Kapitel Zehn

Mein Unglück läßt sich nicht mit Worten beschreiben. Hatte es je zuvor eine elendere Kreatur als mich gegeben, eine solche Schande für die Menschheit? In meiner Trunkenheit hatte ich der Thora den Rücken gekehrt und ihre Gesetze entweiht. So war es jetzt nur gerecht, wenn Gott sich von mir abwandte. Wie betäubt wanderte ich durch die Straßen und klammerte mich an das kleine Bündel mit meinen Habseligkeiten. Ich war völlig verwirrt und hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Nach Magdala konnte ich nicht zurückkehren, da ich sonst die Schmach meiner Familie noch vergrößert hätte. Außerdem wußte ich, daß mein Vater mich ohnehin davonjagen würde. Ich wagte nicht, zu meiner Schwester zu gehen und Schande über ihr Haus zu bringen. Ich hatte weder Geld für ein Zimmer in einem Wirtshaus, noch besaß ich die Mittel, um Judäa zu verlassen. Ich hatte kein Talent, keinen Beruf, um mich selbst zu ernähren. Ich konnte nicht länger die sanfte Rebekka anschauen. Und am schlimmsten von allem war, daß Gott mich verlassen hatte. Wegen eines Augenblicks der Schwäche hatte ich alles verloren, wonach ich gestrebt hatte; hatte Schande über mich und meine Familie gebracht, die Frau, die ich liebte, verloren und wurde von Gott verlassen. Konnte es ein erbärmlicheres, verachtenswerteres Geschöpf geben als mich?

Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder in der Stadt zu bleiben und um Almosen zu betteln oder aufs Land zu gehen und darauf zu hoffen, mit Feldarbeit etwas Brot zu verdienen. Keine dieser Aussichten war sehr ermutigend, und ich wünschte mir von ganzem Herzen, ich wäre niemals geboren worden. Ich wanderte den ganzen Tag über durch fremde Straßen und stieß dabei auch in mir unbekannte Teile der Stadt vor. Als ich bei Sonnenuntergang vom vielen Laufen erschöpft war, ließ ich mich an einem Brunnen nieder, wo mehrere Frauen gerade ihr letztes Wasser schöpften. Ihr Anblick erinnerte mich an die Tage, die ich damit verbracht hatte, Eleasars Wasservorräte aufzufüllen, und daran, wie ich es damals eingerichtet hatte, in der gleichen Zeit auch der Witwe das Wasser nach Hause zu tragen. Die Schekel, die sie mir bezahlt hatte, befanden sich unter denen, die ich, völlig kopflos, in der Nacht zuvor Salmonides gegeben hatte. Und der Gedanke daran erfüllte mich mit bitterem Schmerz.

Wie ich so auf dem Brunnenrand saß und hinunterblickte, sah ich den Ausweg aus meiner schlimmen Lage auf seinem trüben Grund. Zu sterben wäre so einfach, so leicht. Da es für mich ohnehin keinen Sinn mehr hatte, zu leben, würde ich meinem Elend durch den Tod entrinnen. Und alles, was ich zu tun brauchte, war loszulassen, mich fallenzulassen.

Es war die Stimme einer Frau, die mich davon abhielt weiterzugehen. Sie hatte in der Nähe ihr Wasser heraufgezogen und war schon abmarschbereit, blieb aber hinter den anderen zurück, um mich zu beobachten.»Guten Abend, Bruder, geht es dir gut? Du siehst müde aus«, hörte ich sie sagen.

Ich warf erst einen flüchtigen Blick über meine Schulter, um zu sehen, mit wem sie sprach, und da ich niemanden gewahrte, schaute ich sie überrascht an. Sie war eine ältere Frau, möglicherweise älter als meine eigene Mutter, und doch noch sehr stattlich und wohlgekleidet.

Sie kam näher an mich heran.»Geht es dir gut?«erkundigte sie sich abermals.

Dann fiel mir ein, daß ich eigentlich gar keinen Grund hatte, überrascht zu sein, daß sie mit mir sprach. Denn schließlich konnte sie ja nichts von meiner Schande wissen.»Es geht mir nicht gut«, erwiderte ich.»Und ich bin todmüde.«

«Bist du auch hungrig?«Ihre Stimme klang gütig. So antwortete ich ihr:»Bevor Ihr Euch meiner erbarmt, gutes Weib, ist es nur recht und billig, wenn ich Euch vor mir warne. Ich bin ein schändlicher Kerl, ein von der eigenen Familie Verstoßener. Es gibt keinen Mann, der mich Freund nennt, und keine Frau, die mich Bruder nennt.«

Doch sie sprach:»Es interessiert mich nicht, was du getan hast. Ich sehe nur, daß du müde und hungrig bist. Wir haben in meinem Haus eine Menge zu essen und einen Platz, wo du schlafen kannst. Du kannst gerne mit mir kommen. «Ich protestierte ein zweites Mal:»Ich bin verbannt, gute Frau. Ihr würdet einem Verfluchten Einlaß in Euer Haus gewähren.«

Doch sie entgegnete:»Es obliegt Gott, über dich zu richten, nicht mir.«

Und ich widersprach ein drittes Mal:»Würdet Ihr eine Giftschlange mit nach Hause nehmen?«

Und da lächelte sie und meinte:»Selbst die Giftschlange sucht ihre Opfer nicht unter ihren Artgenossen.«

Zu matt, um noch weiter zu streiten, und verlockt durch die Aussicht auf Essen, begleitete ich die Frau nach Hause. Dort traf ich mehrere Leute, die mich als einen der Ihren aufnahmen und das Brot mit mir brachen. Sie waren fromme Juden, die makellos weiße Gewänder und Gebetsriemen an Stirn und Arm trugen. An diesem Abend bekam ich eine Matratze zum Schlafen und das Angebot, so lange zu bleiben, wie ich wollte.

Aber nach kurzer Zeit beschloß ich, Miriams Haus — so hieß die gute Frau — wieder zu verlassen, denn seine Bewohner waren ehrwürdige Leute, die beteten, bis ihre Knie gefühllos wurden. Ich spürte, daß meine Gegenwart sie befleckte. Nicht ein einziges Mal versuchten sie herauszufinden, welch schändliche Tat ich begangen hätte. Auch behandelten sie mich in keiner Weise als Fremden, sondern schienen nur um meine Gesundheit besorgt zu sein. Als ich ihnen zwei Tage später meinen Abschied ankündigte, stellten sie mir keine Fragen. Statt dessen gaben sie mir ihren Segen und steckten mir ein paar Schekel in den Beutel.

So schöpfte ich Mut, um ein neues Leben zu beginnen, denn nun zog ich Selbstmord nicht mehr in Betracht. Obgleich ich mich nicht im geringsten als würdig erachtete, vor das Angesicht Gottes zu treten oder auch nur unter Juden zu leben, hatten mir die Ruhe und das gute Essen die Kraft und Entschlossenheit verliehen, meiner unsicheren Zukunft entgegenzusehen.

An dem Tag, als ich Miriams Haus verließ, hatte ich einen Einfall. Mit einem Schekel kaufte ich ein frisches Papyrusblatt und ging damit auf den Marktplatz. Dort breitete ich meinen Umhang auf dem Boden aus, setzte mich darauf und verkündete den Vorbeigehenden lauthals, daß ich ein Briefeschreiber sei. Der Lohn war mager und die Stunden des Dasitzens lang und mühsam. Doch war dies die einzige Art und Weise, wie ich nach meiner Verbannung aus Eleasars Haus in Jerusalem überleben konnte. Mit Miriams Schekeln kaufte ich Papyri, und aufgrund meiner Bildung konnte ich Briefe schreiben. So war ich in den darauffolgenden Wochen imstande, in einem nahen Gasthaus ein Zimmer anzumieten und mir jeden Tag eine Mahlzeit zu leisten.

Und doch war ich auch weiterhin todunglücklich. Ich hörte auf, mein Haar zu kämmen, und ließ meine Kleider zu Lumpen verwahrlosen. Ich würde keinen Mann je mehr meinen Freund nennen können noch die Frau, die ich liebte, je wieder ansehen können. Ich würde mein Leben lang ein erbärmlicher Briefeschreiber inmitten des Kotes und der Fliegen auf dem Marktplatz bleiben. Ich würde mich zu der Masse gesichtsloser

Wesen gesellen, die ebenfalls von Gott verlassen worden waren.

Eines Tages, als ich in der Sonne schwitzte, während sich der Dreck in meine Haut einbrannte, sah ich den Saum eines vertrauten Umhangs an mich herankommen. Als ich aufschaute, glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen, denn es war Saul, und er lächelte mir zu.»Bitte geh weg«, rief ich ihm zu und versuchte, mich vor seinem Blick zu verstecken. Doch Saul kniete im Staub nieder und betrachtete mich ernst. Dann sprach er:»Mein lieber Bruder, ich habe wieder und wieder die ganze Stadt nach dir abgesucht. Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht die Gesichter der Menge studiert hätte, in der Hoffnung, darunter meinen treuen David zu erblicken. Wie habe ich dich vermißt!«

Als er mich umarmen wollte, stieß ich ihn zurück und rief:»Verunreinige dich nicht selbst in meiner Gegenwart. Laß mich in Ruhe und geh deiner Wege. Ich habe gebetet, daß du mich vergessen mögest und daß meine Familie mich für tot hielte. Erzähle ihnen nicht, daß du mich gefunden hast, Saul!«

Seine Stimme klang traurig, als er antwortete:»Sie denken tatsächlich, du seist tot, denn seit drei Monaten hat dich niemand mehr gesehen noch von dir gehört. Wir finden dich nicht auf der Straße und begegnen dir auch nicht im Tempel bei der Andacht. Nur zufällig habe ich heute nach unten geblickt und meinen Bruder erkannt.«

«Ich kann nicht in den Tempel gehen, Saul, denn ich würde es niemals wagen, Gottes heiligen Boden zu entweihen. Sprich, was denkt mein Vater über dies alles?«

«Er war über das Geschehene tief betrübt, David. Trotzdem betet er täglich, daß du zu ihm nach Hause zurückkehren mögest. «Seltsamerweise war es aber nicht die Meinung meines Vaters, die mir das Herz schwermachte.»Und Eleasar?«fragte ich.»Am Tage, als du weggingst, raufte sich

Eleasar die Haare und zog die Trauerkleidung an. Er trägt sie bis auf den heutigen Tag und hat nicht ein Mal deinen Namen ausgesprochen. Doch höre, David, er betet jetzt doppelt soviel, und man kann ihn bis spät in die Nacht weinen hören. Seitdem du uns verließest, leben wir in einem Haus der Trauer. David, ich liebe dich wie meinen Bruder; ohne dich kann ich nicht leben. Bitte, komme zurück!«Doch ich wußte, daß dies unmöglich war, denn Eleasar war ein stolzer Mann, und ich hatte sein Gesetz befleckt. Bevor Saul fortging, mußte er mir versprechen, niemandem etwas von mir oder von dieser Begegnung zu erzählen und niemals zurückzukommen. Er gab mir sein Wort.

Ein Monat verging, bevor ich ein zweites Mal Besuch bekam. Rebekka, die ebenfalls die Stadt nach mir abgesucht hatte, fand mich unter den Straßenhändlern, Bettlern und Eseln, und sie kniete sich vor mich hin und bat mich, zurückzukehren. Sie sprach:»Ich liebe dich, David Ben Jona, und kann es nicht ertragen, dich so zu sehen. Komm mit in mein Haus. Mein Vater wird dich bei sich aufnehmen.«

Doch ich wußte, daß auch dies unmöglich war, denn ich dachte an Eleasar, und dieser war ein stolzer Mann, und ich hatte sein Gesetz befleckt.

Ich war innerlich so zerrissen von Rebekkas Besuch und vom Anblick der Tränen in ihren lieblichen Augen; so elend fühlte ich mich danach, daß ich meinen guten Platz auf dem Marktplatz aufgab und mich jenseits der Stadtmauern niederließ, wo man mich nicht finden konnte, wo aber auch weniger Kunden hinkamen. Eines Tages, als ich wie gewöhnlich, von Fliegen umschwirrt, im Schmutz saß und an einem Stück hartem Käse knabberte, stand plötzlich ein hochgewachsener, bescheiden gekleideter Mann vor mir. Er hatte die Sonne im Rücken, so daß ich nur seine Umrisse wahrnahm.»Wie hoch ist dein Honorar?«fragte er mich.»Ein

Schekel für den Papyrus und das Schreiben, Meister, und zwei Schekel für den Karawanenführer.«

«Wie weit kannst du einen Brief schicken?«fragte er weiter.»Ich stehe in Verbindung mit Männern, die bis nach Damaskus, Alexandria und sogar bis nach Rom reisen. Um einen Brief weiter zu schicken, wie etwa nach Gallien oder Britannien, müßt Ihr Euch nach einem anderen umsehen.«

«Mein Brief muß keinen weiten Weg zurücklegen«, entgegnete er,»und es ist auch ein sehr kurzer Brief.«

«Es wird Euch trotzdem einen Schekel kosten, Meister«, gab ich zurück.

«Es sei, wie du sagst«, antwortete er und räusperte sich, um zu diktieren.

Ich spuckte auf meinen Tintenstein und tauchte die Spitze meines Schreibrohres hinein. Dann hielt ich meine Hand, zum Schreiben bereit, über den Papyrus.

«Dieser Brief geht an meinen Sohn David, der in Jerusalem lebt«, begann er mit leiser Stimme.»Ich will ihm sagen: Mein Sohn, ich habe Unrecht getan. Ich war ein eitler und gotteslästerlicher Mann, indem ich an Gottes Stelle das Urteil sprach. Nicht mir oblag es, dich zu richten, sondern Gott, und in meinem Stolz tat ich es dennoch. Ich liebte dich mehr als meine eigenen Söhne, denn du warst scharfsinnig und zeigtest eine einzigartige Leidenschaft für das Gesetz Gottes. Ich war ein selbstsüchtiger Mann und dachte nur daran, wie sehr du meinen Namen mit Ruhm bedecken würdest, wenn du erst einmal als Schriftgelehrter im Tempel Aufnahme gefunden hättest. Als du die besagten Sünden begingst, faßte ich sie als eine persönliche Beleidigung auf — und nicht als eine Beleidigung Gottes. Und dies war ganz falsch. Ich bin ein schwacher, eitler Mensch gewesen und habe meiner Familie durch meine selbstsüchtige Verbitterung Leid zugefügt. Und durch meine Entrüstung habe ich dich bewogen, dich vom

Tempel fernzuhalten und Gott den Rücken zu kehren. Nun bitte ich dich, zu mir zurückzukommen, David, und einem alten Lehrer seinen Stolz nachzusehen. «Verblüfft blickte ich schweigend zu Eleasar auf. Jetzt, wo er sich gegen die Sonne abhob, erschien er dünner als zuvor, fast gebrechlich. Seine Stimme bebte; seine Augen waren gen Himmel gerichtet.

Als ich den Saum seines Gewandes küssen wollte, beugte sich Eleasar zu mir herunter und hob mich auf. Und dann umarmten wir uns, wie es sich für Vater und Sohn gehört. Er war so schmächtig in meinen Armen und kam mir plötzlich so klein vor. Ich hatte früher nie auf Eleasars Wuchs geachtet und hatte auch nicht bemerkt, daß ich größer war als er.

«Du mußt mit mir in den Tempel zurückkehren«, sagte er mit Freudentränen in den Augen,»und wieder mein Schüler sein. «Doch ich entgegnete:»Ich will mit Euch in den Tempel zurückkehren, Rabbi, aber nur als einfaches Mitglied der Gemeinde, nicht als Euer Schüler. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Die Nacht meines fürchterlichen Falls vor sechs Monaten hat mir die Augen geöffnet und mir gezeigt, daß ich nicht würdig bin, mich einen Schüler des Gesetzes zu nennen. Ich aß Schweinefleisch und starrte auf die Nacktheit junger Mädchen. Ich vergaß Gott und das Volk Israel in meiner Gier nach mehr Geld, und dies ist nicht wiedergutzumachen. Saul ist ein guter Schüler, und er liebt das Gesetz. Er würde sich niemals die Ruchlosigkeit gestatten, der ich in jener Nacht verfiel, denn er ist ein stärkerer Mann als ich. Macht ihn zu Eurem besten Beispiel, Eleasar, denn dies wäre Euer beider würdig. «Wir blieben lange Zeit so beim Tor stehen und weinten uns an der Schulter des anderen aus. Als wir später dann nach Hause kamen, war die Freude in seiner Familie und unter den anderen Schülern groß. Und nachdem ich mir frische Kleider angezogen und die Füße eines jeden Anwesenden gewaschen hatte, erzählte uns

Rabbi Eleasar die Geschichte vom verlorenen Sohn. Am nächsten Tag sah ich Rebekka.

Judy mußte mehrmals laut klopfen, bevor Ben die Tür öffnete. Er war überrascht, sie zu sehen.

«Ist etwas nicht in Ordnung?«fragte sie.»Geht es Ihnen gut?«

«Ich. ja, mir geht es prima. «Er rieb sich die Stirn und blickte finster.»Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

Judy erschrak, als sie bemerkte, wie verstört er war, wie verkrampft und müde.

«Sie haben bei mir vor etwa einer Stunde angerufen und mich gebeten, herzukommen.«

Er zog seine Augenbrauen hoch.»Ich?«Ben rieb sich abermals die Stirn.»Ich soll.?«

«Soll ich hereinkommen?«

«Oh, natürlich! Aber sicher!«Er versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen, als sie an ihm vorbei in die Wohnung ging und die Tür hinter sich schloß. War vor einer Minute nicht Angie hier gewesen?

«Wie spät ist es?«fragte er mit belegter Stimme.»Es ist zehn Uhr, Dr. Messer. Ich kam, so schnell ich konnte. «Judy sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, bemerkte, daß seine Brille fehlte und daß sein blondes Haar nach allen Seiten vom Kopf abstand.»Erinnern Sie sich nicht daran, daß Sie mich angerufen haben?«

«Ich. «Ben massierte sich die Schläfen.»Ja. jetzt erinnere ich mich. Aber Angie war doch hier. Nein, warten Sie, sie ist ja gegangen. Wir hatten eine Auseinandersetzung, und danach ist sie gegangen. Aber das ist schon Stunden her! O Gott!«

Ben lief in die Küche, wo er sich daranmachte, die Kaffeekanne mit Wasser zu füllen. Als er spürte, daß Judy hinter ihm im Türrahmen stand und ihn beobachtete, meinte er:»Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr ich mich in dieser letzten Schriftrolle verloren habe. Es ist, als ob ich überhaupt nicht hier gewesen wäre. Es kommt mir gerade so vor, als wäre ich um zweitausend Jahre zurückversetzt worden und hätte Davids Leben noch einmal gelebt.«

«Haben Sie heute wieder eine Rolle bekommen?«Er schaute zu Judy auf. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er sie im Unterricht an der Uni gesehen hatte. Und doch war es erst an diesem Nachmittag gewesen. So viel war seither geschehen: David hatte sein Geld verloren und war in Ungnade gefallen, so daß er wie ein Bettler unter dem Pöbel von Jerusalem leben mußte.»Ja, ich habe heute Nummer sechs bekommen.«

«Ist es.«

Ben schaute hinab auf seine zitternden Hände.»O Herrgott, was geschieht nur mit mir! Ich kann nicht glauben, daß mich diese Rollen derart beeinflussen, daß ich solche Reaktionen zeige. Ich muß mich erst wieder beruhigen.«

«Warum setzen Sie sich nicht hin und lassen mich den Kaffee machen?«

Ben verließ die Küche und kam ein paar Minuten später mit den losen Blättern zurück, auf die er seine Übersetzung geschrieben hatte. Stirnrunzelnd betrachtete er sie.»Ich kann mich nicht erinnern, das hier geschrieben zu haben. Helfen Sie mir doch, Judy! Ich kann mich nicht erinnern, auch nur ein einziges von diesen Blättern geschrieben zu haben. Und doch ist dies hier die vollständige Übersetzung von Rolle sechs.«

Sie nahm ihm die Seiten aus der Hand und überflog die unregelmäßige, kaum leserliche Handschrift.»Noch nie bin ich von einer Sache so sehr in Anspruch genommen worden wie von dieser«, fuhr er fort.»Ich habe mich so sehr hineinvertieft, daß mir nicht einmal bewußt war, daß ich etwas las. Vielmehr habe ich die geschilderten Ereignisse tatsächlich erlebt.«

Sie nahmen ihren Kaffee und die übersetzten Seiten und gingen zu ihren gewohnten Plätzen auf der Couch. Judy zog ihre Schuhe aus und machte es sich im Schneidersitz für die lange Lektüre bequem. Ben beobachtete sie dabei. Er hatte das Gefühl einer gewissen Sicherheit, wenn sie an seiner Seite war, etwas, das er mit Angie nie verspürt hatte. Judy Golden besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, wirklich zu verstehen, was er zur Zeit durchmachte, und das brauchte Ben jetzt.

Während sie las, schwebten sie beide irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es war ein unwirklicher Augenblick. Denn in dem Moment, als sich ihre Augen in die von ihm geschriebenen Worte versenkten, wußte Ben, daß Judy wieder in Jerusalem war.

Sie ließ die Blätter in ihren Schoß fallen, während sie vor sich hin starrte.»Das ist phantastisch. ganz phantastisch!«flüsterte sie. Ben nahm die Seiten sorgsam an sich und legte sie auf dem Kaffeetischchen ordentlich zu einem Haufen zusammen.»Sie haben es also auch gespürt?«

Judy wandte sich zu ihm um. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und es spiegelten sich darin die Bilder wieder, die soeben an ihr vorbeigezogen waren.»Ja! Wie könnte man es nicht spüren? Es ist, als ob die zwischen uns liegenden zweitausend Jahre überhaupt nicht existierten.«

«Haben Sie Jerusalem gesehen? Haben Sie Jerusalem gespürt?«Judy blickte Ben direkt ins Gesicht, und für einen Moment war in ihren Augen ein verwirrtes Flackern zu erkennen. Zum erstenmal, seit sie ihn zu Hause besuchte, bemerkte sie eine Veränderung an ihm.»Was sehen Sie, wenn Sie diese Worte lesen?«fragte sie und beobachtete aufmerksam sein Gesicht.

«Dasselbe wie Sie. Die überfüllten Straßen des alten Jerusalem, die Mauern aus Lehmziegeln und die aufragenden Gebäude. Ich sehe Fremde in farbenfrohen Gewändern auf dem geschäftigen Marktplatz. Die feinen Straßen der römischen Oberschicht und das verwahrloste Armenviertel. Ich höre das Geplapper von vielen Menschen und rieche die Düfte von tausend Dingen. Ich spüre die Hitze der Sonne Judäas im Nacken und laufe durch den Staub von Jerusalems Gassen.«

Während er sprach, erwachte Ben zu neuem Leben. Sein Gesicht glühte, und seine Gebärden waren lebhaft. Judy hörte die Erregung in seiner Stimme und beobachtete das Leuchten in seinen Augen. Und langsam begann sie, dort eine verborgene Eigenschaft wahrzunehmen. eine, die sie zuvor noch nicht bemerkt hatte. Durch seine Bewegung und Ausdrucksweise wirkte Ben wie ein Mensch, der von einer weiten Reise zurückkehrt. Judy nahm ihre Tasse und hielt sie lange an ihre Lippen. Der heiße Kaffee wärmte ihr das Gesicht und füllte ihre Nase mit einem köstlichen Wohlgeruch. Und während sie dasaß und halb Bens Beschreibung von Jerusalem lauschte, halb über David Ben Jonas Worte nachdachte, kam sie zu der Erkenntnis, daß der Mann neben ihr eine gewisse Veränderung durchgemacht hatte.»Woran denken Sie gerade?«fragte er plötzlich. Ja, eine deutliche Veränderung. Seine Sprache klang irgendwie ganz anders.

«Ich stellte mir gerade das Bild vor, das Sie von Jerusalem malen«, erwiderte sie.»Sie bringen es einem richtig zum Bewußtsein.«

«Das ist Davids Verdienst, nicht meines. Er läßt mich die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. «Er stieß einen langen Seufzer aus und wandte sich dann lächelnd zu ihr um.»Wissen Sie, was ich an Ihnen so mag? Sie sind eine gute Zuhörerin.

Nein, es ist mehr als das. Sie sind anpassungsfähig. Es scheint Ihnen gleichgültig zu sein, ob man sich unterhält oder nicht. Wenn ich wollte, könnte ich hier schweigend sitzen, und Sie würden ebenfalls geduldig bei mir sitzen bleiben. Und wenn ich mich entscheiden würde zu sprechen, würden Sie zuhören. Das ist eine seltene Eigenschaft, wissen Sie?«

Judy schaute weg. An Komplimente war sie nicht gewöhnt. Von Schmeicheleien fühlte sie sich unangenehm berührt.

Ben studierte für einen Augenblick ihr Profil und fragte sich, ob er sie zum erstenmal sah. Judy Golden war eigentlich nicht direkt ein hübsches Mädchen, aber sie hatte ein interessantes Gesicht. Große, nachdenkliche Augen mit langen, schwarzen Wimpern. Eine gerade, scharf geschnittene Nase und einen kleinen Mund. Glattes, schwarzes Haar, das stets frisch gewaschen war und glänzte. Judy war ein stilles, fast etwas befremdliches Mädchen. Und Ben war froh, sie bei sich zu haben.

«Wissen Sie. Ich frage mich. «Ben wußte nicht, wie er formulieren sollte, was ihm auf der Zunge lag.»Was fragen Sie sich?«

«Ob meine Familie vor langer, langer Zeit wirklich einmal dem Stamm der Benjaminiten angehörte. Vielleicht bekam ich deshalb den Namen Benjamin, und nicht weil ein Onkel von mir so hieß.«

«Das ist möglich. Die Stämme bestehen heute noch in den Levis, den Cohens und den Reubens fort. Wenn Sie zu den Benjaminiten gehören, wären Sie in guter Gesellschaft. Der erste König von Israel, Saul, war einer vom Stamme Benjamins.«

Ben nickte.»Saul.«, wiederholte er langsam und sah im Geiste Davids Freund. Wie sehr ähnelte doch diese Freundschaft seiner Beziehung zu Solomon vor vielen Jahren! Es gab viele Parallelen: Solomon war größer als Ben; Solomon lachte oft und gewann mit seiner liebenswerten Art schnell

Freunde; Solomon war auf der Rabbinerschule geblieben, während Ben einen anderen Lebensweg eingeschlagen hatte.

«Wir sind uns so ähnlich. so ähnlich«, murmelte Ben.»Was haben Sie gesagt?«

«Ich denke gerade an einen Freund von früher, einen Jungen namens Saul Liebowitz. Wir waren ähnlich eng befreundet wie David und Solomon. «Ben schüttelte den Kopf.»Nein, ich meine wie David und Saul. Solomon war der Name meines Freundes. «Ben starrte auf seine Hände und dachte über Davids Entschluß nach, das Studium der Gesetze nicht fortzusetzen. Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch in Brooklyn, als er versuchte, Solomon zu erklären, warum er die Rabbinerschule verlassen wollte.

«Wissen Sie«, sagte er schließlich zu Judy, sprach aber mehr zu sich selbst,»zu dieser Zeit, als ich beschlossen habe, nach Kalifornien zu gehen, um dort zu studieren, hatte ich eigentlich vor, weiterhin am jüdischen Glauben festzuhalten. Ich denke, ich habe mir damals selbst etwas vorgemacht. Oder vielleicht hatte ich auch Angst, mir selbst gegenüber und zu meinen Freunden ehrlich zu sein. Ich hatte zu Solomon gesagt, daß ich immer noch ein Jude sei, auch wenn ich nicht länger die Rabbinerschule besuchen wollte. Aber das war nicht ehrlich gemeint. Rückblickend erkenne ich, daß ich schon damals nicht die Absicht hatte, beim Judentum zu bleiben. Eigentlich konnte ich gar nicht schnell genug davon wegkommen.«

Er betrachtete Judy mit trüben Augen.»Wissen Sie was? Ich war immer heimlich froh darüber, daß ich nicht jüdisch aussehe.«

«Oh, bitte.«

«Es ist wahr. Und keiner meiner Freunde weiß, daß ich Jude bin. Es ist wie ein streng gehütetes Familiengeheimnis, wie eine Leiche im Keller, die fault und modert und zum Himmel stinkt. O Gott!«Er stand unvermittelt auf.»Das ist verrückt!

Hier sitze ich und verrate Ihnen schon wieder meine innersten, dunkelsten Geheimnisse. Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt wohl denken.«

«Nein, das können Sie nicht«, entgegnete sie sanft. Ben schaute zu ihr herab. Da war es schon wieder, dieses sonderbare Verlangen, Judy Golden an seiner Seite zu haben; ein schwacher, flüchtiger Gedanke, der sich seinem Zugriff entzog, so daß er ihn nicht fassen konnte. Hatte er sich nicht einmal geschworen, ihr von den nächsten Rollen nichts zu erzählen? Hatte er sich nicht ganz fest vorgenommen, ihr keine vertraulichen Mitteilungen mehr zu machen? Doch was war es, fragte er sich jetzt, welche namenlose Sehnsucht setzte sich über seine Vernunft hinweg und veranlaßte ihn, sie zum wiederholten Male zu sich zu rufen?

Ben schüttelte abermals den Kopf. Der Gedanke war verflogen, bevor er ihn greifen konnte. Es hatte etwas mit David zu tun. Ben wandte sich von ihr ab und begann, mit großen Schritten durch den Raum zu laufen. Er ging vor Judy auf und ab wie ein Rechtsanwalt vor den Geschworenen, während sein Geist schon wieder von einem Gedanken zum nächsten sprang. Diese raschen Stimmungsänderungen waren unkontrollierbar, unberechenbar. Ben war sich dessen nicht einmal bewußt, aber Judy bemerkte, wie sein Gesicht sich nach einer angestrengten Überlegung entspannte und sich gleich darauf wieder in nachdenkliche Falten legte. Ein neuer Gedanke ging Ben nun im Kopf herum.

«Wissen Sie, seit ich mit der Übersetzung der Rollen begann, habe ich die unglaublichsten Alpträume. Und wenn ich wach bin, kann ich meine Gedanken nicht mehr steuern. «Er unterbrach sich und starrte vor sich hin.

Sie erhob sich und trat ihm gegenüber.»Vielleicht erinnern die Rollen Sie an Dinge.«»Natürlich tun sie das!«platzte er heraus.»Schauen Sie sich doch die ganzen verdammten Übereinstimmungen an!«

«Nun, es gibt.«

«Ich weiß, es klingt verrückt, Judy, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß. daß. «Er stürzte wie wild auf sie zu; sein Mund verzerrte sich, und er vermochte das nächste Wort nicht auszusprechen.

«Welches Gefühl werden Sie nicht los?«flüsterte sie. Er biß sich heftig auf die Unterlippe, als ob er sich selbst am Sprechen hindern wollte. Dann sagte er:»Das Gefühl, daß David Ben Jona wirklich zu mir spricht. «Judy riß die Augen auf.

«Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich glaube daran! Es ist, als ob David noch immer lebt, als ob er mir beim Übersetzen über die Schulter schaut.«

Ben drehte sich rasch um und lief im Zimmer hin und her wie ein in einem Käfig gefangenes Tier.»Und was noch schlimmer ist, ich habe keine Kontrolle darüber! Wie sehr ich es auch versuche, David geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Ich ertappe mich bei Gedanken, die er gedacht haben könnte. Ich schwelge in Erinnerungen an Magdala, als erinnerte ich mich an meine eigene Kindheit. Ich träume mit offenen Augen von Rebekka und vom Sommer in Jerusalem. Ich leide unter Gedächtnisschwund. Ich kann mich nicht daran entsinnen, die Übersetzungen geschrieben zu haben. Ich vergesse ständig, welche Tageszeit es ist.«

Plötzlich hielt er mitten in seiner Rede inne.»Sie denken, ich bin verrückt, nicht wahr?«

«Nein, das tue ich nicht.«

«Dann sagen Sie mir, was Sie davon halten?«

«Ehrlich?«

«Ehrlich.«

«Nun, ich denke, daß die Rollen bei Ihnen auf die eine oder andere Weise Erinnerungen an Ihre Vergangenheit wachgerufen haben. Erinnerungen, die Sie lieber vergessen wollten und die Sie bis heute verdrängen konnten. Vielleicht sind es sogar Schuldgefühle.«

«Schuld!«

«Sie haben mich doch darum gebeten, ehrlich zu sein. Ja, Schuld.«

«Weswegen?«

«Wegen der völligen Ablehnung Ihrer Vergangenheit und Ihres jüdischen Erbes. Als Kind wurden Ihnen jüdischorthodoxe Verhaltensregeln eingeschärft, und dann, ganz plötzlich, kehrten Sie dem allen den Rücken. Sie haben sich so weit davon entfernt, daß Sie Juden heute beinahe als eine andere Sorte Mensch betrachten und nicht als Ihr eigenes Volk. Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, warum Sie Ihr Leben lang danach streben, uralte geistliche Texte zu übersetzen? Sie sind auf der Suche nach Ihren eigenen Ursprüngen. Indem Sie sich mit hebräischen Manuskripten befassen, suchen Sie vielleicht nach Ihren eigenen verlorengegangenen jüdischen Wurzeln«.»Unsinn!«

«Nun, als Sie sich vom Judentum abwandten, gaben Sie es dennoch nicht vollständig auf, oder? Statt dessen gingen Sie es von einer anderen Seite an. Jetzt sind Sie der unbeteiligte Wissenschaftler, der anstelle des Talmudisten die alten Texte liest. In einer etwas verdrehten Art und Weise haben Sie die Hoffnungen erfüllt, die Ihre Mutter in Sie setzte — nämlich ein Rabbi zu werden. Indem Sie als Paläograph arbeiten, dienen Sie zugleich zwei Persönlichkeiten, dem Juden und dem Nichtjuden.«

«Das ist doch wirklich an den Haaren herbeigezogen! Ich befasse mich mit alten Manuskripten, weil ich von der Jeschiwa her gute Voraussetzungen dafür mitbrachte. Ich hätte ein anderes Sachgebiet wählen können, doch damit hätte ich gute Wissensgrundlagen einfach verkommen lassen. Sie haben noch immer nicht meine Frage beantwortet: Weswegen sollte ich Schuldgefühle haben?«

«Also gut, wenn es nicht wegen des jüdischen Glaubens selbst ist, dann vielleicht wegen Ihrer Mutter.«

«O Gott, meine Mutter! Sie haben ja keine Ahnung, wie es war, von ihr erzogen zu werden! Tag für Tag zu hören, daß die Juden die Heiligen auf Erden seien. Daß alle Gojim böse seien. Um Himmels willen, die Juden haben doch keine Monopolstellung bei der Verfolgung. Sie waren nicht die einzigen, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Polen und Tschechen und andere Menschen, die die Deutschen als minderwertig ansahen, wurden vernichtet! Warum zum Teufel müssen wir immer die leidenden Diener Gottes sein?«Diesen letzten Satz hatte Ben so kraftvoll ausgestoßen, daß seine Adern an Hals und Schläfen hervortraten. Dann verstummte er plötzlich, atmete schwer und blickte zu Judy.»Es tut mir leid«, murmelte er.

Er ging zurück zur Couch und ließ sich müde darauf fallen.»So bin ich nie gewesen. David fördert wohl alle in mir aufgestauten Gefühle der Ohnmacht zutage. Es tut mir wirklich leid, Judy. «Sie setzte sich neben ihn.»Ist schon gut.«

«Nein, ist es eben nicht. «Ben ergriff ihre Hände und hielt sie ganz fest.»Ich rufe Sie spätabends an, und dann schreie ich Sie an wie ein Wähnsinniger. Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist. Ich bin wohl tatsächlich verrückt geworden.«

Judy schaute auf ihre eng umschlungenen Hände und fühlte, wie eine sonderbare Wärme sie durchströmte.

«Ich bin besessen«, sagte er.»Ich weiß es, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. David würde es nicht zulassen.«

Wieder wurde Ben von merkwürdigen Bildern und entsetzlichen Alpträumen gepeinigt. Gefangen im Schlaf, war er Zeuge der unglaublichen Greuel im Konzentrationslager, mußte mit ansehen, wie sein Vater grausam umgebracht und seine Mutter brutal gefoltert wurde. Die ganze Nacht lang wurde er von Jahrhunderten jüdischer Verfolgung gequält. Er erlebte mittelalterliche Massaker und Pogrome. Er sah, wie Juden in rasenden Ausbrüchen christlichen Glaubenseifers dahingeschlachtet wurden.

An einer Stelle erwachte er zitternd, fiebrig und zugleich eiskalt. Seine Bettwäsche war herausgezerrt und zu einem Knäuel zusammengedreht. Wankend lief Ben auf den Flur hinaus und stellte den Thermostat höher. Dann kroch er wieder ins Bett zurück und zog die Bettdecke über sich. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, und er bebte derart, daß das Bett wackelte.»O Gott!«stöhnte er.»Was ist nur los mit mir?«Als er wieder in Bewußtlosigkeit versank, wurde er nur noch stärker von Alpträumen heimgesucht. Er sah sich unter einem Galgen stehen und auf eine bösartige, johlende Menge herabblicken. Ein Mann ohne Gesicht stand neben ihm und rief aus:»Spricht irgend jemand von euch für diesen Mann?«

Und die Menge brüllte zurück:»Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!«

Als ihm die Schlinge des Henkers um den Hals gelegt wurde, schrie Ben:»Nein, nein, ihr habt es falsch verstanden! Matthäus hat das nur erfunden, um Römer zum Christentum zu bekehren. Die Juden waren nicht verantwortlich!«

Doch die Menge grölte abermals:»Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!«und bekundete mit Gebärden, daß es sie nach seinem Tod gelüstete.

Da kam der gesichtslose Mann ganz dicht an Ben heran und flüsterte ihm ins Ohr:»Kapitel siebenundzwanzig, Vers fünfundzwanzig. «Dann straffte sich das Seil, und Ben spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab.

Mit einem erstickten Schrei in der Kehle fuhr Ben im Bett hoch. Sein ganzer Körper war schweißgebadet, und die Laken waren klatschnaß.

«Jahrhundertelanges Leiden«, flüsterte er in die Finsternis hinein,»und alles wegen dieser einen Zeile. O Gott, das hätte doch verhindert werden können!«Und er verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte.

Bei Tagesanbruch war er erschöpft und fühlte sich so, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Erinnerungen an die Alpträume verfolgten ihn hartnäckig, als er sich frischmachte und für den Tag vorbereiten wollte. Unter der heißen Dusche grübelte er über die symbolische Bedeutung seiner Träume nach und fragte sich, warum sie nach all den Jahren ausgerechnet jetzt zu ihm zurückkamen. Er nahm keine Notiz von der Unordnung in seiner Wohnung und achtete nicht auf Poppäa, die um Futter bettelte. Wie in Trance saß er über einer Tasse mit bitterem Kaffee. Vor seinen Augen tanzten Bilder aus seinen Träumen — phantastische, unheimliche Szenen von Tod, Verstümmelung und bestialischer Grausamkeit. Sie widerten ihn an und erfüllten ihn mit Trostlosigkeit und Kälte. Ihm war, als ob er persönlich eine Nacht lang die Schmerzen, Qualen und Erniedrigungen aller Juden in zwei Jahrtausenden Geschichte erlitten hätte.

«Alles wegen einer Zeile in einem Buch«, murmelte er über dem Kaffee.»Warum tust du mir das an, David? Warum muß ich leiden?«Vor seinem trüben, teilnahmslosen Blick tauchte das Bild von David Ben Jona auf, einem dunklen, ansehnlichen Juden mit ernsten, nachdenklichen Augen. Er war keine greifbare Erscheinung, sondern eine nebelhafte, durchscheinende Gestalt wie aus einer Fata Morgana. Ben starrte ihn ohne Gemütsbewegung an und sprach ohne Empfindung:»Wenn ich nur wüßte, warum deine Wahl ausgerechnet auf mich fiel, könnte ich es vielleicht noch ertragen. Aber ich weiß es nicht und habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren.«

Ben stand langsam auf und wanderte ins Wohnzimmer hinüber. Er legte sich auf die Couch und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Vielleicht würde er bei Tageslicht besser schlafen können. Doch dies war nicht der Fall. Sobald er eingeschlafen war, gingen die Träume aufs neue los. Genauso lebendig, als ob sie sich wirklich ereigneten. Ben war wieder bei seiner Mutter in Brooklyn und erbrach sich im Badezimmer. Sie hatte wieder angefangen, vom Konzentrationslager zu erzählen — immer und immer wieder wie eine Geistesgestörte. Sie berichtete von Greueltaten, die der vierzehnjährige Ben noch gar nicht verkraften konnte. Es war nicht das erstemal, daß er sich so übergeben hatte. Und die ganze Zeit über Rosa Messers weinerliche Stimme:»Für deinen armen toten Vater mußt du ein Rabbiner werden, Benjamin. Er starb, indem er für Juden kämpfte. Nun mußt du seinen Platz einnehmen und die Gojim bekämpfen. «Daß seine Mutter in Majdanek in mancher Hinsicht verrückt geworden war, hatte Ben immer gewußt. Und daß sie mit jedem Jahr, das verging, unausgeglichener wurde, war ihm ebenfalls bekannt. Doch warum er selbst auf ihr Wehgeschrei so heftig reagiert hatte, warum er ihr das für sie so kostbare Judentum ins Gesicht geschleudert hatte, das konnte er bis heute nicht verstehen.

«Weißt du, Benjy«, hatte Solomon Liebowitz bei ihrer letzten Begegnung gesagt,»du bist dir nur selbst nicht ganz klar darüber, warum du dem jüdischen Glauben den Rücken kehren willst.«

«Ich habe nicht gesagt, daß ich ihm den Rücken kehren wolle. Ich werde trotzdem noch Jude bleiben.«

«Aber kein orthodoxer, Benjy, und damit bist du überhaupt kein Jude mehr. Du hast die Thora und die Synagoge aufgegeben, Benjy, und ich kann einfach nicht verstehen, warum.«

Ben hatte die Ohnmacht in seinem Inneren gespürt. Wie konnte er seinem besten Freund Solomon erklären, wie konnte er ihm begreiflich machen, daß er, um von seiner unglücklichen Vergangenheit loszukommen, sich auch vom Judentum lösen mußte? Weil Judentum und Unglück für Ben unentwirrbar miteinander verflochten waren.

«Es wird deine Mutter ins Grab bringen«, hatte Solomon gewarnt.»Sie hat Schlimmeres durchgemacht.«

«Wirklich, Benjy? Hat sie das?«

Dieser letzte Abschied von Solomon war einer der schmerzlichsten Augenblicke in Bens Leben gewesen. Und jetzt, als er sich in seinen Alpträumen verzweifelt auf der Couch wand, strömten all die quälenden Erinnerungen an Rosa Messer und Solomon Liebowitz zu ihm zurück.

Im letzten Traum stand Ben David gegenüber. Der stattliche, bärtige und fein gekleidete Jude sagte in Aramäisch:»Du bist ein Jude, Benjamin Messer, ein Mitglied von Gottes auserwähltem Volk. Es war falsch, dein eigenes Volk durch deine Feigheit im Stich zu lassen. Dein Vater ist im Kampf für die Würde der Juden gestorben. Doch du würdest davor Reißaus nehmen, als handelte es sich um etwas Unreines.«

«Warum verfolgst du mich?«schrie Ben im Schlaf.»Ich verfolge dich nicht. Du verfolgst dich selbst. Kapitel siebenundzwanzig, Vers fünfundzwanzig.«

Das Klingeln des Telefons riß ihn aus dem Schlaf. Er hob völlig verwirrt ab. Am anderen Ende hörte er Dr. Cox’ Stimme klar und deutlich. Es war Nachmittag, und Ben war schon zum dritten Mal nicht zum Unterricht erschienen. Was stimmte nicht? Ben hörte sich selbst als Entschuldigung irgend etwas von Krankheit murmeln. Dann vereinbarte er mit Professor Cox, sich um fünf Uhr in dessen Büro mit ihm zu treffen. Ob er denn persönliche Probleme habe, ob ein Lehrer als Vertretung nötig sei.»Das sieht dir ja überhaupt nicht ähnlich, Ben.«

«Ja, ja, danke. Bis um fünf dann.«

Ben legte auf und wandte sich ruckartig vom Telefon ab. Ein leichter Schmerz rumorte in seinem Kopf und ein noch größerer in seinem Magen. Ohne richtig darüber nachzudenken, lief er schnurstracks in die Küche und durchstöberte die Schränke nach etwas Eßbarem.

Schließlich fand er eine Büchse mit Suppe, leerte sie in einen Topf, stellte den Topf auf den Herd und verließ die Küche. Ihm war so schlecht wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es überstieg körperliches Unbehagen bei weitem, denn die Gründe für diese Übelkeit waren in den Abgründen seiner Seele zu suchen. Ben fühlte sich durch und durch krank, gequält von den gräßlichen Alpträumen, die ihn verfolgten.

Er ließ sich auf die Couch zurückplumpsen und starrte wie betäubt vor sich hin. Er war unglaublich müde. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte noch etwa eine Stunde bis zur Postzustellung an — noch eine Stunde, bevor er wieder in Jerusalem sein, in Davids Haut schlüpfen und der Gegenwart entfliehen konnte. Eine qualvolle Stunde des Wartens auf die nächste Rolle, wenn es überhaupt eine solche geben würde. War Weatherby am Ende angelangt? Ben rieb sich mit den Fäusten die Augen. Irgendwann letzte Woche hatte Weatherby ihm mitgeteilt, er habe vier weitere Rollen gefunden. Wann war das gewesen? Hatte Ben sie etwa schon gelesen?» O Gott, bitte nicht«, flüsterte er.»Mach, daß die Rollen nicht eher enden, als bis ich sie alle gelesen habe. Ich muß herausfinden, was David mir sagen will. Ich muß wissen, warum er gerade mich auswählte.«

Die Stunde verbrachte Ben träumend im Jerusalem der Antike. Er schloß die Augen, legte den Kopf nach hinten und glitt sanft in eine andere Welt hinüber. In West Los Angeles fiel grauer Regen, doch in Jerusalem war es heiß und sonnig. Die Straßen waren staubig und erfüllt von dem ständigen Summen der Fliegen. Hunde schliefen im spärlichen Schatten, und die Bettler waren nirgends zu sehen. Ben ging zusammen mit seinem Freund David spazieren. Sie gingen auf das Tor zu, das zu den Gärten jenseits der Stadt führte. Sie würden der Straße nach Bethanien folgen, den Kidron überqueren und den alten Händler auf dem Ölberg besuchen. Vielleicht würden sie auch im Schatten eines Olivenbaumes etwas Wein trinken und die müßigen Stunden ungestört mit Scherzen und Lachen verbringen. Es war ein gutes Gefühl, einen Nachmittag mit David zu verleben, und Ben kehrte nur ungern in die Wirklichkeit zurück. Nur aus einem Grund tat er es dennoch. Der Postbote würde bald vorbeikommen. Mit einem Satz erwachte er plötzlich wieder zum Leben, stürmte zum Garderobenschrank und zog hastig eine Jacke daraus hervor.»Okay, David, mein Freund. Nun wollen wir hoffen, daß du mich nicht enttäuschst.«

Er sprang die Stufen hinunter und blieb jäh vor den Briefkästen stehen. Ein kurzer Blick ergab, daß die Post noch nicht dagewesen war. So ließ er sich auf den kalten, feuchten Stufen nieder und wartete. Fünfzehn Minuten vergingen. Ben war außer sich vor Ungeduld. Er begann, in dem glitschigen Durchgang auf und ab zu gehen und kümmerte sich nicht um den Nieselregen, der auf ihn herabfiel. Je näher der Augenblick rückte, da er die nächste Rolle lesen würde, desto unerträglicher wurde das Warten. Und als er so mit hinter dem Rücken gefalteten Händen hin- und herlief, war sich Ben völlig darüber im klaren, daß ein unsichtbarer Geist an seiner Seite harrte. Es war David Ben Jona. Er paßte auf, daß die nächste Rolle auch sicher ankäme.

Als der Briefträger auftauchte, stürzte Ben auf ihn zu.»Messer? Wohnung dreihundertzwei? Lassen Sie mich nachschauen. «Der Mann blätterte die Post in seinen kalten Händen durch.»Muß wohl ein Scheck sein. Richtig? Es scheint, daß sich nur Leute, die auf Schecks warten, in der Nähe der Briefkästen herumtreiben. «Er hatte den Stoß fertig durchgesehen.»Nee, da gibt es keinen Brief für Messer. Tut mir leid.«

Ben schrie beinahe auf.»Es muß aber einer dabei sein! Sehen Sie noch einmal nach. Ein großer, brauner Umschlag.«

«Schauen Sie, Mister, Sie können sich selbst überzeugen. Hier ist nichts dabei.«

«Wie steht es denn mit Ihrer Tasche? Schauen Sie doch dort einmal nach!«

«Für diese Adresse ist da nichts drin.«

«Er ist eingeschrieben!«rief er.»Ein eingeschriebener Brief!«Der Briefträger hob den Zeigefinger.»Oh, ein Einschreiben, sagen Sie. Ja. Da habe ich eines für diesen Block. Der Empfänger ist gewöhnlich nie zu Hause, um dafür zu quittieren. Lassen Sie mich nachsehen. «Er durchstöberte ein Seitenfach seiner Ledertasche.»Hier ist es. Nicht zu glauben. Es ist tatsächlich für Sie. Wenn Sie hier bitte unterschreiben wollen.«

Ben nahm zwei und drei Stufen auf einmal, um nur schnell wieder in die Wohnung zu gelangen. Als er schließlich drinnen war, lehnte er sich schwer atmend gegen die Tür und starrte auf den Umschlag. Eine plötzliche Erregung durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz, und in einer Mischung aus Freude, Besorgnis und Überschwang begann er zu zittern.

Während er auf Weatherbys vertraute Handschrift hinabsah, flüsterte Ben:»David. Oh. David.«

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