Kapitel Fünf

Die erste Unterrichtsstunde ging ziemlich schnell vorbei, da sie völlig mit Übungen in alten Schriften ausgefüllt war. Ben fand stets Vergnügen an den Herausforderungen von Hieroglyphik und Keilschrift, und die Sprachen der Archäologie waren sein Lieblingsfach. Das Seminar am Nachmittag verlief indessen nicht so gut. Ben hatte keine Gelegenheit gehabt, sein Einschreiben auf der Post abzuholen, weil er zwischen den beiden Unterrichtsstunden noch andere Aufgaben auf dem Campus zu verrichten hatte. Außerdem befürchtete er, zu spät zu kommen oder wegen seiner jüngsten Versäumnisse den Eindruck zu erwecken, er nähme seine Pflichten als Dozent auf die leichte Schulter. Da Alt- und Neuhebräisch ein zweistündiges Unterrichtsfach war, bei dem häufig über die Zeit hinaus diskutiert wurde, war Ben besonders darauf bedacht, den Saal pünktlich zu verlassen. Das heutige Thema lautete» Die Sprache der Aschkenasim«, und wie der Zufall es wollte, schienen sich die Kursteilnehmer sehr dafür zu interessieren und beteiligten sich eifrig an der Diskussion. Bens Unruhe verstärkte sich noch durch die Anwesenheit von Judy Golden, die ihn, obwohl sie selten zu ihm aufblickte und kaum sprach, ganz aus dem Konzept brachte.

Sie war meistens über einen Schreibblock gebeugt und schrieb Stichpunkte mit. Seit ihrer Unterhaltung am Abend zuvor, bei der sie David Ben Jonas Geheimnis für kurze Zeit geteilt hatten, war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er konnte den Gedanken an sie nicht abschütteln und fand keine Erklärung dafür.»Dr. Messer, meinen Sie, daß die

Wiederbelebung des Hebräischen bei der Verdrängung des Jiddischen eine Rolle gespielt haben könnte?«

Er schaute den Studenten an, der die Frage gestellt hatte. Bevor Ben jedoch antworten konnte, entgegnete schon ein anderer Student:»Du gehst einfach von der Annahme aus, daß die jiddische Sprache zurückgedrängt wird. Diese Auffassung teile ich ganz und gar nicht.«

Die Worte verschwammen, während Ben wieder seinen Gedanken nachhing. Ja, Judy Goldens Gegenwart berührte ihn aus irgendeinem Grund. Sie hatte Davids Bericht gelesen, sie war in das Geheimnis der magdalenischen Schriftrollen eingeweiht. Sie wußte ebensoviel über David wie Ben, und hierin lag möglicherweise das Problem: Judy war nun keine Außenstehende mehr. Sie hatte seine eigenen Erfahrungen mit den Schriftrollen geteilt. Die Gedanken daran stürmten wieder auf ihn ein: das schreckliche Verbrechen, das David begangen hatte, das schmerzliche Bedürfnis, zu beichten, das im ersten Psalm enthaltene Lebensprinzip seines Vaters, der Fluch Mose und der schreckliche Umstand, daß Davids Sohn die Rollen niemals gefunden hatte.

Nachdem Judy Golden sich am Abend zuvor verabschiedet hatte, war Ben zu Angie gefahren. Sie hatten etwas Exotisches gegessen, sich einen Film im Kabelfernsehen angeschaut, sich zweimal geliebt und am Morgen den Wecker überhört. Und während der ganzen Nacht war Ben imstande gewesen, nicht an die Rollen zu denken. Er war so mit Angie beschäftigt gewesen, daß er David Ben Jona für einige Zeit vergessen hatte und schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken war.

Doch jetzt, da er Judy Golden über ihre Arbeit gebeugt dasitzen sah und wußte, daß ein weiterer Brief von Weatherby im Postamt auf ihn wartete, konnte Ben es nicht verhindern, daß sich wieder Bilder von Magdala bei ihm einschlichen.

Er schaute auf die Uhr. Es war vier, und alles deutete darauf hin, daß sich der Unterricht noch eine ganze Weile hinziehen würde. Geduldig räumte er seinen Studenten noch fünfzehn Minuten ein, in denen er Fragen beantwortete, Vergleiche zwischen Hebräisch und Jiddisch an die Tafel schrieb und versuchte, irgendwie zu einem Abschluß zu gelangen.

«Ich denke, wir haben das Thema erschöpfend behandelt«, meinte er schließlich, wobei er zwei weiteren Wortmeldungen einfach keine Beachtung mehr schenkte. Es war Viertel nach vier. Er würde mindestens zwanzig Minuten brauchen, um den Campus zu verlassen und zur Post zu gelangen — eine halbe Stunde, wenn auf den Straßen starker Verkehr herrschte. Der zeitliche Spielraum war zu knapp, als daß Ben sich noch länger aufhalten konnte.»Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können wir sie am Freitag aufgreifen.«

Er beobachtete Judy Golden, die über ihrem Schreibblock gebeugt immer noch weiterschrieb. Eine Sekunde lang fragte er sich, was sie da so stark beschäftigte und ob es ihr wohl schwergefallen war, nicht mehr an David Ben Jona zu denken. Doch im nächsten Augenblick wies er diese Gedanken von sich. Tags zuvor hatte er ihr versprochen, sie über die Schriftrollen auf dem laufenden zu halten und es ihr mitzuteilen, wenn weitere Manuskripte einträfen. Er beschloß nun, sein Versprechen nicht einzulösen.

Ben raffte Pfeife und Aktentasche zusammen und verließ hastig den Seminarraum. Er war noch nicht weit gekommen, da wurde er auf dem Flur von Stan Freeman, einem langjährigen Freund und Professor für Altertumswissenschaft, aufgehalten. Ihre Fachgebiete waren miteinander verwandt, sie waren im gleichen Alter und hatten andere gemeinsame Interessen. Die wenigen Male, die Ben in die Berge zum Fischen gefahren war, war er mit Stan gefahren.»Hallo!«rief sein Freund begeistert.»Hab dich lange nicht gesehen! Was treibst du denn die ganze Zeit?«

«Wie gewöhnlich nichts Gutes, Stan.«

«Ich hab dich nicht gerade oft gesehen in letzter Zeit. Hält Angie dich auf Trab?«

«Nun ja, ich habe außerdem einen ägyptischen Kodex zu übersetzen.«

«Im Ernst! Den würde ich mir gerne mal ansehen. «Stan wartete darauf, daß Ben etwas entgegnete. Doch als dieser nichts erwiderte, fügte er mit einem kurzen Lachen hinzu:»Wie ich sehe, wirst du langsam zum Verfechter eines unkonventionellen Lebensstils!«

«Was?«

Stan deutete nach unten.»Die Sandalen. Weißt du, in all den Jahren, die wir beide befreundet sind, habe ich dich niemals in Sandalen gesehen. Du hast immer gesagt, Sandalen hätten etwas von gewolltem Künstlergehabe an sich. Wenn ich mich recht erinnere, hattest du in der Tat eine wahre Abneigung dagegen. Diese hier gefallen mir. Wo hast du sie her?«

Ben sah auf seine Füße. Die Sandalen hatte er heute morgen gekauft. Sie bestanden aus einer groben Ledersohle und Riemen und wirkten etwas derb und urtümlich.»Ich habe sie in Westwood gekauft. Ich wollte mal was anderes. «Etwas gereizt dachte Ben: Was ist denn eigentlich dabei, wenn ich jetzt plötzlich Sandalen trage? In diesem Augenblick kam Judy Golden vorüber, mit einer ganzen Ladung Bücher unter dem Arm, und verschwand um die Ecke.»Hör zu Stan. Ich bin in großer Eile. «Ben versuchte, sich von ihm loszumachen.

«Oh, natürlich. Sag, wann ist der große Tag?«

«Was für ein großer Tag?«

«Die Hochzeit! Du und Angie. Erinnerst du dich?«

«Oh. In den Semesterferien. Ich werd’s dich schon rechtzeitig wissen lassen. Wenn du dich geschickt anstellst, kannst du mein Trauzeuge werden. «Ben hatte in der letzten Sekunde beschlossen, Judy Golden einzuholen und ihr den Kodex zu geben, an den er diesmal gedacht hatte. Er wollte ihn ihr jetzt, hier auf dem Campus geben und ihr auf diese Weise jede mögliche Entschuldigung für einen späteren Besuch in seiner Wohnung nehmen.»Ich muß wirklich gehen, Stan. Ich ruf dich an. Okay?«

«Klar doch. Bis bald.«

Jetzt, am späten Nachmittag, war der Andrang auf den Fluren ziemlich groß, und so mußte Ben sich durch die Menschenmenge zum Ausgang kämpfen. Als er nach draußen in die untergehende Sonne trat, sah er Judy mit schnellem Schritt in Richtung Bibliothek eilen. Er schaute auf die Uhr. Vier Uhr fünfundzwanzig. Er hatte noch etwas Zeit.

«Judy!«rief er, während er seinen Schritt beschleunigte, um sie einzuholen.

Sie schien ihn nicht zu hören. Für eine Person ihrer Größe lief sie bemerkenswert schnell, wobei ihr schwarzes Haar hinter ihr im Wind wehte.»Judy!«

Endlich schaute sie über ihre Schulter. Sie blieb stehen und drehte sich nach ihm um.

«Ich vergaß, Ihnen heute im Unterricht dies hier zu geben«, sagte er, während er ungeschickt an dem Verschluß seiner Aktentasche herumnestelte.»Sie haben es gestern abend liegengelassen. «Sie schaute ihm ins Gesicht.

«Hier. «Er zog den großen braunen Umschlag hervor und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn entgegen, ohne ihren Blick abzuwenden.»Oh, der Kodex. Vielen Dank. «Ben bedachte sie mit einem halbherzigen Lächeln. Ich werd ihr nichts sagen, dachte er bei sich. Wir lassen es einfach bei gestern abend bewenden und bringen nie wieder die Sprache auf die Schriftrollen.»Ich hätte ihn gerne in etwa einer Woche zurück, wenn Sie nichts dagegen haben. Die letzten paar Zeilen sind verdammt schwer zu übersetzen, und ich habe mich auf einen bestimmten Abgabetermin festgelegt.«

«Oh, natürlich. «Sie schien unschlüssig.»Dr. Messer, darf ich etwas sagen?«

Er steckte sich seine kalte Pfeife in den Mund.»Nur zu.«

«Ich teile nicht Ihre Ansicht, daß Jiddisch im Aussterben begriffen ist. Vielleicht wird es heute weniger gebraucht, und vielleicht hat sich sein Stellenwert im Leben der Juden geändert, aber ich denke nicht, daß es ausstirbt.«

Ben blickte das Mädchen erstaunt an und lächelte.»Diese Meinung kann man natürlich mit guten Argumenten vertreten. Wahrscheinlich könnte uns nur eine weltweite Studie die richtige Antwort darauf geben, und bis es soweit ist, können wir nur Vermutungen anstellen. Ihre Einschätzung ist ebenso gut wie meine.«

Sie nickte.»Ich bin mit Jiddisch aufgewachsen. Es war die einzige Sprache, die meine Mutter wirklich beherrschte. Als ich klein war, sprachen wir zu Hause ausschließlich Jiddisch. Vielleicht hat es für mich deshalb so hohen Wert. Nun ja, jedenfalls vielen Dank, daß Sie an den Kodex gedacht haben.«

«Gewiß. «Ben beobachtete sie, wie sie ihm zuwinkte und sich zum Gehen wandte. Dann, einer plötzlichen Regung folgend, sagte er:»Ach übrigens.«

«Ja?«

«Ich habe anscheinend eine neue Rolle aus Magdala erhalten.«

Der Wein in seinem Glas war warm und bitter geworden. Bachs Toccata und Fuge in d-moll kam aus dem Plattenspieler wie eine Folge mißklingender Töne. Der Qualm aus seiner Pfeife hing in dicken, ungesunden Rauchwolken in der Luft. Ben stand ungeduldig auf, stellte den Plattenspieler ab, entleerte seine Pfeife in den Aschenbecher und kippte den Wein in die Spüle. Dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich wieder.

Der Nachgeschmack von einem Pastrami-Sandwich lag ihm noch auf der Zunge und erinnerte ihn daran, daß er sein Abendessen weniger genossen als in sich hineingestopft hatte, wie eine lästige Pflicht, die er sich vom Hals schaffen sollte. Genauso hatte er es auch empfunden. Ben war hungrig gewesen, hatte sich aber auch nicht weiter mit Essen abgeben wollen. Und jetzt, mit einem Klumpen im Magen und einem schlechten Geschmack im Mund, reute es ihn, daß er so hastig gewesen war.

Wieder blickte er im Schein der Schreibtischlampe auf die ihm schon vertraute fehlerhafte Maschinenschrift Dr. Weatherbys. Der Begleitbrief bestand aus einem kurzen Kommentar zu Rolle Nummer vier, die er in schlechtem Zustand gefunden hatte und die man unter Infrarotlicht hatte fotografieren müssen, um die Schrift sichtbar zu machen. Er erwähnte auch, wie schon zuvor am Telefon, Rolle Nummer drei, die wegen eines Sprunges im Tonkrug unbrauchbar geworden war. Das war alles.

Ben schüttelte traurig den Kopf, als er die beiden vor ihm liegenden Fotos betrachtete. Diese Übersetzung würde wirklich eine Herausforderung darstellen. Die Ecken sahen aus, als seien wilde Hunde darüber hergefallen. Und in der Mitte erinnerte die Rolle an Schweizer Käse. Ganze Absätze waren völlig verschwunden, viele Wörter bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Ben fühlte sich persönlich betrogen, als sei ihm dies absichtlich angetan worden. Zuerst der unwiederbringliche Verlust der dritten Rolle und nun noch dies.

Wütend schlug er mit der Faust auf den Schreibtisch. Irgendwo im Halbdunkel lauerte Poppäa Sabina, die den ganzen Tag geschlafen hatte und nun zu ihren nächtlichen Runden aufbrach. Sie wußte, wann ihr Herrchen seine Ruhe brauchte, und hielt sich daher in diskreter Entfernung zu ihm. Der Lärm von dem Faustschlag scheuchte sie ins Schlafzimmer, wo sie eine einsame Nachtwache antrat.»David Ben Jona«, murmelte Ben über dem Foto,»wenn du willst, daß ich deine Worte lese, wenn du mich dazu auserwählt hast, die Beichte zu lesen, die dein Sohn nicht hatte lesen können, dann mache es mir doch nicht gar so schwer.«

Er stand auf und ging in die Küche, um sich ein frisches Glas Wein zu holen, kam dann zurück zum Schreibtisch, zündete seine Pfeife wieder an und machte sich an die mühsame Übersetzung von Rolle Nummer vier.

Und so kam es, daß ich, David Ben Jona, im Alter von vierzehn Jahren mein Studium bei Rabbi Joseph Ben Simon vollendete. Jene drei Jahre waren eine gute Zeit gewesen, und ich werde stets in liebevollem Andenken an diese Tage der Jugend und Unschuld zurückblicken. Saul blieb mein innigster Freund, und so kam es, daß er und ich zusammen bei Rabbi Eleasar Ben Azariah in die Lehre gehen wollten, der damals einer der berühmtesten und erhabensten Lehrer war.

Dieser Teil war überraschend gut gegangen. Doch nach genauerer Untersuchung war er offensichtlich von beiden Fotos der leserlichste Abschnitt. Der Rest würde nicht so einfach werden. An den Rändern seiner Übersetzung machte Ben einige Anmerkungen: Rolle drei offensichtlich

Beschreibung von frühem Schulbesuch und ersten Jahren in Jerusalem. David unter der Anleitung von Rabbi Joseph, wahrscheinlich zusammen mit mehreren anderen Jungen. Gegenstand der Unterweisung kann nur vermutet werden — wahrscheinlich Aufsagen der Thora, Gedächtnistraining,

Gebete etc. Bezweifle, daß er irgendeine Deutung der Gebote besaß. Wahrscheinlich die übliche Ausbildung der Jugend aus der Mittelschicht. Freund Saul wahrscheinlich schon in Rolle drei erwähnt und Umstände ihrer Begegnung geschildert.

Ben ließ seinen Kugelschreiber sinken und rieb sich die Augen. Der Verlust der dritten Rolle war in der Tat sehr ärgerlich. Und die Lücken, die in dieser hier überall auftauchten, konnten einen ebenfalls zur Verzweiflung

bringen. Er war ungehalten und gereizt. Er stand auf und trat zum Fenster. Irgend etwas störte ihn. Sonst war er ein Mann, der sich an die Arbeit setzte und sofort damit begann, aber heute abend war daran nicht zu denken. Er konnte Davids

Worte nicht lesen, ohne unruhig und nervös zu werden. Dann kam ihm Judy Golden in den Sinn. Warum war er so vorschnell mit der Nachricht von der vierten Rolle herausgeplatzt, besonders nachdem er sich geschworen hatte, ihr nichts davon zu erzählen? Gewiß, sie hatte ihn nicht dazu gedrängt. Er war ja sogar derjenige gewesen, der ihr nachgerannt war, um sie für eine Minute zurückzuhalten. Warum hatte er ihr aber schließlich, als sie sich schon zum Gehen wandte, doch gesagt, daß er eine weitere Rolle erhalten hatte? Ben ging eine Zeitlang mit leicht hinkendem Schritt im Zimmer auf und ab. Auch etwas anderes beschäftigte ihn. Er wurde viel zu schnell ungeduldig, wenn er auf das Eintreffen künftiger Rollen wartete. Es regte ihn auf, daß es so lange dauerte, bis sie zu ihm gelangten. Und er beneidete John Weatherby darum, auf dem Schauplatz der Ereignisse zu sein und die Tonkrüge gerade so zu finden, wie David Ben Jona sie hinterlassen hatte.

Bens Überlegungen wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen, das er zuerst nicht beachten wollte. Dann nahm er aber doch ab.

«Hallo, Liebling«, ertönte Angies sanfte Stimme.»Störe ich dich bei irgend etwas?«

«Ich war gerade mitten in einer neuen Übersetzung.«

«Oh!«

«Ich habe heute die vierte Rolle von Weatherby erhalten. Es ist eine besonders schwere.«

Angie lachte kurz auf.»Ich weiß nicht, ob ich mich für dich freuen oder dich bedauern soll.«

«Warum?«

«Mich für dich freuen, daß du eine neue Rolle hast, oder aber dich bedauern, weil es eine schwierige ist. «Sie zögerte.»Ben?«

«Ja?«

«Du klingst so kühl. Ist alles in Ordnung?«

«Mir geht’s gut. Ich denke nur gerade nach.«

«Willst du herüberkommen?«

«Nicht heute abend. Ich bin mittendrin und will es zu Ende bringen.«

«Natürlich«, murmelte sie,»ich verstehe. Trotzdem, wenn du Hunger bekommst oder dich einsam fühlst. Ich bin hier.«

«Danke. «Er wollte ihr eben auf Wiedersehen sagen, doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und fragte:»Angie?«

«Ja, Liebling.«

«Willst du nicht wissen, wovon die vierte Rolle handelt?«Am anderen Ende der Leitung herrschte Stillschweigen.»Nun ja, egal«, fuhr er fort,»sie ist sowieso ziemlich langweilig, erzählt nur von David Ben Jonas Lehrzeit in Jerusalem. Gute Nacht, Angie.«

Mit dem Zeigefinger drückte er die Gabel nach unten, während er gleichzeitig horchte, um sicherzugehen, daß die Verbindung unterbrochen war. Und dann tat Benjamin Messer etwas, was er nie zuvor in seinem Leben getan hatte: Er legte den Hörer neben die Gabel.

Schriftgelehrte. Wir wußten, daß es uns Jahre harter Arbeit und viele Opfer abverlangen würde und daß nur eine Handvoll ihr Ziel je erreichten. Saul und ich wählten Rabbi Eleasar. den größten Lehrer in Judäa. (Tinte verwischt)… sein Ruhm. Wir strebten nach dem Allerhöchsten. Wir wußten, daß wir, sollten wir die Lehrzeit bei ihm durchstehen, Männer von hohem Ansehen sein würden.

Doch so viele junge Männer traten an ihn heran, und so wenige wurden auserwählt. Saul und ich waren fest entschlossen. Es würde meiner Familie zu größter Ehre gereichen, sollte es mir gelingen, ein Schüler des großen Eleasar zu werden. Ich war voller Furcht zu versagen. Ich kannte viele Knaben, die an Eleasar herangetreten und abgelehnt worden waren. Doch Saul war zuversichtlich. Saul. stolzer und fröhlicher Knabe mit lachenden Augen und. Mund. Er versicherte mir tagtäglich, daß wir die besten Schüler von Rabbi Joseph gewesen seien. Und das ermutigte mich. Wenn ich indessen hörte, wie viele Eleasar um Unterweisung angingen, wurde ich wieder ganz niedergeschlagen. Aus diesem Grund. (große Lücke im Papyrus). mit Saul. Zum Passah-Fest kamen wir. (Handschrift unleserlich). und ich lag ängstlich bis spät in die Nacht hinein wach.

Aber Saul schien sich nicht zu fürchten. Er hatte auch viele Freunde, denn er besaß die Fähigkeit, lustige Geschichten zu erzählen und die Leute zum Lachen zu bringen. Ich bewunderte Sauls geistreichen Witz und sein sorgloses Wesen, und ich wünschte mir oft, ebenso gesellig und freimütig zu sein wie er und schnell Freunde zu gewinnen. Wir gingen oft zusammen. (Papyrus zerrissen)… und beteten gemeinsam im Tempel. Saul und ich waren uns näher, als meine Brüder und ich es gewesen waren, und wir halfen uns gegenseitig, wo wir konnten. In Jerusalem war er mein einziger Freund, und ich liebte ihn innig. Hätte sich die Gelegenheit je geboten, ich hätte mit Freuden mein Leben für Saul hingegeben.

Als er am Ende des ersten Fotos angelangt war, nahm Benjamin seine Brille ab, legte sie sachte auf die Schreibtischplatte und rieb sich die Augen. Dann starrte er auf die aramäische Handschrift, die unter dem Infrarotlicht nur undeutlich hervorgekommen war, und fühlte sich plötzlich um Jahre zurückversetzt, an eine Schule in New York City, die er besucht hatte und wo er eng mit einem Jungen namens Salomon Liebowitz befreundet gewesen war.

Die Jeschiwa, die Talmudschule, hatte sich im Stadtteil Brooklyn befunden. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als er sich, beladen mit Büchern in Hebräisch und Jiddisch, mühsam einen Weg durch den matschigen Schnee bahnte. Er und Salomon machten immer einen weiten Bogen, um zur Jeschiwa zu gelangen, denn der direkte Weg führte durch ein katholisches Nachbarviertel, wo ihnen immer einige rüpelhafte Jugendliche auflauerten, um sie zu schikanieren. Einmal hatten die grobschlächtigen Söhne polnischer Einwanderer Bens Samtkäppchen geschnappt, es auf den Boden geworfen und waren darauf herumgetrampelt. Und dann hatten sie über seine Tränen gelacht.

Aber es waren keine Tränen der Trauer oder der Wut gewesen, sondern Tränen der Ohnmacht. Woher hätten die Gojim, die Nichtjuden, auch wissen sollen, wie sehr Ben sich wünschte, das Haus ohne sein Käppchen verlassen zu können, und wie sehr er sich danach sehnte, in die öffentliche Schule zu gehen, wo er wie andere Kinder hätte sein können.

Und einmal hatte Salomon, der so viel größer und stämmiger war als Ben, Ben verteidigt und den halbstarken Gojim die Nasen blutig geschlagen. Im Wegrennen hatten die Polen ihnen über die Schulter nachgerufen:»Wir werden’s euch schon zeigen, ihr Jesusmörder! Wir werden’s euch zeigen!«

Und so hatten Ben und Salomon von da an den längeren Weg zur Jeschiwa genommen.

Ben fühlte einen Kloß im Hals. Er rückte ein wenig vom Schreibtisch weg und schaute auf seine Hände. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr an Salomon Liebowitz gedacht. Ihre Verbindung war abgebrochen, als Ben von New York nach Kalifornien gezogen war und Salomon den Entschluß gefaßt hatte, Rabbiner zu werden. Sieben Jahre lang waren sie die besten Freunde gewesen, und Ben hatte Salomon wie einen Bruder geliebt und die meiste Zeit mit ihm verbracht.

Doch dann war der Augenblick der Trennung gekommen — der Augenblick, da es galt, als Erwachsene Entscheidungen zu treffen und den Weg von reifen Männern zu gehen. Ihre Kindheit war zu Ende. Salomon Liebowitz und Benjamin Messer konnten ihre Abenteuer in den Straßen von Brooklyn nicht länger wie zwei Glücksritter fortsetzen. Jetzt war die Zeit gekommen, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen.

Ben hatte sich für die Wissenschaft und Salomon für Gott entschieden.

Ein schüchternes Pochen drang von der Tür an sein Ohr, so leise, daß Ben es zuerst nicht hörte. Dann blickte er in die Richtung, aus der das Geräusch kam, doch Poppäa Sabina, die manchmal an der Tür kratzte, war nirgends zu sehen. Als das Pochen etwas lauter wurde, erkannte Ben, daß jemand an der Tür klopfte.

Er warf einen Blick auf das abgehängte Telefon und fluchte leise, weil er Angie für den Störenfried hielt.

Seufzend fügte er sich in sein Schicksal und öffnete die Tür. Zu seiner Überraschung sah er Judy Golden davor stehen. Eine Tasche hing ihr über die Schulter. In der Hand hielt sie einen großen braunen Umschlag.

«Hallo, Dr. Messer«, grüßte sie lächelnd,»ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

«Nun, um ehrlich zu sein, das tun Sie. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Wortlos hielt sie ihm den Umschlag entgegen.»So rasch?«wunderte er sich und runzelte die Stirn.»Sie können ihn doch nicht länger als zwei Stunden gehabt haben.«

«Vier Stunden, Dr. Messer. Es ist nach acht.«

«Ach wirklich?«

«Und ich. «Sie schien seltsam zurückhaltend.»Ich habe hin und her überlegt, ob ich herkommen oder bis zur Freitagsstunde warten sollte. Aber ich möchte den Kodex so gerne lesen, und Sie hatten erwähnt, daß Sie ihn zu einem bestimmten Termin zurückgeben müßten. Deshalb bin ich hierher gekommen.«

«Ich verstehe nicht.«

Sie hielt ihm den Umschlag hin.»Er ist leer.«

«Was!«Ben riß ihn auf und traute seinen Augen nicht.»Ach, um Gottes willen! Kommen Sie herein, kommen Sie!«

Judy lächelte und verlor allmählich ihre Anspannung.»Ich will Sie wirklich nicht belästigen, aber ich.«

«Ich weiß«, schnitt er ihr das Wort ab. Ben lief schnurstracks ins Arbeitszimmer und warf einen prüfenden Blick auf das beständig anwachsende Durcheinander. Texte alter aramäischer Schriftrollen, hebräische Apokryphen und Bücher über semitische Handschriften lagen überall verstreut herum inmitten von Pastrami-Krümeln, einer ausgetrockneten Gurkenschale, einer schalen Pfeife und drei halbleeren Gläsern Wein. Typische Junggesellenhöhle, dachte er, während er versuchte, sich zu erinnern, wo er den Kodex zuletzt gesehen hatte. Dieses Mädchen muß denken, daß ich ein richtiger Schlamper bin.»Bin gleich wieder bei Ihnen«, murmelte er, während er seine Bücher hochhob. Einige waren aufgeschlagen und zeigten Fotos von vergilbten Papyrusstücken, Verzeichnisse und Tabellen mit alphabetischen Vergleichen oder lange Texte. Alles Hilfsmittel, mit denen er David Ben Jonas Schriftrollen die feinsten Wortbedeutungen entlocken konnte.

Während er seine Stapel durchsuchte, betrachtete Judy die beiden Fotografien, die auf dem Schreibtisch neben Bens Schmierblock ausgebreitet waren. Das müssen die neuen Rollen sein, dachte sie aufgeregt und trat unauffällig näher heran.

Doch urplötzlich drehte sich Ben um, riß verärgert die Arme hoch und meinte:»Ich werde die ganze Nacht brauchen, um mich in diesem Durcheinander zurechtzufinden. «Er hielt inne, als er sie bei den Fotos sah.

«Ist schon in Ordnung«, erwiderte sie rasch.»Ich kann warten. Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.«

Der Raum war völlig dunkel bis auf den kleinen Lichtkreis seiner Schreibtischlampe. Als Ben im Halbdunkel Judy Goldens Gesicht betrachtete, wünschte er sich, es möge ein wenig heller sein, damit er ihren Gesichtsausdruck erkennen könnte.

Plötzlich begriff er, warum sie wirklich gekommen war, und er sagte:»Sie hätten wirklich bis Freitag warten können. Oder Sie hätten mit mir nach meinem Zehn-Uhr-Kurs morgen früh sprechen können. Oder aber eine Nachricht in meinem Büro hinterlassen können.«

«Ja«, gab sie kleinlaut zu,»ich weiß.«

Ben schaute auf die Fotos von Rolle Nummer vier.»Diese hier ist nicht ebenso gut erhalten wie die ersten zwei«, stellte er sachlich fest.

«Weatherby schreibt, das Dach des alten Hauses müsse wohl vor Jahrhunderten eingestürzt sein und dabei einige der Rollen beschädigt haben. Wenn erst einmal die Außenluft damit in Berührung kommt, verwandelt sich Papyrus, wie Sie wissen, in eine klebrige, teerige Substanz, mit der sich nichts mehr anfangen läßt. Rolle Nummer drei ging auf diese Weise gänzlich verloren. «Judy zögerte und schien ihre Worte genau abzuwägen.»Dr. Messer?«

«Ja?«

«Was steht darin?«

Er schaute dem Mädchen wieder ins Gesicht; die blasse Haut, die großen, dunklen Augen und das lange, schwarze Haar. Sie war nicht so schön wie Angie, doch ihr Gesicht hatte etwas, was Angie fehlte, eine Eigenschaft, die Ben gefiel. Doch wußte er nicht, was genau es war.

«Was darin steht?«wiederholte er. Dann dachte er an Salomon Liebowitz und die Zeit, die sie zusammen in Brooklyn verlebt hatten. Wie lange her, wie traumhaft ihm das alles nun erschien. Als hätte es sich niemals wirklich zugetragen.

«Kommen Sie. «Ben nahm das Heft mit der Übersetzung und reichte es Judy. Sie überflog die Übersetzung, die Anmerkungen am Rand und die dazwischenliegenden Leerräume. Dann las sie es nochmals genauer und ließ schließlich das Heft sinken und schaute zu Ben auf.

«Danke«, murmelte sie.

«Tut mir leid, daß es nicht ordentlicher geschrieben ist.«

«Es ist gut. Einfach gut.«

«Meine Handschrift. «Ben schüttelte den Kopf. Judy starrte wie gebannt auf das Foto.»David Ben Jona hat wirklich gelebt«, sagte sie.»Es könnte erst gestern gewesen sein, denn die dazwischenliegende Zeit bedeutet nichts. Wir könnten ihn beinahe gekannt haben.«

Ben lachte kurz auf.»Mir kommt es allmählich auch so vor, als würde ich ihn schon persönlich kennen.«

«Hoffentlich kommen noch weitere Rollen.«

«Es kommen noch weitere. Vier weitere, um es genau zu sagen. «Judy riß den Kopf hoch.»Vier weitere! Dr. Messer!«

«Ja, ich weiß. «Er wandte sich unvermittelt um und verließ das Arbeitszimmer, wobei er im Gehen Lichter anmachte.»Möchten Sie etwas Wein?«rief er ihr über die Schulter zu.

«Nur wenn es billiger Wein ist«, gab sie zurück, während sie ihm ins Wohnzimmer folgte.

«Oh, dessen können Sie sicher sein. Nehmen Sie doch Platz. Ich bin gleich wieder da.«

Ben machte sich in der Küche zu schaffen, wo es in letzter Zeit zunehmend unordentlicher und schmutziger geworden war. Während er für gewöhnlich ein ordentlicher Mensch war, der stets hinter sich aufräumte, hatte Ben die Küche in diesen letzten paar Tagen völlig verkommen lassen. Hier sah es fast so schlimm aus wie im Arbeitszimmer. Nachdem er zwei saubere Gläser aufgespürt hatte, schenkte er den Wein ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Judy Golden saß auf der Couch und streichelte Poppäa Sabina.

«Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Katze haben«, sagte sie und nahm den Wein entgegen.»Danke.«

«Gewöhnlich sieht sie auch kein Besucher. Poppäa ist menschenscheu und kommt daher niemals hervor, um Freundschaft zu schließen. Sogar vor meiner Verlobten versteckt sie sich. Das ist auch ganz gut so, dann Angie ist allergisch auf Katzen.«

«Das ist wirklich zu schade. Diese hier ist einfach niedlich. «Ben beobachtete verwundert, wie sich seine sonst so launische und hochnäsige Katze auf Judys Schoß zusammenrollte und zufrieden die Augen schloß.

«Wußten Sie, daß Ihr Telefonhörer neben der Gabel liegt?«

«Ja, das habe ich absichtlich getan. Ich wollte nicht gestört werden.«

«Na, großartig. Wenn es jetzt nur noch eine Möglichkeit gäbe, Ihre Tür einfach neben die Gabel zu legen.«

Er lachte leise.»Keine Sorge. Ich habe das noch nie zuvor gemacht. Ich glaube eigentlich nicht, daß das richtig ist. Jemand könnte versuchen, mich in einem Notfall zu erreichen.«

«Da stimme ich Ihnen zu. Danke für den Wein.«

«Ist er billig genug für Sie?«

«Wenn er Sie mehr als neunundachtzig Cent gekostet hat, ist er zu teuer für mich.«

Ben lachte wieder. Er fühlte sich sonderbarer Weise ganz entspannt in ihrer Gegenwart. Seine Unruhe während des Nachmittagsunterrichts — die Art und Weise, wie sie ihn aus der Fassung gebracht hatte — war nun vergessen.

«Warum haben Sie ihr den Namen Poppäa gegeben?«erkundigte sie sich, während sie die Katze kraulte.

Ben zuckte die Schultern. Er hatte nie ernstlich darüber nachgedacht. Der Name war ihm ganz spontan eingefallen, als er sie vor zwei Jahren als junges Kätzchen kaufte.»Ist ihr Name Poppäa Sabina?«fragte Judy weiter.»In der Tat, ja.«

«Die Gattin des Kaisers Nero. Lebte um fünfundsechzig nach unserer Zeitrechnung, glaube ich. Interessanter Name für eine Katze.«

«Sie ist ein verführerisches, eigensinniges, eingebildetes und verwöhntes kleines Aas.«

«Und Sie lieben sie.«

«Und ich liebe sie.«

Sie nippten beide eine Zeitlang an ihrem Wein, ohne ein Wort zu wechseln. Judy ließ ihren Blick in der Wohnung umherschweifen und bewunderte die geschmackvolle und teure Einrichtung. Sie glaubte, die persönliche Note Benjamin Messers darin zu erkennen, die seiner lässigen, südkalifornischen Art entsprach. Dann schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, eine plötzliche, brennende Neugierde packte sie. Sie rang einen Augenblick mit sich selbst, ob sie die Frage stellen sollte.

Sie musterte den Mann an ihrer Seite, sein gefälliges, attraktives Gesicht, sein ungekämmtes, blondes Haar, seinen Körper, der sie an den eines Schwimmers erinnerte. Sie war über sich selbst überrascht, als sie mit gedämpfter Stimme fragte:»Sind Sie praktizierender Jude?«

Ihre Offenheit verblüffte ihn.»Wie bitte?«

«Entschuldigen Sie. Es geht mich ja nichts an, aber ich bin immer neugierig, die religiösen Ansichten von Leuten zu erfahren. Das war unhöflich von mir.«

Ben wandte seinen Blick von ihr ab und fühlte, wie er in Verteidigungsstellung ging.»Es ist kein Geheimnis. Ich praktiziere die jüdische Religion nicht mehr. Schon seit vielen Jahren nicht mehr.«

«Warum?«

Er blickte sie erstaunt an und fragte sich zum wiederholten Male, welch sonderbare Eingebung ihn dazu veranlaßt hatte, ihr von der vierten Rolle zu erzählen. Und warum er ihr Wein angeboten hatte und warum er nun bereitwillig mit ihr hier saß, anstatt ihr die Tür zu weisen.

«Die jüdische Religion ist nicht die Antwort für mich, das ist alles. «Sie schauten sich einen Moment lang in die Augen — gefangen in einem Blick, der in diesem Augenblick dazu geschaffen schien, die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Dann wandte sich Ben ab, während er langsam sein Weinglas in den Händen drehte. Er fing an, sich äußerst unbehaglich zu fühlen.

«Also dann«, Judy hob die Katze aus ihrem Schoß und stand auf,»Sie können es wohl kaum mehr abwarten, an das nächste Foto zu kommen.«

Ben stand ebenfalls auf.»Ich werde versuchen, an den Kodex zu denken.«

«Das wäre prima. «Sie warf ihr Haar nach hinten über die Schultern, so daß es ihr über Rücken und Taille fiel, und nahm ihre Schultertasche an sich.

Gemeinsam gingen sie zur Tür, wo Ben einen Moment verweilte, bevor er sie öffnete.»Ich lasse Sie wissen, was David zu sagen hat«, versprach er.

Sie warf ihm einen kurzen, etwas seltsamen Blick zu und meinte dann:»Danke für den Wein.«

«Gute Nacht.«

An seinem Schreibtisch las er nochmals das erste Foto. Danach machte er sich an die Übersetzung des zweiten.

Es war nicht leicht für uns, bei Rabbi Eleasar Gehör zu finden. Viele Tage lang warteten Saul und ich im Hof des Tempels, nur um. (Riß im Papyrus). Wir saßen zusammen mit anderen Jugendlichen im Schneidersitz in der glühenden Sonne, bis uns alles weh tat. Wir waren oft hungrig und erschöpft, wagten es aber nicht, uns von der Stelle zu rühren. Einer nach dem anderen gab auf, und mit der Zeit wurde unsere Gruppe immer kleiner. (Ecke an dieser Stelle herausgebrochen). Saul und ich. Nachdem wir eine Woche ausgeharrt hatten, um bei Rabbi Eleasar vorzusprechen, wurden wir in seinen Kreis in die überdachte Vorhalle gerufen. Meine Kehle war trocken und meine Knie weich. Dennoch zeigte ich meine Furcht vor dem großen Mann nicht. Demütig fiel ich zu seinen Füßen auf die Knie. (unleserlicher Satz).

während Saul stolz aufrecht stehenblieb. Die Augen Eleasars waren wie die eines Adlers. Sie durchbohrten mich, als wollten sie sehen, was auf der anderen Seite meines Körpers war. Ich hatte Angst, und dennoch hielt ich unabänderlich an meinem Entschluß fest. Ich vermochte nicht zu lächeln; Saul hingegen zeigte dabei keine Scheu. Rabbi Eleasar fragte Saul:»Warum möchtest du ein Schriftgelehrter werden?«Und Saul antwortete:»Und alle Leute versammelten sich geschlossen auf der Straße vor der Schleuse, und sie sprachen zu Ezra, dem Schriftgelehrten, er möge das Gesetzbuch Mose bringen, das der Herr dem Volk Israel zur Vorschrift gemacht hatte. Und am ersten Tag des siebten Monats brachte der Priester Ezra das Gesetz vor die Gemeinde aus Männern und Frauen und allen, die hören und verstehen konnten. «Saul sagte:»Rabbi Eleasar, ich möchte gerne werden wie Ezra und Nehemia vor mir. «Dann wandte sich Rabbi Eleasar an mich und fragte:»Warum willst du ein Schriftgelehrter werden?«Und ich konnte zuerst nichts sagen, denn Sauls Antwort war so vollkommen gewesen, daß ich mich ihm nicht ebenbürtig fühlte. Dann schluckte ich den Kloß in meinem Hals hinunter und erwiderte:»Ich möchte wissen, Meister, woher Kains Frau kam, wenn sie nicht von Gott geschaffen wurde.«

Rabbi Eleasar sah mich überrascht an und wandte sich zu seinen Jüngern. Er sprach zu ihnen:»Was für ein Betragen legt dieser Neuling an den Tag, daß er eine Frage mit einer Frage beantwortet?«Und sie lachten alle.

Verärgert und gedemütigt, sagte ich zu Eleasar:»Hätte ich keine Fragen, Meister, so würde ich einen armen Schriftgelehrten abgeben. Und wenn ich schon alle Antworten wüßte, welches Bedürfnis hätte ich dann, zu Euch zu kommen?«

Zum zweiten Mal war Eleasar überrascht. So sagte er zu mir:»Was fürchtest du mehr, das Gesetz oder den Tempel Gottes?«

Und ich antwortete:»Das Studium der Thora ist eine größere Tat als die Errichtung des Tempels.«

Rabbi Eleasar entließ Saul und mich in die Vorhalle, und ich kämpfte gegen die Tränen der Bitternis und der Enttäuschung an. Ich sagte zu Saul:»Er gab mir nicht die kleinste Gelegenheit, um zu beweisen, daß ich seines Unterrichts würdig bin. Nun muß ich zu einem unbedeutenderen Rabbi gehen und werde nur die Hälfte lernen.«

In dieser Nacht weinte ich allein in meinem Zimmer: die ersten Tränen, die ich vergoß, seitdem ich vor drei Jahren aus Magdala gegangen war. Ich hatte nach dem höchsten Gipfel gestrebt und war gescheitert.

(Der Papyrus war an dieser Stelle von Rand zu Rand mittendurch gerissen und machte damit vier Zeilen unverwertbar. Die letzte Zeile lautete:) Am nächsten Tag erhielten Saul und ich den Bescheid, daß wir unsere Lehre bei Rabbi Eleasar antreten könnten.

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