Kapitel Dreizehn

Ben las Weatherbys Brief zum zehnten Mal, doch nichts änderte sich. Die Nachricht war und blieb niederschmetternd. Wie bei Rolle Nummer drei war der Tonkrug Nummer zehn schwer beschädigt worden. Zweitausend Jahre der Fäulnis und des Zerfalls hatten ihr Zerstörungswerk vollbracht. Die letzte Rolle war unwiederbringlich verloren.

Dies war der schlimmste Tag in Bens Leben. Am Vorabend, nachdem Judy ihm die Nachricht eröffnet hatte, war Ben in eine solche Wut geraten, daß er Gegenstände an die Wand geschmettert und Judy so in Angst versetzt hatte, daß sie im Laufschritt aus der Wohnung floh. Dann war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken, der fast einem Koma gleichkam. Am nächsten Morgen war er mit dem Gefühl erwacht, als hätte er eine Zeitlang im Reich der Toten geweilt. So war Davids letzte Rolle auf ewig verloren, und es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, was darauf gestanden hatte. Dies bedeutete, daß sich nun alles um Rolle neun drehte. Ben betete verzweifelt darum, daß es sich um einen langen und unbeschädigten Papyrus handeln möge und daß David genug darin sagen möge, damit er sich den Ausgang der Geschichte zusammenreimen konnte. Andernfalls.

Ben starrte auf den Geist, der vor ihm stand, auf den Geist David Ben Jonas.

Andernfalls. würde er vielleicht nie von ihm lassen. Möglicherweise würde er nicht verstehen, daß die letzte Rolle nie eintreffen sollte, und Ben deshalb auf ewig heimsuchen.

Judy klopfte schüchtern an der Tür, und als Ben öffnete, schloß er sie sofort in die Arme und küßte sie sanft auf die

Stirn.»Es tut mir leid wegen letzter Nacht«, murmelte er.»Es tut mir so unbeschreiblich leid. Gegenstände nach dir zu werfen, wie ein Wilder herumzutoben. Ich weiß wirklich nicht, was.«

«Mach dir nichts daraus, Ben«, erwiderte sie, ihr Gesicht an seiner Brust vergraben. Auch für sie war es eine schlimme Nacht gewesen. Und die Entscheidung, zurückzukehren, hatte ihr großen Mut abverlangt. Doch die Liebe hatte ihr geholfen, ihre Angst zu überwinden.»Ich hätte dich bestimmt nicht verletzt«, beteuerte er.»Warte. «Sie legte ihre Fingerspitzen auf seine Lippen.»Sprich nicht darüber. Wir wollen es nicht mehr erwähnen, in Ordnung?«Er nickte.

«Ich bin gekommen, um mit dir auf die nächste Rolle zu warten. «Sie bereitete schnell ein Mittagessen, das sie wortlos verzehrten. Dann versuchten sie gemeinsam, im Arbeitszimmer Ordnung zu schaffen. Eine Menge Blätter mit übersetztem Text lagen überall verstreut. Sie mußten aufgesammelt, in die richtige Reihenfolge gebracht und für Weatherby getippt werden. Die Möglichkeit, daß er von den anderen beiden Handschriftenkundlern laufend über den neuesten Stand der Übersetzung unterrichtet werden könnte, war ihnen bisher gar nicht eingefallen. Es war ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, daß sich ein großes Archäologenteam in Jerusalem mit den Papyrus-Blättern beschäftigte. Für Ben und Judy war dies zu einer persönlichen Angelegenheit geworden, die nur ihn selbst und David betraf. Ben bestand darauf, daß sie schon um zwei Uhr nach unten gehen sollten, obgleich die Post immer erst um Punkt vier Uhr kam. Voll Erwartung setzten sie sich auf die Stufen, und jeder von ihnen hoffte inständig, wenn auch aus verschiedenen Gründen, daß die letzte Schriftrolle heute ankommen möge.

Als sie eintraf, wurde Ben vor Aufregung beinahe ohnmächtig. Er zitterte so heftig, daß Judy den

Empfangsschein unterschreiben und Ben dann die Treppe hoch bis in die Wohnung helfen mußte.»Du schwitzt ja«, bemerkte sie, als sie drinnen waren,»und da draußen war es kalt.«

«Ich dachte schon, sie würde niemals kommen. Ich dachte, sie würde niemals kommen.«

«Jetzt ist sie ja da, die letzte Rolle. Wir wollen sie gleich lesen, Ben.«

Den Fotos lag kein Begleitschreiben bei, und zu Bens grenzenloser Freude stellte er beim schnellen Überfliegen fest, daß die Papyrusrolle lang und ziemlich gut erhalten war.»An diesen beschädigten Ecken hier können wir wahrscheinlich recht genau raten, was dort geschrieben stand. Problematisch wird es nur, wenn ganze Textpassagen fehlen. So, fangen wir jetzt an zu lesen. O Gott. ich dachte schon, sie würde niemals kommen. «Er griff blindlings nach ihrer Hand und drückte sie fest.»Bete, Judy, bete, daß diese Rolle allem ein Ende setzen möge. «Ich hoffe es, dachte sie verzweifelt. Gott, wie sehr ich es hoffe.

Rebekka und ich waren seit einem Monat verheiratet und genossen die Glückseligkeit und die neuen Erfahrungen aller Frischvermählten. Sie war eine sanfte, liebevolle Ehefrau, wie ein ruhiges Kind in meinen Armen, und ich dankte Gott täglich für das Glück, das mir durch sie zuteil wurde. Ich brachte dem Herrn gegenüber auch meine Zufriedenheit zum Ausdruck und dachte, daß ich so für immer und ewig weitermachen könnte, mit der sittsamen Rebekka an meiner Seite und unseren stets ertragreichen Olivenbäumen. Doch dann, eines Abends, als wir gerade einen Monat verheiratet waren, kam Saul vorbei, um uns zu besuchen und mit uns zu Abend zu essen. Ich hatte ihn mehrere Tage zuvor eingeladen, und er hatte angekündigt, daß er uns zu diesem Anlaß eine Überraschung mitbrächte.

Die Überraschung war folgende: Saul hatte sich verlobt. Und er hatte seine zukünftige Frau mitgebracht.

Mein Sohn, ich hatte keine Möglichkeit, mich auf diesen Augenblick vorzubereiten. Das hat wohl kein Mensch. Ebenso, wie es dir vielleicht eines Tages ergehen wird, erging es mir an diesem Abend, als ich meinem Freund die Tür öffnete.

Mir verschlug es die Sprache. Es kam mir vor, als wäre ich vom Blitz getroffen worden. Saras Blicke trafen die meinen, und in Sekundenschnelle drangen sie durch mich hindurch und spalteten meine Seele in zwei Hälften. Was ich in diesem Moment empfand, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. In demselben Augenblick, als Saul uns begrüßte und uns stolz seine Braut vorführte, verliebte ich mich in Sara. Und als ihre Augen sich in meine vertieften, als ihr Gesichtsausdruck erstarrte und ihr Mund sich leicht öffnete, da wußte ich, daß Sara für mich dasselbe empfand. Dergleichen hören wir normalerweise nur in Märchen und Legenden und rechnen nicht im Traum damit, daß es uns selbst einmal so ergehen könnte. Doch es packte mich, mein Sohn, und traf mich mit einer solchen Wucht, daß ich bereits damals, in jenem flüchtigen Augenblick, wußte, daß mein Leben nie mehr so sein würde wie früher.

Weder Saul noch Rebekka bemerkten, was zwischen uns vorging. Ich wusch meinem Freund Hände und Füße und teilte mit ihm gewässerten Wein, während Sara und Rebekka sich in der Küche zu schaffen machten. Und während Saul munter darauflosschwatzte und mir allerlei Neuigkeiten aus der Stadt berichtete, war ich die ganze Zeit taub und blind. Ich konnte nur an Sara denken, den Inbegriff geheimnisvoller Schönheit, der den Männern sonst nur im Traum erscheint.

Ich war den ganzen Abend verlegen, aber Saul und Rebekka nahmen keine Notiz davon. Beim Essen unterhielten wir uns und lachten und genossen die Gesellschaft guter Freunde. Ich fürchtete mich davor, Sara anzusehen. Ich wußte, wenn ich es täte, würde ich wie eine Feuersäule auflodern. Ein- oder zweimal trafen sich unsere Blicke, und wir waren sogleich wie erstarrt. Sie blickte mich keck an mit leicht geöffneten feuchten Lippen, als ob sie mir etwas mitteilen wollte.

Als Saul und Sara sich schließlich verabschiedeten, war ich völlig betäubt. In dieser Nacht rührte ich Rebekka nicht an, sondern gab vor zu schlafen. Und in den Stunden der Finsternis sah ich das Bild die ganze Zeit vor meinen Augen: Saras weit aufgerissene, forschende Augen, ihr voller Mund, ihr glänzendes schwarzes Haar und ihr anmutiger Körper. Sie war mehr als eine Schönheit, sie war eine Märchenfee, die gekommen war, mich zu peinigen. Noch Tage danach konnte ich den Gedanken an Sara nicht loswerden. Ich schenkte meiner Arbeit nur wenig Aufmerksamkeit und mußte oft zweimal angesprochen werden, bevor ich Antwort gab. Ich weiß nicht, ob Rebekka es bemerkte, jedenfalls machte sie diesbezüglich keine Andeutung. Doch Rebekka war ohnehin eine stille und gehorsame Ehefrau, die mein Handeln niemals in Frage gestellt hätte.

Eines Tages konnte ich es nicht länger aushalten. Statt meinen Verwalter zu den Geldhändlern zu schicken, wie ich es üblicherweise tat, ging ich selbst und ließ ihn zurück, um im Olivenhain nach dem Rechten zu sehen. Ich zog meine feinste Tunika und meinen besten Umhang an, rieb wohlriechendes Öl in meinen Bart und machte mich mit klopfendem Herzen auf den Weg nach Jerusalem.

Saul stand kurz vor dem Ende seines Studiums und wohnte daher nicht länger bei Eleasar. Er war wieder zu seinem Vater zurückgekehrt und würde dort nach der Hochzeit mit seiner jungen Ehefrau so lange wohnen, bis er sich ein eigenes Heim leisten konnte.

Saul war noch nicht zu Hause, aber ich wurde von seiner Familie herzlich empfangen. Als Saul dann kurze Zeit später aus dem Tempel zurückkam, freute er sich über meinen Besuch und bemerkte in seiner Begeisterung gar nicht den Anflug von Enttäuschung, der sich auf meinem Gesicht zeigte. Sara war nicht bei ihm.

Und was hatte ich auch erwartet? Bis zur Hochzeit würde sie natürlich nicht allzu häufig in seiner Gesellschaft sein. Ich mußte einen anderen Weg ersinnen.

Was ich mir ausdachte, war folgendes: Ich lud die beiden für den Vorabend des Sabbat erneut zum Abendessen ein und bat sie, bis zum nächsten Tag zu bleiben.

Ich sagte:»Rebekka fühlt sich einsam in diesem Haus am Olivenhain, denn sie kommt selten mit gleichaltrigen jungen Frauen zusammen. Saras Gesellschaft würde ihr sicherlich guttun. «Und Saul nahm die Einladung bereitwillig an. Mein Sohn, ich betrog meinen besten Freund und benutzte ihn, um meine eigenen Ziele zu erreichen. Doch in meinem glühenden Verlangen, Sara wiederzusehen, kam mir nichts von alledem in den Sinn. Ein Mann, der von der Liebe getrieben wird, von einer verzehrenden Leidenschaft, ist kein vernunftbegabter Mensch mehr.

Als Saul und Sara kurz vor Sonnenuntergang eintrafen, war ich ganz außer mir. Ich stand auf, um zu beobachten, wie sie den Pfad heraufkamen. Ich hörte Saras Lachen zwischen den Bäumen schallen, ich sah, wie sich das Sonnenlicht in ihrem herrlichen, im Abendwind wehenden Haar verfing. Als sie indes an unserer Schwelle anlangte, zeigte sie sich schüchtern und ließ den Schleier wieder herunter. Und doch spürte ich, wie ihre dunklen Augen mich durch den Schleier hindurch anblitzten, und die Knie wurden mir weich. Niemand vermag das Gefühl der Liebe zu erklären, woher es kommt, warum es überhaupt existiert, wodurch es zu bestimmten Zeiten hervorgerufen wird. Man weiß nur, daß es die erhabenste aller Empfindungen ist.

Von deinen Lippen, o Braut, träuft Honigseim; Milch und Honig birgt deine Zunge, und der Duft deiner Kleider gleicht dem Duft des Libanon!

Ich kann mir vorstellen, wie König Salomo zumute war, als er dieses Lied schrieb, denn in Saras Gegenwart war ich schwach, von glühender Leidenschaft verzehrt und erfüllt von dem Verlangen, sie in meinen Armen zu halten.

Tags darauf kehrte Saul in die Stadt zurück, um in den Tempel zu gehen. Ich begleitete ihn nicht, denn wir von den Armen hielten unseren Gottesdienst nicht am Sabbat, sondern einen Tag später ab. Und so erbot ich mich, Sara in meinem Olivenhain herumzuführen, damit sie all meine Besitztümer sehen und die frische Morgenluft genießen könnte. Rebekka zog es vor, im Haus zu bleiben, und so wanderten Sara und ich allein zwischen den Olivenbäumen einher.

Zuerst sprachen wir nicht. Es herrschte ein seltsames Stillschweigen zwischen uns. Doch als wir unter den Zweigen dahinschlenderten und uns an der Wärme des Tages ergötzten, wußte ich, daß Sara dasselbe empfand wie ich.

Schließlich erreichten wir den letzten der Bäume und standen am Rand eines wunderbaren Aussichtspunktes. Die blutrote Anemone war in voller Blüte und belebte die Landschaft mit ihrem strahlenden Glanz. Die Luft war erfüllt von dem Duft der Aleppokiefern, und weiße Lilien sprossen da und dort im Gras wie schlafende Tauben.

Endlich konnte ich es nicht mehr aushalten und erzählte Sara, was ich im Grunde meines Herzens empfand. Ich gestand ihr, daß ich mich nicht schuldig fühle, daß ich zwar ein jung vermählter Ehemann sei, aber dennoch nicht an meine Frau denken könne und daß sich das Feuer, von dem ich verzehrt wurde, meiner Kontrolle entziehe.

Zu meiner Überraschung und Freude äußerte sich Sara ganz ähnlich; daß sie seit dem Augenblick unserer ersten Begegnung rastlos sei und einen stechenden Schmerz im Herzen empfinde.»Wie kann das sein?«fragte sie.»Kann eine solche Liebe in einem so kurzen Augenblick erblühen? Ist es möglich, daß sich zwei Menschen nur ansehen und hilflos in einer Leidenschaft gefangen werden, die so groß ist, daß alles Wasser von Siloam sie nicht zu kühlen vermag?«

Ich sagte ihr, daß es wohl so sein müsse, da es uns widerfuhr. Ich wollte sie küssen, aber ein kleiner Rest Vernunft war mir noch verblieben. Im fünften Buch Mose heißt es, daß ein frisch vermählter Mann ein Jahr lang mit seinem Weib fröhlich sein soll. Ich befolgte dieses Gebot nicht vollständig. Und dabei war ich doch ein Mann des Gesetzes.

Wir unterhielten uns leise oben auf dem Hügel, und als eine leichte Brise Saras Schleier ein wenig lüftete und ihr Haar freigab, meinte ich zu hören, wie mein Herz laut aufschrie.

Ich empfand große Zuneigung für Saul. In meinen acht Jahren in Jerusalem war Saul mein Bruder und mein Freund gewesen. Es gab nichts, was ich im Angesicht Gottes nicht für ihn getan hätte. So war es aus keinem anderen als aus diesem Grund, daß ich es unterließ, mich Sara zu nähern. Meine Liebe zu Saul verlieh mir die Kraft, um meiner Liebe zu seiner Verlobten nicht nachzugeben. Ich bin ein Mann der Treue.

Ich bin auch ein Mann des Gesetzes, und doch war es seltsamerweise nicht das Gesetz, das mich an diesem Tag im Zaume hielt. Ich wußte, daß die Strafe für einen Mann, der bei der Verlobten eines anderen Mannes schläft, die Steinigung war — zu Tode steinigen. Weiterhin wußte ich, daß auch ein Mädchen zu Tode gesteinigt werden konnte, wenn es nicht als Jungfrau zu ihrem Manne ging und er dies in der Hochzeitsnacht entdeckte. Doch so streng und abschreckend die Gesetze des fünften Buches Mose auch sind, es war meine

Freundschaft mit Saul, die mir an diesem Tage Willenskraft gab.

In den darauffolgenden Tagen war ich ein anderer Mensch. Als Salmonides sich bei mir mit noch größeren Gewinnen meldete und verkündete, die Götter seien mir geneigt, trafen seine Worte auf die Ohren eines Tauben. In meiner Brust tobte ein Schmerz, der sich durch nichts lindern ließ. Meine Liebe zu Sara nahm mit jeder Stunde zu.

Rebekka und ich besuchten auch weiterhin unsere Freunde im Hause von Miriam in der Oberstadt, und weil sie fromme Juden waren, strengte ich mich sehr an, zuvorkommend zu sein. Ich habe bisher noch nicht von Jakobus gesprochen, den du ja auch kennst. Jetzt will ich von ihm berichten.

Jakobus war ein Nazaräer, ein Mann von felsenfesten Überzeugungen und eisernen Gelübden. Neben Simon war er einer der Führer der Armen. Es waren arbeitsreiche Tage für sie, da sie darauf bedacht waren, ihre Anhängerschaft zu vergrößern, bevor der Meister wiederkehrte. Jakobus pflegte zu sagen:»Wir wurden angewiesen, auszuziehen, um die verlorenen Schafe Israels zu suchen und ihnen zu verkünden, daß das Königreich nahe. «Deshalb zogen Simon und seine Anhänger durch das ganze Land, predigten den Neuen Bund und verkündeten die Rückkehr unseres Königs. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die vor langer Zeit gemachten Prophezeiungen erfüllten und Israel zum rechtmäßigen Herrscher der Welt erhoben würde. Für dieses Ereignis mußten alle Juden vorbereitet sein, und es war die Aufgabe von Simon und Jakobus, die Missionarstätigkeit zu organisieren und dafür Sorge zu tragen, daß die Botschaft jeden Bürger Israels erreichte. Einst fragte ich ihn:»Wohin geht ihr, Brüder?«Und Jakobus antwortete:»Wir sind verpflichtet, in jede Stadt Israels zu gehen und mit jedem Juden dort zu sprechen. Wir erhielten Anweisung, den Heiden aus dem Weg zu gehen und die Städte der Samariter nicht zu betreten. Denn das nahende Königreich ist allein für Juden.«

Um diesen Punkt entspann sich ein heftiger Meinungsstreit. Simon und Jakobus erhielten Briefe von ihren Brüdern in Antiochia, die zu Juden predigten, und diese erzählten von einem anderen Mann, einem gewissen Saul von Tarsus, der behauptete, mit dem Meister auf der Straße nach Damaskus gesprochen und die Anweisung erhalten zu haben, auch zu Heiden zu predigen. Doch Simon und Jakobus, welche über alle Angelegenheiten der Armen wachten, rieten ihnen strikt davon ab, sich unter die Unbeschnittenen zu begeben. Denn sofern sie nicht Juden würden wie wir — das heißt, wenn sie nicht das Ritual der Beschneidung über sich ergehen ließen — und versprächen, die Thora heiligzuhalten, könnten die Heiden dem Neuen Bund nicht beitreten. Eine zweite Unstimmigkeit erwuchs ebenfalls aus diesem Punkt, ein Streit, der zunächst recht harmlos begann, der aber in späteren Jahren immer größere Ausmaße annahm. Wie du weißt, war Simon der beste Freund des Meisters und sein erster Jünger gewesen. Du weißt auch, daß Jakobus des Meisters Bruder war. Daraus entwickelte sich eine kleine Zwietracht zwischen ihnen. Simon und Jakobus wetteiferten miteinander um die absolute Vorherrschaft bei den Armen. Wenn sie in einer Sache unterschiedlicher Meinung waren, entstand sofort eine hitzige Debatte, und jeder von beiden erhob Anspruch auf das letzte Wort. Dies war zunächst kein größeres Problem, doch später, als Simon und Jakobus sich in ihren Auffassungen immer weiter auseinanderlebten, wurde der Kampf um die oberste Führungsposition bei den Armen immer heftiger geführt.

So waren Simon und Jakobus zu dieser Zeit sehr beschäftigte Leute. Der Tag der Rückkunft schwebte fast schon über uns. Es konnte schon morgen sein, und sie befürchteten, nicht genug Juden für ihre Sache gewonnen zu haben, bevor unser

Meister als König in Jerusalem Einzug hielt. Simon und Jakobus bekämpften die Idee, auch Heiden in die Gruppe aufzunehmen, und sie wetteiferten miteinander um die absolute Kontrolle über die Gemeinschaft.

Es war auch eine Zeit, in der leider viele von uns begannen, zum Schwert zu greifen. Zeloten in ganz Galiläa und Judäa sorgten für wachsende politische Spannungen mit unseren römischen Oberherren, und wir befürchteten, daß ein offener Konflikt ausbrechen könnte, bevor unser Meister zurückkehrte.

Im Vergleich zu dem, was später passierte und was du miterlebtest, mein Sohn, waren diese noch keine gefährlichen Zeiten. Damals wurde erst die Saat der Unruhe ausgebracht, und ein paar widrige Winde verbreiteten sie übers ganze Land. Als das Wasser plötzlich aus dem siedenden Kessel hervorbrach, warst du Augenzeuge davon.

Meine Liebe zu Sara wurde immer stärker. Ich vermochte ihr keinen Einhalt mehr zu gebieten. Als man Saul, meinen Freund, endlich für fähig erachtete, das Gesetz seinerseits zu lehren, und Eleasar ihm den Titel Rabbi verlieh, legte Saul den Tag der Hochzeit fest. Diese Nachricht zerriß mir die Seele, als ob hungrige Löwen darin wüteten. Rebekka war so aufgeregt, als wäre sie selbst die Braut, und verbrachte viele Tage bei Sara, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. Saul und Sara besuchten uns häufig, denn wir waren ihre besten Freunde, und ich fühlte mich jedesmal wie ein kranker Hund. Ich schmachtete nach Sara. Ich sehnte mich nach ihr, wie ich mich nie zuvor nach einer Frau gesehnt hatte. Meine Liebe wurde zur flammenden Leidenschaft und dann zur nackten Begierde, und ganz egal, wie sehr ich in meinem Olivenhain unter der Sonne schwitzte oder betete, bis ich Schwielen an den Knien bekam, das heftige Verlangen, Sara zu besitzen, wurde nur noch stärker. Daß sie ebenso litt wie ich, konnte man deutlich in ihren Augen erkennen. Und einmal, als sich unsere Hände zufällig berührten, sah ich eine tiefe Röte ihre Wangen bedecken. Nachts träumte ich lange von ihr. Ich warf mich hin und her, wie vom Fieber befallen. Und ich betete, daß ich am Tage ihrer Hochzeit imstande sein möge, meinen Leib und meine Seele von dieser Besessenheit zu befreien. Eines schönen Tages begab es sich, daß Rebekka nach Jerusalem ging, um ihre Mutter und ihre Schwestern zu besuchen, während ich allein bei der Ölpresse zurückblieb. Ich wußte, daß Saul schon im Tempel weilte und nach Schülern Ausschau hielt, damit er seine eigene Schule begründen könnte. Mein Verwalter war in Jerusalem mit dem Öl, das wir zuletzt gepreßt hatten, und meine wenigen Sklaven hielten im Schatten ihren Mittagsschlaf. Und so schien es ganz so, als ob das Schicksal Sara an diesem Tag den Pfad heraufführte. Als ob unsere Sterne schon vor langer Zeit, in der Stunde unserer Geburt, zwangsläufig miteinander verbunden worden wären. Ich trat aus dem Schatten heraus ins Sonnenlicht und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Es war, als ob ein Traumbild sich mir näherte.

Mit heruntergelassenem Schleier und niedergeschlagenen Augen wünschte mir Sara einen guten Tag und erklärte, sie habe Rebekka und mir einen Korb voll Honigkuchen mitgebracht. Süße Honigkuchen, die sie gerade gebacken hatte und die noch warm waren. Als ich ihr sagte, daß Rebekka das Haus verlassen habe und ich allein sei, schlug Sara ihre Augen zu mir auf, und mein Herz begann zu singen.

«Nimm einen Kuchen«, forderte sie mich auf und hielt mir den Korb hin.»Sie sind mit Honig, geriebenem Johannisbrot und den feinsten Nüssen bereitet.«

Aber ich konnte nicht essen. Mein Mund war trocken und mein Hals wie zugeschnürt. Mein Herz raste wie das eines kleinen Jungen.»Komm, setze dich in den Schatten«, lud ich sie ein und nahm ihr den schweren Korb ab.

Wir gingen eine Weile und genossen die sommerliche Wärme und die frische Luft. Zuweilen blieben wir stehen, um die Vögel zu beobachten oder den Duft einer Blume einzuatmen.»Es ist so ruhig hier«, bemerkte Sara, als wir ein Stück gegangen waren.»Nicht wie in der überfüllten Stadt, wo immer Lärm herrscht. Hier zwischen den Bäumen ist es friedvoll. «Wir beschlossen, uns eine Weile im Schatten einer Pinie niederzulassen, deren schwere Zweige tief herunterhingen und die ihre Arme weit ausbreitete, um den Himmel zu umarmen. Als wir uns setzten, stellte ich fest, daß wir uns außer Sichtweite des Hauses befanden.

«Saul hat jetzt einen Schüler«, berichtete Sara mit gesenktem Blick. Sie saß auf der Seite, wobei sie ihre kleinen Füße sittsam unter sich gezogen hatte.»Er ist der Sohn eines armen Krämers, der es sich nicht leisten kann, ihn zu einem bekannteren Rabbi zu schicken. «Ich erwiderte:»Alle berühmten Männer haben einmal bescheiden angefangen. Die Zeit wird kommen, da Saul ebenso begehrt sein wird wie Eleasar.«

Dann saßen wir eine Zeitlang schweigend da. Ich fragte sie:»Wann ist die Hochzeit, Sara?«

«In zwei Monaten, denn bis dahin kann Saul ein kleines Haus in der Stadt kaufen. Es ist ein recht einfaches, aber immerhin wird es unser eigenes sein.«

Zwei Monate, dachte ich. Wird es leichter sein, gegen diese Leidenschaft anzukämpfen, wenn sie erst eine verheiratete Frau ist, oder macht es keinen Unterschied?

Als wir einigen Vögeln beim Spiel zusahen, lachte Sara, so daß ihr Schleier zurückfiel. Der Anblick ihres langen, schwarzen Haares, das ihr über Schultern und Brust fiel, schürte meine Leidenschaft.»Sara«, sprach ich zu ihr,»es ist schwer für mich, so mit dir zusammen zu sein.«

«Mir geht es nicht anders«, erwiderte sie.

«Saul ist mein bester Freund und mein Bruder. Ich kann ihn nicht hintergehen.«

Sie flüsterte:»Ich weiß.«

Und trotzdem konnte ich nicht anders. Ich zitterte von dem Kampf, der in meinem Innern ausgetragen wurde, versuchte verzweifelt, den Drang, der über mich kam, zu besiegen. Doch ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Einer plötzlichen Regung folgend, griff ich mit beiden Händen nach ihrem Haar und küßte es. Tränen standen ihr in den Augen. Plötzlich sagte sie mit gepreßter Stimme:»Saul wird nie etwas davon erfahren. «Ich war wie vom Donner gerührt.»Aber meine Liebe«, entgegnete ich,»du mußt doch als Jungfrau zu deinem Mann gehen. Das Gesetz ist ganz klar. Und es steht ganz unmißverständlich geschrieben: >Wenn eine Jungfrau mit einem Mann verlobt ist, und ein anderer Mann trifft mit ihr innerhalb der Stadt zusammen und schläft bei ihr, so sollt ihr die beiden zum Tor der Stadt hinausführen und sie beide zu Tode steinigen.««

Ich sagte:»Das Gesetz ist klar. Ich fürchte dabei nicht für mich selbst, sondern um deinetwillen, meine Liebe. «Ihre Hand lag auf meiner, und alle Treue zu Saul war dahin. Sara saß dicht neben mir; ihr kleiner Körper bebte; ihre Lippen lösten sich voneinander.

Da fuhr ich fort:»Im fünften Buch Mose steht auch folgendes geschrieben: >Wenn aber der Mann das verlobte Mädchen auf freiem Felde antrifft, es mit Gewalt nimmt und bei ihr schläft, so soll der Mann allein sterben, der bei ihr geschlafen hat.<«Doch Sara widersprach:»Nein, mein Geliebter! Wenn man uns ertappt, so soll man uns auch beide bestrafen. Vergiß das Gesetz und die Stadt und das Land. Es führt kein Weg darum herum. Wir müssen die Gelegenheit ergreifen. Wenn man uns entdeckt, dann ist es nur gerecht. Wenn man uns nicht entdeckt, dann müssen wir auf ewig mit unserem schlechten

Gewissen leben. «Niemand sah uns an jenem Tag, und es kam auch nie heraus. Für den Moment war es wie ein flüchtiger Blick ins Paradies. Aber danach, am Abend und an den folgenden Tagen, trieb mich mein schlechtes Gewissen an den Rand der Verzweiflung. Es gab auf der Welt kein niedrigeres Geschöpf als mich, der ich ein verabscheuungswürdiger Betrüger war. Ich hatte meine Frau Rebekka hintergangen, ich hatte meinem besten Freund Saul die Treue gebrochen, und ich hatte Verrat an Gott begangen. Es gab für diese Tat keine Entschuldigung, und ich suchte auch nicht danach. Ich hatte meinem besten Freund gestohlen, was rechtmäßig ihm gehörte. Ich würde ihn nie mehr ansehen können, ohne die tiefste Scham zu empfinden. Zweimal in meinem Leben hatte ich nun die Thora beschmutzt. Wie konnte ich erwarten, bei der Rückkehr des Meisters zu den Auserwählten zu zählen, wenn ich Gottes heiliges Gesetz nicht in Ehren hielt? Es konnte nun jeden Tag ein König in Zion Einzug halten, und ich war nicht mehr würdig. In meiner Bedrängnis wandte ich mich an Simon um Rat. Ich schilderte ihm keine Einzelheiten, sondern gestand nur, daß ich eine verbrecherische Tat begangen hatte. Ich warf mich vor ihm auf die Knie und bat ihn um seine Belehrung. Zu meiner Überraschung sagte Simon folgendes:»Indem du dich um Läuterung bemühst, wirst du geläutert, denn Gott kann in dein Herz sehen. Bist du in deiner Zerknirschung aufrichtig, dann wird dir sofort vergeben. «Darauf antwortete ich:»Ich bin kein Jude, der würdig genug wäre, den Messias zu empfangen.«

Und Simon erwiderte:»Erinnere dich an das Gleichnis vom Hochzeitsfest. Setze dich niemals auf den besten Platz, denn es könnte vorkommen, daß der Gastgeber einen Bedeutenderen eingeladen hat als dich und zu dir sagt: >Bitte stehe auf und gib ihm diesen Platz.< Dann wärest du beschämt und müßtest dich auf einem geringeren Platz niederlassen. So gehe hin, wenn du eingeladen bist, und setze dich statt dessen auf den niedrigsten Platz, so daß dein Gastgeber sagen kann: >Komm höher, Freund, und setze dich dort oben hin.< Dies wird dir vor den anderen Gästen zur Ehre gereichen. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht.«

Ich machte mir viele Gedanken über Simons Rat, und obgleich ich fühlte, daß er recht haben könnte, trug er nur wenig dazu bei, meine Verzweiflung zu lindern.

Ich hatte jetzt noch mehr zu leiden, denn obwohl ich den Preis erhalten hatte, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte, und obwohl ich mich hinterher dafür elend fühlte, liebte ich Sara noch immer von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Es bewirkte eine Veränderung in mir, mein Sohn. Während Simon mir versicherte, daß ich erst neunzehn Jahre alt sei und mit mir selbst zu hart ins Gericht gehe und daß ich mit der Zeit lernen werde, mir selbst zu verzeihen, bin ich danach nie wieder imstande gewesen, mir meiner Würde vor Gott sicher zu sein. Und so erlegte ich mir selbst Gelübde auf: doppelt so oft und doppelt so lang zu beten, als das Gesetz es verlangte; die Gebetsriemen um Arm und Stirn zu tragen; sowohl den Alten Bund als auch den Essenischen Bund heiligzuhalten; und mich doppelt anzustrengen, ein würdiger Diener des Messias zu werden. Nur auf diese Weise war ich in der Lage, mit mir selbst zu leben. Ich liebte Sara weiterhin still und heimlich, verstärkte aber gleichzeitig meine Hingabe an Rebekka, damit sie wegen meiner Schwäche nicht zu leiden brauchte. Ich blieb Saul gegenüber standfest, war in seiner Gegenwart aber stets verlegen und bemühte mich, jeden Kontakt mit Sara zu vermeiden.

Ich wohnte ihrer Hochzeitsfeier nicht bei. Ich gab vor, krank zu sein, und schickte Rebekka mit ihrer Mutter und ihren Schwestern allein zum Fest. Frisch verheiratet, waren Saul und

Sara zu sehr mit den Besuchern beschäftigt, die sich nun ständig bei ihnen einfanden. Und ich fand stets neue Entschuldigungen, um die Einladungen in ihr Haus zu verschieben.

In dieser Zeit trat Salmonides mit dem Vorschlag an mich heran, ich solle doch das Nachbargut kaufen, welches verarmt und unrentabel war, und es in ein gewinnbringendes Unternehmen verwandeln. Ich wußte die Ablenkung zu schätzen. Ich stellte sofort neue Hilfskräfte ein, kaufte eine größere Ölpresse und erarbeitete ein besseres

Bewässerungssystem. Salmonides hatte recht, denn der angrenzende Hof fing bald an, sich selbst zu tragen und wenig später auch Gewinn abzuwerfen. Während meine Olivenbäume dicke, fleischige Früchte trugen und meine Presse das beste Öl hervorbrachte, mehrte Salmonides weiterhin meine Gewinne aus anderen Unternehmungen.

Gegen Anfang des folgenden Jahres, kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag, kam ein Bote aus der Stadt mit einem Brief von Saul. Sara hatte soeben ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Acht Tage später fanden Rebekka und ich uns zur Beschneidungszeremonie ein. Es war das erste Mal, daß ich Sara seit unserer Begegnung kurz vor ihrer Hochzeit wieder ansah, und ich war verblüfft, wie rasch mir bei ihrem Anblick die Knie weich wurden und mein Herz zu rasen anfing. In ihrer Blässe und Zerbrechlichkeit — denn es war eine schwere Geburt gewesen — war sie ebenso reizend, wie ich sie in Erinnerung hatte. Und als der Mohel die Beschneidung vornahm und dazu die üblichen Worte sprach, galt meine Aufmerksamkeit allein Sara.

Sie nannten den Knaben Jonathan, nach dem ältesten Sohn des ersten Königs von Israel. Ich sollte sein Onkel und er mein Neffe sein. Wir sprachen besondere Gebete für das

Neugeborene, und insgeheim beneidete ich Saul. Ich selbst hatte bis jetzt noch keinen Sohn.

Ich sprach meinen Segen über Jonathan und wünschte ihm ein langes Leben, und dann betete ich leise in meinem Herzen, daß er bis zur Rückkehr des Messias am Leben bleiben möge, so daß er im wahren Königreich Israel zum Mann heranwachsen würde.

Judy ließ Ben allein, um in der Küche ein paar Hamburger zurechtzumachen. Sie verrichtete diese Arbeit mit mechanischen Bewegungen, ohne zu denken, denn obgleich sich ihr Körper in dieser hochmodernen, vollelektrischen Küche des zwanzigsten Jahrhunderts befand, war sie im Geiste noch immer im alten Jerusalem. Ben saß regungslos an seinem Schreibtisch. Nachdem er sich so in die Rolle vertieft hatte und so sehr damit beschäftigt gewesen war, das Leben von David Ben Jona nachzuvollziehen, ließ ihn der Schock darüber, am Ende der Handschriften angelangt zu sein, regelrecht in der Luft hängen.

«Das kann nicht sein«, dachte er, innerlich leer,»das kann noch nicht alles sein.«

Ben legte seine Hände mit ausgestreckten Fingern flach auf die Fotografien. Völlig regungslos saß er da und spürte die Worte David Ben Jonas unter seinen Handflächen, spürte den heißen Sommer in Jerusalem und den Liebesakt unter einer Aleppokiefer. Er spürte den Lärm und das Gedränge auf Jerusalems Markt; roch den aus Kapernaum, Magdala und Bethesda herbeigeschafften Fisch; fühlte die Seidenstoffe aus Damaskus, das Leinen aus Ägypten, das Elfenbein aus Indien. Er spürte die exotischen Wohlgerüche, das Geschrei der Straßenhändler und Kaufleute, spürte das Klirren der römischen Schwerter in der Scheide, als die Soldaten vorübergingen, spürte den Staub und die Tiere und die Hitze und den Schweiß.»O Gott!«rief Ben und sprang auf.

Im nächsten Augenblick war Judy bei ihm und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.»Ben, was ist los?«Er starrte auf seine zitternden Fingerspitzen.»O Gott«, flüsterte er wieder.»Was ist geschehen?«

«David.«, begann er.»David war.«

Sie legte ihm einen Arm um die Schultern.»Komm, Ben, du bist erschöpft. In ein paar Minuten bin ich mit dem Essen fertig, dann können wir uns entspannen. Wie war’s mit einem Glas Wein in der Zwischenzeit?«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer über den purpurfarbenen Fleck auf dem Vorleger hinüber zur Couch. Sowie er sich gesetzt hatte, war Poppäa auf seinem Schoß. Sie schnurrte und rieb ihr Gesicht an seiner Brust. Doch Ben schenkte der verführerischen Katze keine Beachtung. Statt dessen legte er seinen Kopf auf der Couch zurück und starrte mit offenem Mund an die Decke.

Was war ihm da gerade im Arbeitszimmer passiert? Es war etwas Neues, etwas anderes. Es war, als ob David.»Was willst du auf deinen Hamburger?«erkundigte sich Judy und streckte den Kopf aus der Küchentür.

«Was?«Er riß den Kopf hoch.»Hmm. Senf. «Ein kurzes Rumoren war zu hören, und im nächsten Augenblick trat Judy mit einem schweren Tablett aus der Küche. Sie stellte es vor ihn auf den Kaffeetisch, ließ eine Serviette in seinen Schoß fallen und riß eine riesige Tüte Kartoffelchips auf. Die Hamburger sahen dick und saftig aus.»Los jetzt, du hast mir versprochen, zu essen.«

«Ach ja.?«Er schubste Poppäas Nase sanft von seinem Teller weg und führte den Hamburger zum Mund.

Was hatte David dort im Arbeitszimmer versucht zu tun? Sie aßen eine Weile schweigend, wobei die Eintönigkeit nur durch das gelegentliche Krachen eines Kartoffelchips durchbrochen wurde, bis Ben plötzlich sagte:»Was mir Kopfzerbrechen bereitet. David ist noch immer hier.«

«Warum macht dir das Kopfzerbrechen?«

«Ich dachte, er würde verschwinden, wenn ich nichts mehr zu übersetzen hätte, aber ich glaube fast, ich habe mich getäuscht. Was ist, wenn er mich nun bis ans Ende meiner Tage verfolgt, weil er nicht weiß, daß die letzte Rolle niemals kommen wird?«Sie aßen die Hamburger zu Ende, wischten sich Hände und Mund ab und lehnten sich mit dem Wein zurück. Poppäa schnupperte zwischen den Krümeln herum.

«Sie ist so ein kleines Miststück«, bemerkte Ben.»Tut so, als wäre sie erstklassig und wählerisch, und ist doch eine Hure im Herzen.«

«Das hat sie vielleicht von ihrer Namensschwester. «Der Augenblick verging langsam, ruhig, in Gedanken. Dann meinte Ben leise:»Weißt du, er schaut dich an. David schaut dich an. «Judy riß die Augen auf und starrte vor sich in das trübe Halbdunkel auf der anderen Seite des Zimmers. Sie sah nichts als die Umrisse von Möbeln und Pflanzen und die Schatten der Bilder an der Wand.»Warum nimmst du das an?«

«Ich weiß nicht. Vielleicht erinnerst du ihn an Sara. «Sie lachte leise auf.»Wohl kaum!«

«Oh. wer weiß.?«

«Die Schriftrollen sind jetzt also zu Ende«, sagte Judy nervös.»Ja, ich denke schon. «Bens abwesender Blick verschwand, und mit ernstem Gesicht sagte er:»Und ich denke, wir haben eine Menge gelernt. «Seine Stimme war ausdruckslos, völlig teilnahmslos.»David liefert den Nachweis für einige Aussprüche Jesu, was wohl jedermann glücklich machen wird. Auch für ein paar Worte von Simon. Für das Zitat des Jakobus. Für das Gleichnis vom Hochzeitsfest.«

«Du scheinst nicht gerade glücklich darüber zu sein.«

«Das bin ich auch nicht. Ich sorge mich nur um David und um das, was in aller Welt ihm zugestoßen ist. «Ben fing an, seine Faust zu ballen und wieder zu öffnen.

Judy beobachtete ihn mit wachsender Sorge. Sie hatte sich an seine unvorhersehbaren Schwankungen gewöhnt und war imstande, die Anzeichen zu erkennen, die auf einen plötzlichen Stimmungswechsel hindeuteten. Aber sie mochte es nicht. Diese Unbeständigkeit beunruhigte und erschreckte sie.

«Was war das für ein großes Verbrechen, über das er seinem Sohn berichten wollte? War es die Sache mit Sara?«

«Das kann wohl nicht sein. In Rolle acht sagt er doch, daß der Tag seiner niederträchtigen Tat erst sechzehn Jahre später kommen sollte. Er meinte nur, daß der Zwischenfall mit Sara entscheidend dazu beitrug, daß es im Jahr siebzig unserer Zeitrechnung zu seinem Verbrechen kam.«

Ben wurde immer erregter. Judy sah, daß er wieder drauf und dran war, die Beherrschung zu verlieren.»Das bedeutete, daß die letzte Rolle, diejenige, die wir niemals zu Gesicht bekommen werden, uns seinen eigentlichen Beweggrund für das Schreiben der Rollen verraten hätte. Sie hätte wahrscheinlich auch erklärt, wie und warum er bald sterben mußte, und sechzehn Jahre.«

«Ben!«

Er war plötzlich auf den Beinen.»Ich ertrage das nicht! Ich kann unmöglich weiterleben, ohne den Rest von Davids Geschichte zu kennen. Es wird mich wahnsinnig machen. Er wird mich wahnsinnig machen!«Und er deutete auf den unsichtbaren Juden vor ihm.»Glaubst du, er wird mich jetzt eine Sekunde in Frieden lassen? Sieh ihn dir nur an! Sieh ihn dir nur an, wie er dort steht und mich anstarrt! Warum spricht er nicht? Warum rührt er sich nicht von der Stelle?«Bens Stimme wurde laut und schrill. Sein Körper zitterte heftig.

«Herrgott noch mal!«schrie er,»Steh doch nicht nur so herum! Tu gefälligst etwas!«

Judy tastete nach Bens Hand und versuchte ihn wieder hinunterzuziehen.»Bitte, Ben. O Ben, bitte.«

«Sieh ihn dir nur an! Ich wünschte, du könntest ihn sehen. Wenn ich ihn nur bekämpfen könnte! Wenn ich nur wüßte, wie ich an ihn herankomme! Er treibt mich zum Wahnsinn!«Bens Hände ballten sich zu Fäusten.»Los, du gottverdammter Jude! Du traust dich wohl nicht! Sag mir, hinter was du eigentlich her bist!«Und in diesem Augenblick wurde Ben plötzlich still. Er atmete schwer und schwitzte. Seine Augen waren weit aufgerissen und schienen fast aus den Höhlen zu treten. Die nervösen Bewegungen seiner Finger hörten auf. Ben war mitten in der Bewegung erstarrt. Judy schaute sprachlos zu ihm auf.

Und dann, leise, fast nicht wahrnehmbar, begann er zu sprechen:»Warte einen Moment. Ich denke, jetzt weiß ich, was du willst.«

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