Kapitel 6.

Ich erwachte mit einem merkwürdigen Klingen in den Ohren und einem säuerlichen Geschmack im Mund. Als ich die Augen zögernd aufschlug, nahm ich zunächst nur verschwommene Farben und bizarre Formen wahr. Doch als ich langsam das Bewußtsein zurückerlangte, gewann ich auch allmählich wieder ein zusammenhängendes Bild von meiner Umgebung.

Bei dem Geräusch handelte es sich, wie ich entdeckte, um eine junge Frau, die mit einer hohen Stimme sprach. Die Farben und Gerüche sagten mir, daß ich mich in irgendeinem Zimmer befand, das ich jedoch nicht gleich erkannte. Der schauderhafte Geschmack rührte wohl von einer Arznei her. Ich muß bei der Einnahme eine Grimasse geschnitten haben, denn gleich darauf fing ein Mann, der dicht neben mir stand, an zu sprechen.

»Sie ist jetzt wach.« Eine Hand legte sich auf meinen Arm. »Lydia? Lydia, können Sie mich hören?«

Verwundert blickte ich auf John Treadwell. Was um alles in der Welt ging hier vor?

»Natürlich kann ich Sie hören.«

»Sie machen vielleicht Sachen! Aber wenn man Sie so hört, scheint es Ihnen wieder ganz gut zu gehen.«

Wieder ertönte die hohe, melodische Stimme der jungen Italienerin, die sich fürsorglich über mich beugte.

»Bei mir ist alles in Ordnung«, stöhnte ich, aber mir war gar nicht danach zumute. Ich spürte einen undefinierbaren Schmerz am Hinterkopf, und als ich mit den Fingerspitzen vorsichtig hintastete, entdeckte ich eine riesige Beule. Am ganzen Körper fühlte ich mich schwach und ausgelaugt. Im Magen war mir entsetzlich übel. Die Anzeichen eines Schocks waren leicht erkennbar. »Sie sind gestürzt, Lydia. Sie sind in Neros Goldenem Haus ausgerutscht und mit dem Kopf schlimm aufgeschlagen.«

»Oje!« Ich fühlte mich wahrhaftig elend. Mein Schädel dröhnte, und die stets nach traumatischen Unfällen einsetzende allgemeine Übelkeit hatte sich vollständig über meinen Körper ausgebreitet. In diesem Moment wünschte ich, ich hätte wieder ohnmächtig werden können. »Mein Kopf bringt mich fast um.«

»Arme Lydia. Sie haben eine riesengroße Beule. Wenn ich nur pünktlich gewesen wäre!«

Mit einer schlaffen Handbewegung winkte ich ab. »Ist ja nicht Ihre Schuld. Ich konnte es einfach nicht erwarten, Neros Geist zu begegnen. Und wie es scheint, bin ich ihm begegnet.« Mühsam versuchte ich mich aufzurichten, aber John wußte das zu verhindern. Er legte beide Hände auf meine Schultern und drückte mich sanft wieder hinunter, bis mein pochender Kopf auf dem Kissen zu liegen kam. »Ist mir vielleicht schlecht!«

»Der Arzt ist schon einmal bei Ihnen gewesen, und er kommt bald zurück. Bleiben Sie nur ruhig liegen, Lydia.«

»Arzt?« Jetzt endlich sah ich mich genauer um und stellte fest, daß ich allem Anschein nach in einem Untersuchungszimmer einer Krankenhaus-Notaufnahme auf einem Bettgestell lag, wo mir John Treadwell und eine italienische Krankenschwester mit einem Bärtchen Gesellschaft leisteten. Die Wände mit gelblichem Anstrich waren von Rissen durchzogen, das Mobiliar wurmstichig. Auf einem länglichen Tisch in der Nähe des Waschbeckens reihten sich die üblichen Utensilien einer Arztpraxis aneinander. An einer Wand hing ein verblichenes Bild von irgendeiner unbestimmbaren, von Katzen bevölkerten römischen Ruine, und in der Luft hing der typische schwere Krankenhausgeruch.

Es konnte sich vielleicht nicht mit der Notaufnahme des Santa-Monica-Krankenhauses messen, aber es erfüllte durchaus seinen Zweck. Als der Doktor zurückkam, stellte ich erleichtert fest, daß er ausgezeichnet Englisch sprach und eine Vorstellung davon besaß, worauf bei Schädelverletzungen zu achten war. Er unterhielt sich mit mir in dem international üblichen Fachvokabular über meinen Zustand - nachdem ich ihm meinen Beruf verraten hatte -, und unterzog mich dann einer gründlichen neurologischen Untersuchung. Soweit keine Hirnschädigung. Obgleich ich das Gefühl hatte, mein Hinterkopf müßte jeden Augenblick zerspringen, war ich vor einer Gehirnerschütterung oder subduralen Blutergüssen ziemlich sicher. Dafür war ich sehr dankbar.

Er wollte noch weitere Tests an mir durchführen, doch an dieser Stelle weigerte ich mich. Ich erklärte, daß ich genau wisse, auf welche Anzeichen für Gefahr ich achtgeben müsse, und daß ich mich wieder an ihn wenden würde, wenn sich mein Zustand veränderte. Von dieser Versicherung nur wenig beschwichtigt, verlangte der Arzt, ich solle verschiedene Formulare unterschreiben, welche ihn und die Klinik von jeder weiteren Verantwortung entbanden, da ich das Krankenhaus entgegen ärztlichem Rat verließ.

Ich leistete gerne die erforderlichen Unterschriften, denn -obgleich mir speiübel war - hatte ich es trotzdem eilig, aus dem Krankenhaus heraus - und wieder ins Hotel Palazzo Residenziale zu kommen. John wollte mich nur ungern in seine Obhut nehmen und ergriff Partei für den Vorschlag des Doktors, wonach ich im Krankenhaus bleiben solle. Doch mein eigener starker Wille setzte sich letztendlich durch. So miserabel ich mich auch fühlte, ich hatte meine mentalen Fähigkeiten noch immer sehr gut im Griff, ja es wurde mit jeder Minute besser. Als mir die Formulare zur Unterschrift vorgelegt wurden, ging mir bereits ein weiterer erschreckender

Gedanke durch den Kopf. Jemand hatte mich in der Domus Aurea absichtlich niedergeschlagen. Mit großer Entschlossenheit schlüpfte ich in meine Schuhe und stützte mich schwer auf Johns Arm. Meine Berufserfahrung sagte mir, daß das Hämmern in meinem Schädel überwacht werden sollte und daß ein paar Stunden unter ärztlicher Aufsicht die klügere Entscheidung wären. Doch eine Mischung aus Angst und Wut machte mich unvernünftig genug, daß es mich mit aller Macht danach verlangte, ins Hotel zurückzukehren, um mir in Ruhe über diese neueste Wendung der Ereignisse klarzuwerden.

Immerhin war mein »Unfall« in Wirklichkeit gar kein Unfall. Jemand hatte mich aus einem bestimmten Grund bewußtlos geschlagen. Ich hatte die Absicht herauszufinden, wer es getan hatte und - noch wichtiger - warum.

Als wir im Taxi über die antike Brücke ratterten, weg von der Tiberinsel, auf der sich das Krankenhaus befand, äußerte ich genau diese Gedanken John gegenüber. Er verhielt sich erwartungsgemäß zurückhaltend.

»Ich will Ihnen einen gewissen Sinn für Romantik ja nicht zum Vorwurf machen, Lydia, aber die Theorie, die Sie mir da vortragen, kann ich nun ganz und gar nicht gelten lassen. Ich meine, die Domus Aurea ist in der Tat ein etwas unheimlicher Ort und beflügelt jegliche Art von Phantasien. Wenn man durch die dunklen Räume geht und dabei einer Spukgeschichte über Neros rastloses Treiben lauscht, könnte es.«

»John«, unterbrach ich ihn. »Sie müssen mir einfach glauben. Eben hatte ich mich noch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bei der Besichtigungsgruppe befunden, und im nächsten Augenblick lag ich am Boden mit einer Beule am Kopf, dort, wo jemand mir einen Schlag verpaßt hatte.«

Er sah mir eindringlich in die Augen. »Also gut, wenn Sie darauf beharren, wer war es aber dann und warum? Warum, Lydia?«

»Ich weiß es nicht.« Ich dachte an Achmed Raschid und beschloß, John nichts von ihm zu erzählen. Jedenfalls jetzt noch nicht. »Irgendwie hat es meine Schwester fertiggebracht, mich in irgendeine Affäre zu verwickeln, die mir überhaupt nicht gefällt. Ich werde nicht davonlaufen, und ich werde es nicht auf sich beruhen lassen. Vielleicht rede ich sonst viel dummes Zeug, aber das im Domus Aurea war bestimmt kein Unfall.«

Ich preßte meine Wange gegen die Fensterscheibe des Taxis und schaute hinaus, wie das ocker- und rosefarbene Rom an mir vorbeizog. Durch das Klingeln in meinen Ohren hindurch hörte ich die freundliche Stimme von Dr. Kellerman, die sagte: »Und wer sonst reicht mir das Nahtmaterial in so hübschen, wirren Knäueln wie Sie?« Gerade jetzt hatte ich seinen Rat und seine Gesellschaft dringend nötig gehabt. Allein seine Anwesenheit hätte mir alles in Ordnung erscheinen lassen. Aber Dr. Kellerman befand sich zehntausend Kilometer entfernt in einer anderen Welt. Er war im Santa-Monica und arbeitete ruhig in einem kühlen Operationssaal, während ich mit einem hämmernden Kopf durch Rom ratterte. »Lydia?«

Ich schaute zu John auf. Er hatte die ganze Zeit geredet, doch ich hatte kein Wort verstanden. »Tut mir leid.«

»Versprechen Sie mir, daß Sie heute nachmittag in Ihrem Hotelzimmer bleiben. Legen Sie sich hin und schonen Sie sich. Mit Kopfverletzungen ist nicht zu spaßen.«

»Ich weiß. Ich bin ja schließlich Krankenschwester, erinnern Sie sich? Wenn sich bei mir irgendwelche Symptome zeigen, gehe ich zurück ins Krankenhaus. Aber bis dahin habe ich Dringlicheres zu tun.«

»Seien Sie doch bloß nicht so unvernünftig, Lydia!« Da mußte ich lachen. »Sie kennen mich nicht sehr gut, John Treadwell. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine unvernünftige Handlung begangen.«

»Das kann ich nicht beurteilen. Nach dem zu schließen, was Sie mir erzählen, haben Sie jedenfalls in den letzten paar Tagen nicht ein einziges Mal vernünftig gehandelt.« Ich starrte ihn verblüfft an. Er hatte recht.

Im Hotel Palazzo Residenziale angelangt, lief ich als erstes an die Rezeption und erkundigte mich wie üblich nach einem Lebenszeichen von Adele, erhielt aber wieder eine abschlägige Antwort. Dann verabschiedete ich mich in der Empfangshalle von John. »Ich lasse Sie gar nicht gerne allein, Lydia.«

»Ist schon in Ordnung.« Mein Kopf pochte so heftig, daß ich sicher war, jeder müßte es hören. »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen. Zuerst werde ich einem Freund daheim einen Brief schreiben.« Meine Stimme wurde schwächer, als ich Dr. Kellerman wieder vor mir sah. »Vielleicht rufe ich ihn auch einfach nur an. Dann lege ich mich für eine Weile aufs Ohr.«

»Ich komme gegen acht Uhr zum Abendessen zurück. Abgemacht?«

»Bitte, kommen Sie zurück, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust habe zu essen.«

Als ich mich zum Gehen wandte, legte er mir eine Hand auf den Arm und meinte leise: »Sie glauben zu wissen, was es mit Adele und diesem Schakal auf sich hat, aber Sie trauen mir nicht genug, um mir davon zu erzählen.«

Seine Worte überraschten mich. »Zunächst einmal, John, habe ich keine Ahnung, was mit Adele und diesem Schakal vor sich geht, und kann mir auch nicht den geringsten Reim darauf machen. Zweitens traue ich Ihnen durchaus, andernfalls hätte ich Ihnen nicht so viel erzählt. Und drittens behalte ich nur deshalb jegliche Gedanken, die ich mir über dieses Rätsel mache, für mich, weil ich Sie nicht in dieses absurde

Melodram verwickeln will, in das Sie so unschuldig hineingeschlittert sind. Ich will Ihnen gegenüber fair sein, John.«

»Wenn Sie mir gegenüber fair sein wollen, Lydia, dann lassen Sie es zu, daß ich Ihnen, so gut ich kann, helfe. Sie denken, jemand hat es darauf angelegt, Ihnen zu schaden, und vielleicht haben Sie recht. Wenn dies aber der Fall ist, brauchen Sie Schutz.«

»Ich bin sicher, solange ich in diesem Hotel bin. Danke, daß Sie sich um mich sorgen. Ich weiß das zu schätzen. Aber im Augenblick möchte ich eine Weile allein sein. Lassen Sie mich zwei Aspirin nehmen und richtig ausschlafen. Später, wenn meine Gedanken wieder klarer sind, erzähle ich Ihnen genau, was ich denke. Aber jetzt.« Ich seufzte tief. »Jetzt fühle ich mich elend.«

Mit einem widerwilligen Achselzucken legte er mir die Hände auf die Schultern und schaute mir tief in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich, Dr. Kellerman stünde vor mir. Dann lächelte ich John dankbar an, und er gab mir einen Abschiedskuß. Mit den größten Befürchtungen fuhr ich zu meiner Suite hinauf. Es war nicht die Angst vor einem erneuten tätlichen Angriff, die mich in diesen Gemütszustand versetzte, sondern vielmehr der nervenaufreibende Argwohn, mit dem ich mich fragte, was ich auf der anderen Seite meiner Tür wohl vorfinden würde. Leider behielt ich recht. Was ich vermutet hatte, war tatsächlich eingetreten, und die Spuren davon waren so bedrückend augenfällig, daß ich am liebsten geheult hätte.

Mein Zimmer war durchsucht worden.

Es war hier nicht so ordentlich vorgegangen worden wie daheim in meinem Appartement in Malibu, und man konnte augenblicklich erkennen, was geschehen war. Einige Schubladen waren nicht ganz geschlossen. Ein Wandschrank stand offen. Mein Koffer stand nicht mehr aufrecht, sondern lag flach am Boden. Sogar das Bett war hastig durch wühlt worden. Und die Bilder hingen ein wenig schief. Ich stand sprachlos mit dröhnendem Kopf im Türrahmen und fühlte mich auf einmal ganz hilflos. In der Domus Aurea hatte mich einer dieser fünf Touristen durch einen Schlag ohnmächtig gemacht, um sich selbst oder einem Komplizen Zeit zu geben, meine Habe nach dem Schakal zu durchsuchen.

Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis kam mir eine weitere: Sie würden wahrscheinlich vor nichts zurückschrecken, um den Schakal zu bekommen.

Ich schlenderte zu dem Vorhang, hinter dem sich die Tür befand, die auf den Balkon führte, und griff mit beiden Händen danach, als wollte ich ihn aufziehen. Dabei hob ich vorsichtig den Fuß und tippte mit einer Zehe gegen den Saum des Vorhangs. Ich fühlte einen harten Gegenstand. Der Schakal befand sich noch immer in Sicherheit. Der Platz im Vorhangsaum war also eine kluge Wahl gewesen. Ich war jetzt froh, daß ich sein Versteck geändert hatte. Zumindest für eine Zeitlang gehörte der Schakal noch mir.

Dies bedeutete jedoch auch, daß ich weiterhin in Gefahr schwebte. Ich zog die Vorhänge auseinander, starrte durch die Glastür auf das gegenüberliegende Wohnhaus. Ich stand vor der Alternative - entweder überließ ich den Schakal irgendwem und kehrte unversehrt nach Hause zu meinem ruhigen Leben und zu Dr. Kellerman zurück, oder ich behielt ihn hartnäckig, bis Adele und mir wegen seines Besitzes irgend etwas zustieß. Eine leicht zu treffende Entscheidung. »Wie fühlen Sie sich, Miss Harris?« Ich hielt den Atem an und fuhr herum. Achmed Raschid stand im offenen Türrahmen und wippte gelassen auf der Schwelle. »Warum fragen Sie das?« Ich legte eine Hand auf meine Brust, als wollte ich mein rasendes Herz beruhigen.

»Ich habe zufällig einen Anruf mitbekommen, den das Hotel vom Krankenhaus auf der Tiberinsel erhielt. Ich erkundigte mich nach Ihrem Befinden und erfuhr von dem Unfall, den Sie erlitten haben. Die Domus Aurea ist ein gefährlicher Ort für den Besucher, der ihre Tücken nicht kennt. Unebene Fußböden, niedrige Decken.«

»Ja, es war dumm von mir.«

Als wir einander durch den Raum hindurch musterten, fiel mir auf, daß ich zum erstenmal sein Gesicht sehen konnte. Er hatte die Sonnenbrille abgesetzt, und darunter zeigten sich große, ausdrucksvolle Augen und dichte, schwarze Wimpern, die seinem Blick eine beunruhigende Note verliehen. Achmed Raschid hatte eine Art, durch einen Menschen hindurch zu sehen, als wäre er imstande, einen mit seinen morgenländischen Blicken zu durchbohren.

Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn und stellte fest, daß ich schwitzte. Mein Hinterkopf fühlte sich, als wolle er zerspringen, und das schmerzhafte Pochen verursachte mir eine zunehmende Übelkeit. Indessen hielt ich dem Blick des Arabers stand und starrte unerschrocken zurück.

»Haben Sie Ihre Schwester gefunden?«

Ich wollte schon sagen: »Sie wissen doch genau, daß ich sie nicht gefunden habe.« Statt dessen antwortete ich nur: »Nein.«

»Das ist bedauerlich. Ich fürchte, Ihr Aufenthalt in Rom ist von unglücklichen Umständen begleitet. Ich wünschte, ich könnte Ihnen behilflich sein.«

»Das können Sie, wenn Sie jetzt gehen«, entgegnete ich grob. »Ich fühle mich überhaupt nicht wohl.« Ziemlich verwegen schritt ich durchs Zimmer und ergriff mit klammer Hand die Türklinke. Da ich erkannte, daß mir gleich fürchterlich schlecht würde, wollte ich diesen Mann um jeden Preis so schnell wie möglich loswerden. »Sie sehen nicht gut aus«, vernahm ich seine Stimme unter dem Hämmern in meinem

Kopf. »Sie sind ganz weiß, Miss Harris. Miss Harris?« Ich sah, wie er seine dunkelbraune Hand nach mir ausstreckte und mich am Arm packte. »Können Sie mich hören?«

»Mir geht’s gleich wieder g.« Dann gaben meine Beine nach. Schon erwartete ich, mit dem Gesicht auf den Fußboden aufzuschlagen, da spürte ich plötzlich zwei starke Arme um meine Taille, und wie durch Zauberhand wurde ich von der Tür weg befördert. Während das Zimmer um mich her vor meinen Augen verschwamm, spürte ich, wie ich mit etwas erhöht plazierten Füßen auf die Couch gelegt und eine Decke über mich gebreitet wurde. Im nächsten Augenblick war der Ohnmachtsanfall vorüber, und ich schaute beim Aufblicken in die großen Augen von Achmed Raschid.

»Es tut mir leid«, sagte ich und empfand, obgleich es mir widerstrebte, eine gewisse Dankbarkeit dafür, daß er dagewesen war, um mir zu helfen.

»Ich weiß, was in der Domus Aurea passiert ist, Miss Harris, und ich denke, im Krankenhaus wären Sie besser aufgehoben. Als Krankenschwester sollten Sie dies eigentlich erkennen.« Ich versuchte, den Kopf zu heben, aber ich konnte es nicht. Die Übelkeit war vorüber, doch das Pochen war nach wie vor genauso stark. »Was soll das heißen, Sie wissen, was passiert ist? Und woher wissen Sie überhaupt, daß ich Krankenschwester bin?« Er reagierte mit einem entschuldigenden Schulterzucken. »Ich weiß eine Menge über Sie, Miss Harris, ebenso wie über Ihre Schwester. Und ich weiß auch, warum Sie nach ihr suchen.«

»Was?«

»Sie sehen, ich weiß auch über den Schakal Bescheid.« Nachdem er mich auf der Couch gebettet hatte, hatte Achmed Raschid die Rezeption verständigt und Hilfe verlangt, so daß gleich darauf eine Angestellte an meiner Tür klopfte. Sie brachte ein Tablett mit Tee und Brötchen und eine zusätzliche

Decke. In einem, wie mir schien, ausgezeichneten Italienisch wies Mr. Raschid die Frau an, einmal stündlich nach mir zu sehen, und bat sie, die Hotelleitung über meinen Zustand auf dem laufenden zu halten. Mehr als zuvorkommend, versicherte mir die Frau nochmals in schnellem Italienisch, daß man sich besonders um mich kümmern wolle.

»Es sind gastfreundliche Leute«, urteilte Mr. Raschid, nachdem sie gegangen war. Er saß in einem Sessel neben meinem Bett und beobachtete mich genau.

»Sie selbst sind auch sehr hilfsbereit, Mr. Raschid, aber Sie machen zuviel Aufhebens von der Geschichte.«

»Meinen Sie?« Ich gab keine Antwort. Ich trank den Tee, der köstlich schmeckte, und nahm vier Aspirin, die alsbald zu wirken begannen. Aber eines mußte ich wissen.

»Wer sind Sie, Mr. Raschid?«

Zum erstenmal lächelte er und wirkte sehr einnehmend dabei. »Ich bin einfach Achmed Raschid.«

»Ganz so einfach ist es wohl doch nicht. Wissen Sie, wo meine Schwester ist?«

»Leider nein.«

»Sagten Sie eben etwas von einem Schakal?«

Wieder lächelte er, und dieses einfache Lächeln vertrieb alles Mysteriöse aus seinem Gesicht. Obgleich ich es nur widerstrebend zugab, mußte ich mir selbst eingestehen, daß dieser Fremde ungemein interessant war. »Sie drücken sich mit kluger Vorsicht aus, Miss Harris. Ich beziehe mich auf den Elfenbein-Schakal, den Ihre Schwester Ihnen in einem Päckchen schickte und den Sie, wie ich glaube, mit nach Rom gebracht haben.«

Ich biß mir auf die Unterlippe. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Natürlich nicht.« Er stand nun auf und fuhr in einem schnoddrigen Ton fort: »Nicht ich habe Sie in der Domus

Aurea niedergeschlagen, und ebensowenig war ich derjenige, der Ihr Zimmer durchsucht hat. Doch ich erwarte nicht, daß Sie mir dies glauben oder mir vertrauen. Wenn Sie es täten, würde ich Sie für eine Närrin halten, was Sie nicht sind.«

»Wo ist meine Schwester, Mr. Raschid?«

»Ich wünschte wahrhaftig, ich wüßte es. Ruhen Sie sich nun aus, Miss Harris. Vielleicht können wir uns später unterhalten.«

»Ich wüßte nicht, worüber wir uns unterhalten sollten. Außerdem habe ich hier in Rom einen Freund, und seine Hilfe wird mir vollauf genügen.«

»Natürlich. Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser. Inscha’allah. Auf Wiedersehen.«

Ich wartete, bis seine Schritte auf dem Steinfußboden im Hotelflur verhallt waren, dann schlich ich vorsichtig zur Tür und verriegelte sie. Die Aufregungen dieses Tages hatten mir schwer zugesetzt. Mit letzter Kraft schleppte ich mich zur Couch zurück und brach darauf zusammen. Meine Gedanken waren wirr, meine ganze Gemütsverfassung ziemlich erschüttert. Die Ruhe und Sicherheit, die mir mein Zuhause und meine wenigen Freunde gaben, schienen so weit entfernt zu sein wie der Mond. Und fast ebenso unerreichbar. Adele hatte sich in irgendeine gefährliche Angelegenheit hineinmanövriert und in ihrer wirklichkeitsfremden Art auch mich mit hineingezogen. Auf einmal hatte ich da einen Gegenstand in meinem Besitz, dessen Wert ich nicht ermessen konnte, einen Gegenstand, den mindestens eine, wenn nicht gar mehrere Personen in ihren Besitz bringen wollten und dessentwegen ich nun um mein Leben bangen mußte. Dies waren meine letzten Gedanken, ehe mich auf der Couch der Schlaf übermannte. Mehrere Stunden hatte ich tief und fest geschlafen, bis ich von einem Klopfen an der Tür geweckt wurde. Die Nachmittagssonne warf lange Schatten über den

Fußboden, und etwas verwirrt schleppte ich mich zur Tür und preßte meine Wange dagegen. »Wer ist da?« fragte ich.

Die Stimme der Hotelangestellten antwortete: »Scusi,

signorina. Una lettera.«

»Wie bitte?«

»Non capisco, signorina.«

»Na, macht nichts.« Ich fummelte an dem Schloß herum und öffnete die Tür einen Spalt weit. Nun reichte sie mir einen Briefumschlag und fragte: »Como sta?«

»Mir geht’s blendend, danke.«

Ich verriegelte die Tür und lehnte mich seufzend dagegen, während ich benommen auf den Brief starrte. Ich war noch nicht ganz wach und spürte die Kopfschmerzen abermals heraufziehen. So war ich keineswegs in der Verfassung, die unerwartete Post eingehend unter die Lupe zu nehmen. Ein paar bunte Briefmarken klebten schief auf einem leichten Luftpost-Umschlag, und mein Name und die Adresse des Hotels waren in einer vertrauten Handschrift daraufgeschrieben. Noch immer nur halbwach, riß ich den Umschlag auf und entfaltete das einzige dünne Blatt Papier, das mit einem Briefkopf sowohl in arabischer als auch in englischer Sprache versehen war: »Shepheard’s Hotel«.

Darunter hatte dieselbe Hand eine eilige Notiz an mich gekritzelt. Sie lautete schlicht:

Lyddie, Du mußt mir sofort nach Kairo nachkommen. Ich werde in diesem Hotel sein. Werde alles erklären, sobald Du hier eintriffst. Beeil dich!

Adele

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