Kapitel 3.

Er verabschiedete mich am Flughafen, und zum ersten Mal innerhalb von drei Jahren gab mir Dr. Kellerman einen Kuß. Ich umarmte ihn auf kameradschaftliche Weise und versicherte ihm noch einmal, daß schon alles in Ordnung käme.

Auf dem internationalen Flughafen von Los Angeles ging es zu dieser frühen Morgenstunde betriebsam und hektisch zu. Und doch sprach Dr. Kellerman so ruhig mit mir, als wären wir alleine in seinem Bibliothekszimmer. Seine Hände hatte er auf meine Schultern gelegt, und er wiederholte schon zum x-ten Mal an diesem Morgen: »Das ist der helle Wahnsinn, Lydia. Sie hätten die Polizei verständigen und ihr die Sache überlassen sollen. Die Einbrecher sind nicht zurückgekommen. Soviel steht fest, daß es wohl doch nicht der Schakal war, nach dem sie suchten. Vielleicht haben sie etwas anderes gestohlen, und Sie haben es nur nicht bemerkt. Ich denke, Sie machen sich da etwas vor. Ihre Schwester ist eine oberflächliche, egoistische Person. Sie lockt Sie mit einer List nach Rom. Der Einbruch war nur zufällig gleichzeitig geschehen. Er hätte in jeder anderen Nacht stattfinden können.«

Aber ich war mir meiner Sache sicher. »Nein, Dr. Kellerman, Sie irren sich. Meine Schwester ist in irgendeine mysteriöse Geschichte verwickelt, und ich denke, sie will, daß ich ihr da heraushelfe. Je mehr ich über unser Gespräch nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt. Sie fürchtete sich vor irgend etwas. Vielleicht ist sie deshalb so überstürzt aus dem Hotel abgereist und konnte keine Nachricht mehr hinterlassen. Vielleicht hat es mit diesem Schakal mehr auf sich« - ich klopfte auf meine Handtasche, worin er lag -, »als man beim ersten Hinsehen annehmen möchte. Alles in allem sind Sie doch nur ein Chirurg, Dr. Kellerman. Was wissen Sie schon von solchen Dingen?« neckte ich ihn.

Da gab er mir zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren einen Kuß. »Cathcart ist nicht gerade erfreut. Sie weiß genau, daß niemand sonst einem alten Krokodil wie mir assistieren kann. Sie haben nie gesehen, wie ich einen Wundhaken durch den Raum werfe.«

»Ich werde zurück sein, bevor Sie meine Abwesenheit überhaupt bemerken.«

»Und wer sonst reicht mir das Nahtmaterial in so hübschen, wirren Knäueln wie Sie? Oh, Lydia.« Dr. Kellerman schüttelte resigniert den Kopf.

Auf seinen Vorschlag hin tauschte ich etwas Geld in Lire um, kaufte ein Kreuzworträtselheft und begab mich frühzeitig an Bord der Maschine. Zu meiner Überraschung verhielten wir uns beim letzten Abschiedsgruß beide etwas gezwungen.

Sobald ich an Bord der Boeing 747 war und mich auf meinem Fensterplatz eingerichtet hatte, bestellte ich noch vor dem Start eine Bloody Mary mit reichlich Tequila und wenig Tomatensaft. Erleichtert stellte ich fest, daß der Platz neben mir leer war und bis New York auch so bleiben würde. Ich brauchte die nächsten paar Stunden dringend zum Nachdenken.

Abermals hatte ich beim Abschied in Dr. Kellermans Augen übersehen, was eine andere, empfindsamere Frau vielleicht wahrgenommen hätte. Daher flog ich von Los Angeles mit der irrigen Vorstellung ab, daß keine Menschenseele den Verlust beklagen würde, sollte mir in Rom ein unvorhergesehenes Unglück zustoßen. Und dann schweiften meine Gedanken aus einem unerfindlichen Grund von Dr. Kellerman zu Jerry Wilder, dem interessanten Anästhesisten, mit dem ich für kurze Zeit ausgegangen war. Merkwürdig, daß ich mich

ausgerechnet jetzt wieder daran erinnerte, nachdem ich seit zwei Jahren keinen Gedanken mehr an dieses kurze Verhältnis verschwendet hatte. Als die Maschine vom Boden abhob und ich den leichten Druck auf meinem Körper spürte, erinnerte ich mich schwach an das letzte Mal, als wir zusammen waren, und an seine harten Worte: »Du bist eine verdammt gute Operationsschwester, Lydia. Wahrscheinlich die beste in unserer ganzen Abteilung. Du bist eine gut funktionierende kleine Maschine im OP und leistest hervorragende Arbeit. Das Problem ist nur, daß du nach Dienstschluß nicht abschalten kannst. Und dort liegt der Haken: Du bist eine

Krankenschwester und keine Frau. Bei dir kommt die Medizin vor allem anderen, und ich glaube eigentlich nicht, daß du irgendein anderes Interesse im Leben hast.«

Ich war bestürzt und verletzt - und doch wußte ich, daß er im Grunde die Wahrheit ausgesprochen hatte. Während der kurzen drei Monate, in denen wir zusammen ausgingen, hatte ich nicht einmal in wirklicher Liebe an Jerry gedacht, noch hatte ich mich ihm je völlig hingegeben. Vielleicht konnte ich nicht - oder wollte ich nicht. Aus welchem Grund auch immer, unsere Beziehung beschränkte sich danach wieder auf das rein Berufliche.

Die 747 setzte die Geschwindigkeit herab und ging in ein sanftes Brummen über. Der Druck verminderte sich, und meine Ohren gingen wieder auf. Ich war bei meiner zweiten Bloody Mary angelangt und hörte dazu über Kopfhörer klassische Musik, als ich mir plötzlich über meine Situation in erschreckender Weise klar wurde. Da flog ich nun zum ersten Mal in meinem Leben an Bord einer Boeing 747 in ein fremdes Land, um nach einer Schwester zu suchen, die ich dort vielleicht gar nicht mehr antreffen würde. Was mich jetzt außerdem in Erstaunen versetzte, war die unleugbare Tatsache, daß ich zum ersten Mal in meinem wohl organisierten Leben kaum einen Gedanken an meinen Beruf verschwendet hatte und alles für eine andere Sache hatte stehen- und liegengelassen, die sich als lächerliche Spinnerei erweisen konnte.

Doch obwohl ich meine Torheit erkannte, schritt ich mit unverminderter Entschlossenheit weiter voran, wobei ich nicht einmal wußte, was ich letztendlich eigentlich herauszufinden hoffte.

Bei der Atlantiküberquerung, nach dem Zwischenstopp in New York, hatte ich eine Sitznachbarin, aber glücklicherweise war sie eine stille Nonne, die die meiste Zeit schlief oder in ein Buch vertieft war. Die Flugdauer von New York nach Rom war auf sieben Stunden angesetzt, und wir Passagiere aus Los Angeles hatten bereits drei weitere Stunden hinter uns. War Rom bisher kaum mehr als ein Name und eine damit verbundene vage Vorstellung gewesen, so wurde daraus nun in raschem Tempo Wirklichkeit.

Ich versuchte, mich für ein Nickerchen bequem zurechtzusetzen, denn ich hatte die letzten beiden Nächte schlecht geschlafen. Adeles Anruf hatte eine unheimliche Wirkung auf mich gehabt. Er hatte eine Lawine von Erinnerungen in mir ausgelöst, die ich über mehrere Jahre hatte verdrängen können und die schließlich vergessen zu haben ich nur allzu froh gewesen war. Doch ihre Stimme hatte eine Tür aufgestoßen, und als diese Tür erst einmal geöffnet war, konnte sie nicht wieder geschlossen werden. Die Vergangenheit ließ sich nicht noch einmal wegsperren. Unsere Kindheit, unsere Jugend, der Tod unserer Eltern, unser anschließendes Auseinanderleben und unser endgültiger Abschied vor vier Jahren, alles stürmte wieder auf mich ein, als hätten Adele und ich uns erst gestern voneinander getrennt. Am Telefon hatte sie mich Lyddie genannt.

Ich kniff die Augen fest zusammen, aber man kann sich schmerzlichen Erinnerungen nicht dadurch entziehen, daß man den Kopf in den Sand steckt. Ihr Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge, zurechtgemacht mit aufwendigem Make-up, die Frisur nach der neuesten Mode. Mit ihrem hinreißenden Lächeln machte sie sich über mich lustig, foppte mich wegen meiner strengen Pflichtauffassung und versuchte mich zu ihrem lockeren Lebensstil zu bekehren. Diese meine zigeunerhafte Schwester war so ganz anders als ich, mit ihrem ausgeprägten Gespür für Lebensart und Sich-in-Szene-Setzen, das sie auf Partys stets zum Liebling machte.

Mir war nie bewußt geworden, wie oft ich mich in meinem Leben schon »für immer« von Menschen, die mir nahegestanden hatten, verabschiedet habe. So durchlebte ich in Gedanken noch einmal die letzte Begegnung mit Adele. Ich erinnerte mich an jedes Wort, an jede Geste.

»Ehrlich, Lyddie, es ist höchste Zeit, daß ich gehe. Ich weiß, daß du mich nicht ernsthaft in dein Leben integrieren willst. Dein >Privatleben< hat dir ja schon immer viel bedeutet. Deshalb ziehe ich eben fort. Und außerdem glaube ich nicht, daß Amerika groß genug für mich ist. Ich will etwas von der Welt sehen. Es gibt so viel zu tun, bevor ich dreißig bin.«

»Um Himmels willen, Adele, du bist doch erst zweiundzwanzig.«

»Acht Jahre sind keine lange Zeit. Oh, du hast dein ganzes Leben hübsch geplant, Lyddie, und alles ist bei dir ordentlich aufgeräumt an seinem Platz. Ich bin sicher, es wird alles so klappen, wie du es planst. Ich dagegen.« - sie hatte dramatisch geseufzt -, ». ich weiß nie, was der nächste Tag bringen wird. Es gibt für mich noch so viel zu erleben, bevor ich dreißig bin.«

»Was ist an dreißig so besonders?«

»Ach, Lyddie, wenn man erst dreißig ist, ist man alt, und ich will nicht alt sein.«

»Adele.« Ich hatte nur resigniert den Kopf über sie geschüttelt. Wie haltlos sie seit dem Tod unserer Eltern doch geworden war, wie grundlegend sie sich doch verändert hatte! »Es wäre wirklich an der Zeit, daß du über einen Beruf nachdenkst.«

»Ich habe doch schon einen!«

»Einen reichen Mann zu heiraten kann man wohl kaum.«

»Oh, Lyddie!« In ihrem schrillen Lachen schwang etwas Zänkisches mit. »Ich könnte wetten, du heiratest nie. Du bist einfach zu. zu emanzipiert dazu. Großer Gott, du wirst noch als alte Jungfer enden!«

Ich breitete die Decke, die von der Stewardeß ausgeteilt worden war, über mich und zog sie bis zum Kinn hoch. Dann preßte ich mein Gesicht gegen das Fenster, in der Hoffnung, einen Blick auf die Welt unter uns zu erhaschen. Aber draußen war es noch dunkel - wir sollten um acht Uhr dreißig morgens auf dem Flughafen Leonardo da Vinci landen -, und die schwach beleuchtete Kabine war voll mit schlafenden Menschen. Im Fenster sah ich das Spiegelbild meines Gesichts, das dem von Adele so ähnlich war. Doch während meine Schwester und ich uns äußerlich sehr ähnelten, besaß Adele noch dieses gewisse Etwas, das sie von mir abhob. Wir hatten die gleiche Hautfarbe, den gleichen Teint, ja sogar von der Figur her waren wir ähnlich. Doch Adele verstand sich auf die Kunst, ihre äußeren Merkmale vorteilhaft zur Geltung zu bringen, während ich mich einfach mit dem zufriedengab, was ich hatte. Das Beste, was ich über mich sagen konnte, war, daß ich die in einem Operationssaal erforderlichen Augen hatte, Augen, die nahezu jeden Gedanken über den Operationsmundschutz hinweg mitteilen konnten.

Eine Bewegung an meiner Seite riß mich aus meiner Träumerei und brachte mich an Bord der Boeing 747 zurück, wo die Nonne sich eben von ihrem Platz erhob.

»Entschuldigen Sie, aber Freunde von mir sitzen weiter vorn. Ich habe die Stewardeß gefragt, und sie meinte, ich könne mich ruhig zu ihnen setzen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich gehe? Ich bin sicher, Sie schlafen besser, wenn Sie allein sind.« Sie holte eine schlichte Tasche unter dem Sitz hervor und zwängte sich durch den Gang nach vorn.

Als ich ihr nachschaute und ihren schmächtigen Körper zwischen den schlafenden Passagieren im Vorderteil verschwinden sah, wurde ich zusätzlich von der Ankunft eines Fremden wachgerüttelt. Er trug ein Bordcase in der einen Hand und grinste mich ungezwungen an. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich hierher setze?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf.

Im Nu hatte er sein Köfferchen unter dem Sitz verstaut, den Sicherheitsgurt angelegt und neben mir Platz genommen. »Unsere katholische Bekannte hat sich zu jemandem von ihrem Stand gesellt, und allem Anschein nach kommt sie nicht zurück. Ah, Kreuzworträtsel! Sind Sie ein Fan davon?«

Ich muß ihn völlig verständnislos angestarrt haben, denn er wiederholte: »Sind Sie ein Kreuzworträtsel-Fan? Das Heft, das da vor Ihnen in der Sitztasche steckt. Hm?«

Ich schaute stumm nach unten. »O ja. Ich meine, eigentlich nicht. Nur, wenn ich fliege.«

»Dann fliegen Sie also häufig?«

Ich dachte an Columbus und Oakland und runzelte die Stirn. »Nein, kaum. Mit den Rätseln kann man sich die Zeit vertreiben. Allerdings führe ich keines davon je zu Ende. Möchten Sie es mal versuchen?« Gleichgültig reichte ich es ihm, und zu meiner Überraschung nahm er es begierig entgegen. »Danke. Ist das Logikrätsel noch ungelöst?« Er blätterte in den Seiten des Heftes. »Aha! Da haben wir’s schon! Alle Achtung, sieht aus, als wäre es eine harte Nuß. Vielen Dank. Diese letzten zwei Stunden werden die längsten sein.«

Ich starrte meinen neuen Sitznachbarn unverwandt an, während er sich mit sichtlicher Begeisterung in das Rätsel vertiefte, das vor ihm auf dem Tablett lag. Die Art und Weise, wie er das Logikrätsel anging, wirkte beinahe andächtig. Ich beobachtete ihn, wie er die Seite glattstrich, sich auf seinem Platz zurechtsetzte, seine Schultern straffte und wie ein Schuljunge am Ende des Kugelschreibers herumlutschte. Er war schätzungsweise in den Dreißigern, gut gekleidet, mit flottem Haarschnitt und einem ziemlich markanten Profil. Obwohl es mich in den letzten neun Stunden danach verlangt hatte, mich so gut es ging von meiner Umgebung zu isolieren, war ich schließlich diejenige, die den Fremden an meiner Seite mit einem gewissen Interesse musterte.

Als er plötzlich zu mir aufblickte, zuckte ich zusammen, da mir klar wurde, wie eindringlich ich ihn angestarrt hatte. »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, daß ich hier sitze. Auf dieser Seite hier sind die besten Plätze. Ich habe dort hinten gesessen.« Er deutete mit einer Hand über seinen Kopf hinweg. »Zu meiner Linken saß ein alter Schnarcher, und zu meiner Rechten wand sich das Balg, das Sie jetzt in regelmäßigen Abständen kreischen hören. Ich hatte ein wachsames Auge auf diese Seite und hoffte, daß ein Platz frei würde. Nach ein paar Stunden an Bord dieser großen Jets werden die Leute immer unruhig und fangen an, >Reise nach Jerusalem< zu spielen. Ich wette, wenn man eine ernsthafte Studie anstellen würde, dann würde man herausfinden, daß auf dem durchschnittlichen Transatlantikflug nicht mehr als zehn Prozent der Passagiere auf den Plätzen ankommen, auf denen sie abflogen. Es war barmherzig von der Nonne, umzuziehen, bevor ich entweder dem Schnarcher einen Socken in den Mund gestopft oder dem Balg den Hals umgedreht hätte oder beides!«

Ich blickte ihn noch immer an, während ich gleichzeitig versuchte, mir eine ernsthafte Studie der »Reise nach Jerusalem« vorzustellen.

Er musterte mich einen Moment lang, und als er merkte, daß er kein Gespräch mit mir zustande brachte, wandte er sich ab und murmelte: »Hm. tja. Das hier ist wirklich eine der schwierigeren Denksportaufgaben.«

Ich lächelte ein wenig, als er das Rätselheft wieder aufnahm, und wandte meine Aufmerksamkeit der am Horizont aufziehenden Morgendämmerung zu. Sogleich kamen mir Erinnerungen an eine andere Morgendämmerung, während der ich aufgeblieben war, um Wache zu halten. Ich war damals achtzehn Jahre alt und saß am Erkerfenster unseres Wohnzimmers, von dem aus man auf einen taubedeckten Rasen hinabschaute. Meine ein Jahr jüngere Schwester Adele war nicht zu Hause. Sie hatte am Abend zuvor eine Verabredung gehabt und war noch nicht zurück. Meine Eltern und mein jüngerer Bruder, die das Wochenende in San Diego verbracht hatten, hätten eigentlich schon seit ein paar Stunden zu Hause sein müssen. So saß ich denn am Erkerfenster und sah hinaus auf die einsetzende Morgendämmerung und fragte mich, wo um alles in der Welt die anderen eigentlich blieben.

Und dann hatte es plötzlich an der Vordertür geklopft. Zwei Polizisten in Uniform waren davorgestanden. »Haben Sie schon mal eines gelöst?« Ich schnellte mit dem Kopf hoch. »Ein Logikrätsel. Haben Sie schon mal eines gelöst?«

»Puh, nein. Dazu habe ich nicht die nötige Geduld.«

»Ich weiß, was Sie meinen. An manchen hat man ganz schön hart zu beißen. Wie zum Beispiel an diesem hier.« Er lachte und schüttelte den Kopf. Und während er das Rätselheft frustriert in die Sitztasche vor sich stopfte, seufzte er: »Ich gebe auf.«

Zum ersten Mal seit unserem Abflug von Los Angeles war mir zum Lächeln zumute. Wer immer mein neuer, gesprächiger Sitznachbar auch war, er hatte eine sehr ungezwungene, natürliche Art. Ich musterte ihn erneut und achtete diesmal besonders auf die attraktiven grauen Augen und die sportliche Sonnenbräune. Er trug einen Straßenanzug, der nach dem mehrstündigen Transatlantikflug noch kaum verknittert war. Und überhaupt wirkte seine ganze Erscheinung erfrischend und nicht im geringsten mitgenommen, ganz so, als hätte er das Flugzeug eben erst bestiegen. Welch ein Gegensatz zu mir, stellte ich mit Bestürzung fest, mit meinem ungekämmten Haar, meiner verwischten Schminke und meinem ausgebeulten Kleid, auf dem noch dazu einige peinliche Flecken von Abendessen prangten. »John Treadwell«, stellte er sich plötzlich vor und streckte mir die Hand hin. Ich reichte ihm meine und erwiderte zögernd: »Lydia Harris.« Sein Händedruck war fest. »Soll ich Miss oder Missis zu Ihnen sagen?«

»Am besten etwas dazwischen.«

»Das habe ich mir fast gedacht.« Er lachte und schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß er sich geschlagen gab. John Treadwell hatte, wie es schien, die Fähigkeit, selbst eine Auster aus ihrer Muschel zu locken.

»Korrekterweise müßten Sie mich mit Miss anreden, aber so eng sehe ich das nicht.«

»Das ist gut. So ganz und gar emanzipierte Frauen jagen mir Angst ein, aber ein wenig Eigenständigkeit kann einer Frau nicht schaden. Darf ich Sie Lydia nennen und Sie fragen, was Sie beruflich machen?«

»Aber ja. Ich bin Krankenschwester.«

»Ah, dann machen Sie jetzt wohl eine Urlaubsreise?« »Eigentlich nicht. Ich fliege nach Rom, weil ich mich dort um. eine persönliche Angelegenheit kümmern muß.« Ich dachte an den Schakal, der in der Handtasche zwischen meinen Füßen schlummerte. »Eine Familiensache, so könnte man es nennen. Und was sind Sie von Beruf, Mr. Treadwell?«

»Börsenmakler.«

»Und wollen Sie in Rom Urlaub machen?«

»Nein, ich habe geschäftlich dort zu tun, doch ich werde zweifelsohne auch ein wenig Vergnügen mit einbauen können. Ich bin schon einmal dagewesen, und daher werde ich keine Zeit mit Herumirren verlieren wie das erste Mal. Ich werde im >Excelsior< wohnen. Wo werden Sie sich einquartieren?«

Nur leicht zögernd, antwortete ich: »Im Hotel Palazzo Residenziale.«

»Ah ja, auf dem Parioli-Hügel. Ein sehr hübsches Viertel mit vornehmer Nachbarschaft. Hat man Ihnen dieses Hotel im Reisebüro empfohlen?«

»Hm, nein. Meine Schwester wohnt dort und.« Meine Stimme wurde immer leiser.

»Verzeihen Sie, ich wollte nicht neugierig sein. Hören Sie, wenn Sie irgendwann einen freien Nachmittag haben, schauen Sie doch einfach mal bei mir vorbei. Ich würde mich freuen, Ihnen die Stadt zeigen zu dürfen. Für ein paar Lire können wir mit dem Bus durch die ganze Stadt fahren.«

Ich brummte zustimmend und begann wieder vor mich hin zu starren. Dann dachte ich an Adele und den Schakal und die Ungewißheiten des kommenden Tages. Und ich fragte mich, wann ich wohl aufwachen würde.

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