

Allenthalben lagen aufgedunsene Leichen umher, von denen ein solcher Gestank ausging, daß ich mich übergeben hätte, wäre mein Magen nicht so leer gewesen. Jämmerliche Gestalten, die einst angesehene Bürger gewesen waren, stöberten nun in der Gosse nach einem Stückchen Kuhdung, das sie verzehren konnten, und durchsuchten die Kleider der Toten nach etwas Brauchbarem. Überall um mich her sah ich hohlwangige Gesichter, ausgemergelt und eingefallen, als wären sie aus Gräbern auferstanden. Bis aufs Skelett abgemagerte Frauen hielten tote Säuglinge an ihre verwelkten Brüste. Wilde Hunde zerrissen die Schwachen und Wehrlosen, die am Wegrand lagen.

Es war für mich wie ein Keulenschlag, und ich erkannte, daß Saul die Wahrheit gesagt hatte und daß ich in diesen vergangenen Monaten meinen Mitmenschen den Rücken gekehrt hatte. Ich blieb unterwegs nicht ungeschoren. Mehrmals, als ich durch dunkle Gassen ging, wurde ich von wilden Kreaturen angefallen, die mit ihren Krallen an meiner Kleidung zerrten und nach Verwesung stanken. Doch ich war stärker als sie, in der Tat stärker als zehn von ihnen, denn ich hatte in den letzten Tagen gegessen, wenn es auch nur wenig gewesen war, während sie gar nichts zu sich genommen hatten. Und so war ich mit einiger Anstrengung imstande, meine Angreifer abzuwehren und mich irgendwie zu Sauls Versteck durchzuschlagen.

Er lag auf dem Steinboden mit zwei Freunden an seiner Seite. Das einzige Licht in der totenähnlichen Dunkelheit kam vom Mond, der silbrig durch das kleine, hoch oben gelegene Fenster schien. Ich weiß nicht, an was für einem Ort ich mich eigentlich befand, doch es stank widerlich nach Urin und Fäulnis. Die beiden Männer, die bei ihm saßen, glichen jenen hohläugigen Gespenstern, die in den Straßen umhergingen und nur nach einem Platz suchten, an dem sie sich zum Sterben niederlegen konnten. Sie waren wie mein lieber Saul mit Lumpen bekleidet, unglaublich schmutzig und mit Blut bespritzt. Als sie mich sahen, erhoben sie sich wortlos und ließen uns allein.

Ich stand eine Weile unentschlossen über meinem Freund, bevor ich neben ihm auf die Knie fiel, so betäubt war ich von seiner Erscheinung. Wo war der stattliche, fröhliche Mann, den ich so lange Zeit meinen Bruder genannt hatte? Wer war dieser arme, abgezehrte Teufel, der kaum atmete und in seinem eigenen Dreck lag?

Ich konnte die Tränen nicht unterdrücken. Mein treuer Freund rang sich ein Lächeln ab und meinte:»Du hättest nicht herkommen sollen, Bruder, denn draußen ist es gefährlich. In deinem Haus wärst du zumindest noch für eine Weile sicher gewesen.«

«Ich hatte unrecht!«rief ich voll Schmerz.»Wie blind ich doch war! Am ersten Tag, als du zu mir kamst, hätte ich das Schwert nehmen sollen, denn dann wäre dein Tod nicht umsonst! Jerusalem wird den Kampf verlieren, Saul, und wir werden für immer verloren sein!«

Aber er schüttelte den Kopf und erwiderte:»Nein, mein Bruder, ich bin es, der unrecht hatte, und du hattest recht. Es wird einen Messias geben, der eines Tages nach Israel kommt, und Zion wird wieder regieren. Aber es war noch nicht an der Zeit. Als ich das Schwert ergriff, David, begrub ich meinen Glauben an Gott. Du hingegen hast durch deine Gebete den Bund mit ihm eingehalten. In meiner Eitelkeit glaubte ich, Jerusalem eigenhändig retten zu können. Ich wollte den göttlichen Ratschluß mit Gewalt herbeiführen und trachtete danach, Gottes Handeln zu erzwingen. Doch jetzt erkenne ich, daß wir die Stunde, die der Herr für sein Volk bestimmt, nicht vorhersehen können. Wir können nur warten und beten und ihm unsere Würde bezeugen.

Du, mein Bruder David, stehst in deiner Würde über allen anderen Menschen, während ich unwürdig bin. Ich und andere, die wie ich ein mangelndes Vertrauen in Gott bewiesen haben, tragen Schuld daran, daß der Tag der Erlösung zurückgedrängt worden ist. Hätte auch ich zusammen mit dir gebetet, wie ich es hätte tun sollen.«

Saul erlitt einen Husten- und Spuckanfall, daß mir angst und bange wurde.

Und während er trotz seiner unerträglichen Schmerzen noch immer lächelte, flüsterte er:»Ich habe dich über alles geliebt, mein Bruderbund benutze meinen letzten Atemzug, um eine Bitte an dich zu richten.«

Ich konnte nicht antworten, sondern schluchzte nur. Er fuhr fort:»Kümmere dich an meiner Statt um Sara und Jonathan. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind; ich habe sie aus den Augen verloren. Mache sie ausfindig und rette sie irgendwie vor dem Schicksal, das jenseits der Stadtmauern auf sie wartet. Ich könnte es nicht ertragen, wenn die Römer Hand an sie legten. Versprich mir, David, daß du sie beschützen wirst!«

Und ich versprach Saul, daß ich sie behüten würde, sollte es mich mein eigenes Leben kosten.

«Und jetzt«, flüsterte er,»jetzt gibt es noch etwas, das ich dir sagen muß. Ich sage es dir, weil ich im Sterben liege und weil du leben wirst, und ich sage es dir auch, weil ich dich liebe. Ich weiß schon seit vielen Jahren, daß du Sara liebst, David. Ich weiß es, weil du mein Bruder bist und wir keine Geheimnisse voreinander haben. Ich habe es stets in deinen Augen gesehen, und ich habe es auch in den ihren erkannt. Ihr habt euch von jenem Tage an geliebt, da ich euch zum erstenmal miteinander bekanntmachte, und ihr liebt euch bis zu dieser Stunde. Ich nehme es dir nicht übel und habe es auch nie getan, denn Sara ist eine gute Frau. Ich kann verstehen, was dir so an ihr gefällt. Und du bist ein guter Mann. Ich weiß, warum sie dich liebt.

Indes vermute ich, lieber Bruder, daß du über Jonathan nicht Bescheid weißt. Sara ist sich auch nicht bewußt, daß ich davon weiß. Sie glaubt vielmehr, daß sie allein das Geheimnis all die Jahre hindurch gehütet habe. Doch ein Mann weiß diese Dinge, so wie du es jetzt erfahren mußt. Jonathan ist dein Sohn.«

Ben brach an seinem Schreibtisch zusammen. Er schluchzte laut und durchweichte das Foto mit seinen Tränen, während Judy leise weinte und ihre Hand sanft auf seiner Schulter ruhen ließ. Es verging eine ganze Weile, bevor sie imstande waren, zum nächsten Teilstück überzugehen. Und als sie soweit waren, schrieb Ben die Übersetzung nicht länger nieder, sondern las sie gleich mit lauter Stimme vor.

«Wie kann das sein?«rief ich.

Saul antwortete:»Wenn du nur deine Augen öffnest, wirst du dich selbst in Jonathan erkennen. Er wurde zwei Monate zu früh geboren, doch du bemerktest es nicht, mein lieber, begriffsstutziger Freund. Da wußte ich, daß du Sara erkannt hattest und daß sie keine Jungfrau gewesen war. Zuerst war ich verletzt, aber ich liebte sie so sehr, und ich liebte dich so sehr, daß ich den Schmerz überwand und Jonathan als mein leibliches Kind betrachtete. Doch wenn ich tot bin, wird Sara ihm erzählen, daß du sein Vater bist, und Jonathan wird nach dir suchen. Finde heraus, wo sie sind, David, bevor es zu spät ist!«

Saul starb in meinen Armen, noch immer mit demselben Lächeln auf den Lippen, und von diesem Augenblick an beneidete ich ihn. Aber der Tod kommt niemals zu dem, der ihn sucht, und obgleich ich unbewaffnet und ohne nach links und rechts zu sehen durch die Straßen lief und immer noch ein Stück Brot in meinem Gürtel trug, wurde ich nicht behelligt.

Als ich zu Miriams Haus — oder zu dem, was davon übrig war — zurückkehrte, stand ich davor, wie ein Mensch, der den Untergang miterlebt. Ich empfand überhaupt nichts mehr und zeigte beim Anblick des völlig zertrümmerten Hauses keinerlei Gefühlsregung. Oh, welch ein Gemetzel! Wie können Unschuldige zu Opfern eines solchen Überfalls werden? Wer wäre imstande, wehrlose Frauen und Kinder abzuschlachten, sie derart zu verstümmeln und sie so widerlich zu schänden?

Wäre ich in diesem Moment bei vollem Verstand gewesen, hätte mich eine rasende Wut gepackt. Doch jetzt geschah nichts dergleichen. Die letzten paar Stunden hatten mich so abgestumpft, daß ich zu nichts anderem mehr fähig war, als dazustehen und die Grausamkeit und die Zerstörung um mich her zu betrachten. Diese freundlichen, sanften Juden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie auf ihren Heiland gewartet hatten, waren wegen ihrer paar Stücke Brot niedergemetzelt worden. Und nicht der römische Feind hatte dies verbrochen, sondern jüdische Glaubensbrüder.

Meine liebe Rebekka lag unter dem Leichnam von Matthäus, der wohl versucht haben mußte, sie kämpfend zu verteidigen, und ihr rotes Haar mischte sich mit dem roten Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde am Kopf strömte.

Und warst du nicht derjenige, lieber Matthäus, der oft sagte, daß jene, die mit dem Schwert leben, auch durch das Schwert sterben werden?

Wie unrecht du damit hattest! Wie unrecht ihr alle hattet! Ich stolperte blind durch den Gesteinsschutt und über die Leichen meiner lieben Brüder und Schwestern, aber Sara und Jonathan fand ich nicht unter ihnen. Wenn sie geflohen waren, wohin mochten sie wohl gegangen sein? Denn nirgends in der Stadt war man mehr sicher. So kniete ich nieder und sprach ein einfaches Gebet. Es gab nichts, was ich hier noch hätte tun können. Die Schlacht war verloren. Und während ich zum letztenmal auf die Leichname meiner Frau und meiner Freunde blickte, fühlte ich, wie eine Flut von Haß und Wut in mir aufwallte, die einen Geschmack, so bitter wie Gift, in meinem Mund hinterließ. So stand ich auf diesem Massengrab, schüttelte meine Faust himmelwärts, und mit einer

Entschlossenheit, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte, verfluchte ich den Gott Abrahams für alle Zeiten.

Die nächsten Stunden, die Stunden vor Tagesanbruch, verbrachte ich damit, nach Sara und Jonathan zu suchen. Doch ich konnte sie nirgends finden.

Wer weiß was ihnen zugestoßen war? Welches ruchlose Schicksal sie ereilt hatte? Ich konnte nur beten, daß sie jetzt tot waren und dies alles nicht länger miterleben mußten.

Und so ergab es sich, daß ich in der letzten Stunde vor Tagesanbruch, als Titus’ Truppen ihre letzten Anstrengungen unternahmen, über die Stadtmauern hereinzubrechen, an das Haus eines Mannes kam, den ich kannte.

Ich hatte ihn oft bei Miriam gesehen. Er war ein guter Jude und ein Pharisäer, der an die Rückkehr des Messias glaubte. Drinnen in seinem Haus hatten sich viele Menschen versammelt, die mit vor Angst geweiteten Augen in der Dunkelheit kauerten. Als er mich erkannte, lud er mich ein, hineinzukommen. Er sagte:»Wir haben für uns alle noch eine Scheibe Brot und ein wenig Opferwein übrig, den wir versteckt hielten. Wir werden jetzt das Abendmahl abhalten und beten. Willst du dich zu uns gesellen?«

Ich nahm die Einladung an, und weil ich einst Schüler im Tempel gewesen war, bot ich ihnen an, sie beim Gebet anzuleiten. Ich brach die kleine Scheibe Brot in winzige Stückchen und verteilte sie an die Versammelten mit den Worten:»Dies Brot ist der Leib des Messias, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«

Dann schenkte ich den letzten Wein in ein paar Becher, und als ich dies tat, schaute ich in die Gesichter der Anwesenden. Es waren jämmerliche, verhungernde Gestalten, die aus verwirrten Augen vor sich hin starrten. Und als ich sie so anblickte, sah ich wieder die Leichname von Rebekka und Jakobus und Philippus und all der anderen vor mir, die einst so hoffnungsvoll gewesen waren wie diese. Dann erinnerte ich mich an den Beutel mit dem weißen Pulver, den ich eigentlich Saul zugedacht hatte und den ich noch immer in meinem Gürtel trug. Und in einem unbeobachteten Augenblick schüttete ich das ganze Pulver in die Becher. Dann reichte ich den Wein herum, so daß jeder von ihnen trinken konnte und sprach:»Dieser Wein ist das Blut des Erlösers, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«

Und nachdem der Besitzer des Hauses das Gift getrunken hatte, fragte er mich:»Willst du nicht mit uns vom Blute des Messias trinken?«

Und ich erwiderte:»Ich werde aus dem Becher meines Meisters trinken.«

Er richtete einen verwirrten Blick auf mich, und einen Augenblick später verschied er friedlich.

Es befanden sich ihrer neunundachtzig in diesem Haus, von einem steinalten Greis bis zu einem sechsjährigen Kind. Und alle waren sie tot, bevor ich an die kühle Morgenluft heraustrat. Wie lange ich durch die Straßen irrte, über Leichen stolperte und im Dreck ausrutschte, vermag ich nicht zu sagen. Auch weiß ich nicht, wie ich es schaffte, unversehrt durchzukommen, außer daß dies vielleicht die Strafe war, die der Herr für mich ausersehen hatte. Und so lautete der Urteilsspruch für mein Verbrechen, daß ich bis ans Ende meiner Tage mit der Last des Schuldgefühls für die Missetat leben sollte, die ich begangen hatte. In der reinen, schneidenden Morgenluft gingen mir plötzlich die Augen auf. Und als ich erkannte, was mein wahres Verbrechen in dieser Nacht gewesen war, wußte ich, daß ich ein zur Vergessenheit verdammter Mann war.

Denn mein Verbrechen hatte nicht darin bestanden, jene neunundachtzig Menschen in dem Haus zu töten, sondern darin, sie der letzten Möglichkeit beraubt zu haben, den

Messias zu sehen. Ich fiel auf den Pflastersteinen auf die Knie, zerriß meine Kleider und heulte laut.

Weil ich, David Ben Jona, eine Nacht lang aufgehört hatte, an das Kommen des Messias zu glauben, hatte ich diesen gütigen Menschen ihre letzten paar Stunden der Hoffnung genommen! Während sie noch lebten, hätte er kommen können. Nur weil ich den Glauben verloren hatte, bedeutete dies nicht, daß der Messias niemals käme.

Und dies, mein Sohn, war deines Vaters scheußliches Verbrechen, die niederträchtige Tat, die ihn aus der Gemeinschaft der Menschheit ausgestoßen hat.

Ich trommelte mit den Fäusten auf den Boden, bis sie bluteten, und schlug mit Steinen gegen mein Gesicht und meine Brust. Doch David Ben Jona war es nicht vergönnt, zu sterben. Nicht nach dem unverzeihlichen Verbrechen, das er an neunundachtzig Nazaräern verübt hatte.

Im nächsten Augenblick wußte ich, was ich zu tun hatte, denn es war, als wäre ich nicht mehr länger Herr meiner selbst, sondern folgte den Weisungen einer unsichtbaren Kraft. Ich mußte Jerusalem verlassen. Es stand mir nicht zu, schon jetzt zu sterben, denn derselbe Gott, den ich kurz zuvor verflucht hatte, wollte nun an mir Rache nehmen.

Mir kam der Gedanke, wie ich fliehen konnte. Es war Gottes Plan, und ich befolgte ihn widerspruchslos.

Um aus Jerusalem zu entkommen, mußte ich den Weg durch eines der Stadttore nehmen, vor denen die römischen Streitkräfte lagen. Und nur auf eine Art konnte man unversehrt durch die feindlichen Lager gelangen, welche die Stadt umringten: als Aussätziger. Der Plan eröffnete sich mir wie in einem Traum, denn ich war in keiner Weise um meine Sicherheit oder um mein Leben besorgt — ich sehnte den Tod sogar herbei —, und doch erkannte ich, daß ich auf diese Weise aus der Stadt entkommen sollte. Daher wußte ich, daß es Gottes Plan war.

Gemäß dem dreizehnten Kapitel des dritten Buches Mose zerriß ich meine Kleider, entblößte mein Haupt und verhüllte meinen Bart. Dann ging ich durch die Straßen und rief aus:»Unrein! Unrein!«wie es im Gesetz geschrieben steht.

Als ich mich dem Joppe-Tor näherte und mich nicht weit vom Palast des Herodes befand, bemerkte ich, daß die Menschen vor mir die Flucht ergriffen. Ich lief wie im Traum, ohne Hast und völlig achtlos, denn alles Leben war von mir gewichen, und mein Körper war wie aus Holz. Dennoch machte man mir den Weg frei. Niemand wagte es, mich aufzuhalten, und das Tor wurde mir von den Zeloten, die es bewachten, geöffnet. Sie waren ein roher, abgezehrter Pöbelhaufen mit ungekämmten Bärten und blutgetränkter Kleidung. Sie musterten mich geringschätzig und machten unflätige Bemerkungen, als ich vorüberging.

Als das Tor sich hinter mir schloß, sah ich vor mir die furchterregenden Lager der Römer, Zeltreihen und frühmorgendliche Feuer, soweit das Auge reichte. Ich rief:»Unrein! Unrein!«und ging mitten hindurch. Als ich auf die Straße nach Damaskus zuschritt, begegnete ich zwei widerlich anzusehenden Söldnern, die mit ihren frisch geschliffenen Schwertern herumfuchtelten und mich argwöhnisch betrachteten. Da sie einen gängigen griechischen Dialekt sprachen, konnte ich verstehen, was sie sagten. Der eine wollte mich aufschlitzen und meine Gedärme nach Gold durchsuchen, doch der andere hatte Angst, sich mir zu nähern. Der erste meinte, ich könne mich ja nur verkleidet haben, doch der andere hielt dagegen, daß er das Risiko nicht eingehen wolle. Und so kam es, daß ich die Straße nach Damaskus unversehrt erreichte, denn nicht einmal Römer sind gewillt, einen Aussätzigen zu berühren.

Wie lange ich unterwegs war, kann ich nicht sagen, aber es ist ein langer Weg von Jerusalem nach Galiläa, und ich sah die Sonne viele Male auf- und untergehen. Weil ich Nahrung brauchte, legte ich meine Verkleidung als Aussätziger nach einer Weile ab und zog als Bettler durchs Land. Ein wenig Getreide hier, eine Brotrinde da und Wasser, wenn ich gelegentlich auf einen Brunnen stieß. Und allenthalben sah ich die durch die Römer verursachte Zerstörung. Und als ich so dahin wanderte, kam ich zu der Erkenntnis, daß ich ein noch geringeres und noch verachtenswerteres Geschöpf war, als ich bisher geglaubt hatte, denn über meine leichtfertige Flucht aus Jerusalem und meine ziellose Wanderung nach Norden hatte ich Sara und Jonathan völlig vergessen. Und damit hatte ich das einem sterbenden Freund gegebene Versprechen gebrochen. Welche Greuel Sara und Jonathan auch immer erleiden mußten, es war meine Schuld, denn hätte ich zu meinem Wort gestanden, hätte ich sie zusammen mit mir gerettet.

Irgendwie schlug ich mich bis Magdala durch — wie, das werde ich wohl niemals erfahren. Es gab da eine nicht zu mir gehörende Kraft, die mich lenkte, denn wenn es allein nach mir gegangen wäre, hätte ich mich am Wegrand niedergelegt und wäre wohl schon lange tot. Doch mein Überleben entsprach weder meinem eigenen Wunsch, noch war es dem Schicksal zuzuschreiben. Und trotzdem erreichte ich schließlich das leere Haus meines Vaters und ein Dorf, das von Krieg und Plünderung gezeichnet war. Aus der verlassenen Synagoge nahm ich diese Schriftrollen, denn plötzlich wußte ich, welchem Zweck ich dienen sollte. Gott der Herr hatte mich nur aus einem Grund gerettet: Ich sollte alles, was geschehen war, nieder schreiben. Warum ich dies tun sollte, weiß ich auch nicht. Doch ebenso wie es der Plan des Herrn war, daß du mein Sohn sein solltest, Jonathan, so muß es auch sein Plan gewesen sein, daß du das Leben deines Vaters in allen Einzelheiten erfahren solltest. Und so habe ich alles für dich aufgeschrieben. Wenn Sara dir die Wahrheit sagt, wirst du vielleicht kommen und nach mir suchen. Und auf der Suche wirst du diese Schriftrollen finden. Und erinnere dich, mein Sohn: Nicht dir obliegt es, zu richten, sondern Gott allein. Und Gott war es auch, der das Schicksal vorherbestimmte, das Jerusalem widerfuhr. Denn wie schon der Prophet Jesaja sagte:»Siehe, der Herr leert und verheert die Erde, er kehrt ihr Angesicht um und zerstreut ihre Bewohner. Die Erde wird entleert und völlig ausgeplündert; denn so hat der Herr Wort gesprochen. Nur Verödung ist in der Stadt zurückgeblieben, in Stücke ist das Tor zerschlagen. «Sei dir stets eingedenk, mein Sohn, daß du ein Jude bist, so wie ich ein Jude bin, so wie mein Vater ein Jude war. Du wirst auch weiterhin auf den Messias warten. Ich weiß, daß Sara es dich lehren wird. Und an dieser Stelle muß ich dich noch einmal eindringlich warnen: Schaue nicht nach Rom. Wir in Jerusalem waren diejenigen, die den Meister zu seinen Lebzeiten kannten, doch mit uns ist es jetzt vorbei. Simon ist tot, Jakobus ist tot, und von den Zwölfen sind auch alle tot. Es lebt heute niemand mehr, der ihn kannte. In deiner jugendlichen Unschuld, fürchte ich, wirst du deinen Blick auf die Heiden richten, denn auch sie benutzen das Wort Messias. Aber halte dir stets vor Augen, mein Sohn, daß sie uns nur nachgeahmt haben. Während Jerusalem auf einen Mann wartete, wartet Rom auf ein Traumbild.

Denke stets an folgendes Gleichnis: Vorzeiten wuchs eine starke und mächtige Eiche, die eines Tages ein Samenkorn auf die Erde fallen ließ. Daraus entstand ein neuer Schößling. Eines Tages schlug der Blitz in die große Eiche ein und zerstörte sie, bis nichts von ihr übrigblieb. Der neue Schößling, der nicht getroffen worden war, wuchs weiter. Doch wächst er unabhängig vom Elternbaum und entwickelt sich auf eine andere Weise.

Eines Tages, wenn der Sproß zu stattlicher Größe emporgewachsen ist, wird ein Mann vorüberkommen und sagen:»Hier steht eine mächtige Eiche«, und er wird nicht wissen, daß dicht daneben einst eine mächtigere stand.

Höre, Israel, der Herr unser Gott ist ein einziger Gott! Kann es sein, daß noch ein wenig Würde in David Ben Jona übrig ist, die ihm die Gnade des Gottes Abrahams sichert? Gewiß träume ich! Sicherlich ist dies der Tag der Tage! Bin ich verrückt geworden, oder habe ich heute morgen tatsächlich mit meinem alten Freund Salmonides gesprochen, der wie ein Geist aus der Vergangenheit vor mir auftauchte? Und die unglaubliche Geschichte, die er mir erzählte! So glücklich war der alte Grieche, mich zu sehen, daß er sich diesem gemeinen Menschen vor die Füße warf und beteuerte, er habe mich gesucht.

In, meiner äußersten Verblüffung sagte ich ihm, daß ich ein verachtenswerter Mensch sei und daß ich den Urteilsspruch des Herrn erwarte, der meinen Tod bedeute.

Darauf meinte dieser anmaßende Bursche:»Dann habt Ihr Euren Gott wohl falsch eingeschätzt, Meister, oder ist er vielleicht zu beschäftigt damit, Jerusalem zu zerstören, und hat Euch vergessen? Denn Ihr werdet nicht sterben, und Ihr seid auch kein verachtenswerter Mensch. Es gibt Leute, die Euch lieben. «Und er fuhr fort mit seiner unglaublichen Geschichte, wie er des Nachts aus Jerusalem geflohen war, wie er das Vermögen, das er in all den Jahren an mir verdient hatte, dazu benutzt hatte, sich durch Bestechung freies Geleit durch die feindlichen Linien zu verschaffen, und wie er außer seinem eigenen noch zwei andere Leben gerettet hatte.

Und ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, als ich im nächsten Augenblick Sara und Jonathan vor mir stehen sah.

Ben stieß einen Schrei aus, fiel vom Stuhl und landete krachend auf dem Fußboden. Sein Körper bebte heftig und zuckte, wie von einem Anfall ergriffen. Als Judy, die sofort auf den Knien neben ihm war, versuchte, ihn aufzurichten, murmelte er:»Nein. es gibt noch mehr. Ich. muß lesen.«

Der Schweiß rann an seinem aschfahlen Gesicht herunter. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Er schien die junge Frau, die sich mit ihm abmühte, vergessen zu haben und schien sich auch gar nicht bewußt zu sein, daß er irgendwie wieder auf die Beine kam und sich Halt suchend auf den Schreibtisch stützte. Bens Hemd war durchnäßt. Er atmete schwer, als wäre er meilenweit gerannt.»Muß zum Schluß kommen. muß lesen.«

«Du mußt ein wenig aussetzen, Ben, du machst dich krank!«Der Klang ihrer Stimme ließ ihn aufhören zu zittern. Er wandte sich zu ihr um und schaute sie auf höchst seltsame Weise an.»Judy«, flüsterte er. Dann fiel er auf seinen Stuhl zurück und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Judy kniete vor ihm und wischte ihm den Schweiß ab, der ihm von Gesicht und Nacken strömte. Auch sie selbst war schwach, blaß und erschöpft. Zusammen hatten sie das Martyrium Jerusalems miterlebt.

«Judy.«, murmelte er in seine Hände.»Ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich an alles.«

«Du erinnerst dich woran?«

Schließlich blickte er zu ihr auf. Seine Augen waren von einem eisigen Blau und voller Verwunderung.»Ich erinnere mich daran, daß ich dachte, ich sei David. Ich erinnere mich daran, daß ich wirklich David war. O Gott, was ist nur mit mir geschehen? Was ist mit uns geschehen?«

Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte kein Wort heraus. Dann, nach einem langen Stillschweigen, meinte Ben ein wenig traurig:»Es ist alles vorbei. David ist weggegangen.«

«O Ben. «Sie zitterte vor Erleichterung.

«Ich weiß nicht, woran ich es erkenne, aber ich erkenne es. Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht werden wir eines schönen Tages das Rätsel lösen. Ich frage mich. «Ben ergriff ihre Hände und schaute ihr lange in die Augen.»Welche Rolle spieltest du dabei, Judy? Wäre das alles geschehen, wenn ich dich nicht getroffen hätte? Warst du die Ursache dafür oder nur ein Katalysator?«

Sie blickte erstaunt zu ihm auf. Jetzt waren sie wieder am Ausgangspunkt angelangt, wo sie vor vier Wochen begonnen hatten.

«Ist David je wirklich hier gewesen?«murmelte Ben.»Oder war ich es die ganze Zeit? Aber diese merkwürdigen Übereinstimmungen. «Er nahm Judys Gesicht in seine Hände, küßte ihren Mund und flüsterte:»Ich liebe dich. «Sie lächelte und erwiderte seinen Kuß.

«Ich möchte das herausfinden, Judy. Ich will verstehen, was passiert ist. Später setzen wir uns hin und gehen die ganzen Rollen noch einmal durch. Dann werden wir sehen, ob wir nicht irgendeinen Anhaltspunkt, irgendeinen Schlüssel zu dem Ganzen finden. Ich. ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie früher. David hat mich verändert. Meinst du, daß es irgendwann ohnehin passiert wäre.?«

«Ich weiß es nicht, Ben.«

«Ich muß noch einmal ganz von vorn anfangen, um zu mir selbst zu finden, Judy. Aber diesmal kannst du mir dabei helfen. «Er küßte sie abermals sehnsüchtig.»Und nun. gibt es noch ein wenig mehr zu lesen. Und dann.«

«Und dann?«

«Dann können wir eine ordentliche Übersetzung tippen und sie Weatherby schicken. Die Ereignisse werden sich bald überstürzen, und dann wollen wir vorbereitet sein. Komm, laß uns jetzt sehen, was Davids letzte Worte waren. «So lasen sie gemeinsam die letzten Zeilen des letzten Teilstücks.

Jetzt, da ich Jonathan die Geschichte persönlich erzählt habe, kann ich mich nicht dazu überwinden, diese Schriftrollen zu zerstören oder den Papyrus rein zu waschen, denn sie sind noch immer ein Teil von mir und noch immer mein Vermächtnis. Doch an wen? An künftige Generationen?

Und ebenso, wie ich meine ersten zwölf Schriftrollen sicher verwahrt habe, werde ich nun auch diese letzte verpacken und sie zusammen mit den übrigen sorgfältig verbergen. Und wenn ein Jude sie eines fernen Tages finden sollte, ist er im Grunde nicht auch mein Sohn?

Загрузка...