Kapitel 4.

Ich spürte, wie das Flugzeug langsam an Höhe verlor, und durch einen Blick auf die Uhr stellte ich mit großer Erleichterung fest, daß wir schon bald auf dem Flughafen Leonardo da Vinci landen würden. John Treadwell fing eine belanglose Plauderei mit mir an, erzählte etwas über eine spanische Treppe und Lederhandschuhe, aber ich hörte nicht zu. Während ich eine höfliche Miene aufsetzte, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf.

Nachdem die Maschine auf italienischem Boden endgültig zum Stillstand gekommen war und die Stewardeß sich in vier Sprachen bei uns bedankt hatte, packte ich meine Handtasche und meinen Mantel mit demonstrativer Entschlossenheit und folgte John Treadwell zum Terminal. Als wir zusammen durch die Zollabfertigung gingen, bot er mir an, sein Taxi mit mir zu teilen, ein Vorschlag, der mich in gewisser Weise erleichterte, denn bei dem Gedanken, aufs Geratewohl in die Stadt zu fahren, wurde mir ein wenig angst. Während der zwanzig Kilometer langen Fahrt vom internationalen Flughafen - der nahe der Tibermündung liegt - wechselten John Treadwell und ich kaum ein Wort. Wir schauten beide aus dem Fenster und betrachteten die herrliche Landschaft, die an uns vorüberzog, als wir auf der Autobahn dahinrasten. Unser Fahrer war ein redseliger, kleiner Mann, der an anderen Autos vorbeiraste, ständig rote Ampeln überfuhr und uns von den Kochkünsten seiner Schwester erzählte. John erklärte mir, daß mein Hotel nicht innerhalb der Stadtmauern liege, was mir nichts sagte, aber daß es sich trotzdem in einem guten Wohnviertel befinde. Er wies unseren Fahrer an, mich zuerst abzusetzen, und meinte dann: »In diesem Viertel sind die Busverbindungen sehr gut, weil es wohlhabend ist. Und wenn Sie zu Fuß gehen wollen, dann brauchen Sie auch nicht lang, um zu den Stadtmauern zu gelangen.«

»Was ist innerhalb der Stadtmauern?«

»Rom natürlich. Ah, da sind wir ja schon.«

Nachdem wir durch viele gewundene, enge Straßen gefahren waren, an denen entzückende, vornehme Herrenhäuser lagen, bog das Taxi in die Via Archimede ein und hielt schließlich vor dem Hotel Palazzo Residenziale. Die Außenansicht war nicht besonders eindrucksvoll. Eher schlicht und im Stil zu den umgebenden Wohnhäusern passend, hob es sich einzig durch das angrenzende Kino hervor, das angeblich amerikanische Filme zeigte.

Als ich auf dem Zähler sah, daß wir dem Fahrer an die sechzigtausend Lire schuldeten - und ich hastig nachrechnete, daß dies in etwa dreißig Dollar waren -, versuchte ich, John Treadwell meinen Anteil aufzudrängen. Doch er wollte das Geld nicht annehmen.

»Ich werde Sie zurückzahlen lassen, indem Sie mich heute oder morgen auf einer Rundfahrt durch die Stadt begleiten. Sie und Ihre Schwester. Ist das ein Wort?«

»Ich denke, das wäre schön, Mr. Treadwell.«

»Nennen Sie mich John.« Er lehnte sich grinsend aus dem Taxifenster. »Wir Amerikaner müssen doch zusammenhalten. Abgemacht?«

»Abgemacht. Und vielen Dank.«

Ich beobachtete, wie das Taxi die Straße hinunterratterte und hinter einer Biegung verschwand. Dann wandte ich mich dem Hotel zu. Seine Fassade wirkte einladend, die Umgebung war sehr friedvoll. Da gab es kein ständiges Hinein- und Hinauslaufen durch die Doppelglastüren, kein hektischer Portier mühte sich mit ungeduldigen Touristen ab, keine Flut von Taxis staute sich am Bordstein. Anders als das übliche geschäftige Hauptstadt-Hotel war das Palazzo Residenziale die Art von ruhigem Zufluchtsort, den auch ich mir vielleicht für mich selbst ausgesucht hätte. Doch es war gewiß nicht nach Adeles Geschmack.

Adele. Mein Herz fing an zu rasen. Sie hatte sicherlich mein Telegramm erhalten und wartete drinnen auf mich. Würden wir nach vier Jahren Trennung noch wie Schwestern oder wie Fremde sein? Würde es Momente peinlicher Stille geben, oder würden die Worte nur so aus uns heraussprudeln? Wie seltsam, daß ich mich nun nach so langer Zeit und unter diesen Umständen wieder mit ihr treffen sollte.

Ich trat ein. Die Eingangshalle war dunkel und schmucklos, der Teppich ein wenig abgenutzt und die Pflanzen staubig, doch es erweckte noch immer einen gewissen Anschein von Eleganz, der von besseren Tagen zeugte. Auf einer staffeleiartigen Bekanntmachungstafel stand eine Mitteilung in japanischen Schriftzeichen, die, wie ich annahm, die geplanten Programmpunkte für eine Reisegruppe auflistete. Über der Bekanntmachung stand in lateinischen Buchstaben: Takahashi Tours, Kyoto.

Ein paar Leute standen an der Rezeption herum. Alles Japaner. Mit weißen Matrosenhüten und schweren Kameras hatten sie sich, vergnügt plappernd, um einen Postkartenständer geschart. Doch Adele war nicht da. Ich wand mich an ihnen vorbei und näherte mich dem Empfangschef.

»Verzeihung, sprechen Sie Englisch?«

»Ja, Madam.« Er bedachte mich mit einem bezaubernden Lächeln. »Oh, Gott sei Dank! Ob Sie mir wohl weiterhelfen könnten? Ich suche meine Schwester, Adele Harris, die bis vor zwei oder drei Tagen hier im Hotel gewohnt hat. Es ist möglich, daß sie noch hier eingetragen ist und daß sie eine

Nachricht für mich hinterlassen hat. Mein Name ist Lydia Harris. Würden Sie bitte nachsehen?«

»Sind Sie Amerikanerin?« fragte er. Ich nickte lebhaft.

»Unter unseren Gästen sind heute gar keine Amerikaner, Madam. Zur Zeit haben wir wenige Touristen in Rom. Es ist ein sehr schlechtes Jahr. Die wohnen innerhalb der Stadtmauern, möglichst nahe beim Forum Romanum. Hier haben wir hauptsächlich Reisegruppen. Letzte Woche hatten wir Air France, heute haben wir Japan. Am Donnerstag kommen Deutsche. Aber keine Amerikaner.«

»Meine Schwester gehörte nicht zu einer Gruppe. Sie reist allein. Aber es ist gut möglich, daß sie vor zwei Tagen abgefahren ist. Könnten Sie das bitte einmal überprüfen?«

»Selbstverständlich.« Er wandte sich einen Augenblick ab und sah in einem großen Buch nach. Gleich darauf meinte er: »Es tut mir leid, aber Miss Harris ist nicht eingetragen.«

»Ach je«, seufzte ich, »das habe ich fast befürchtet. Dann ist sie also wirklich abgereist. Sind Sie sicher, daß sie keine Nachsendeadresse hinterließ? Ich muß sie unbedingt erreichen.«

Der Mann schien völlig verwirrt zu sein. »Aber der Name ist mir nicht geläufig. Wann, sagen Sie, war sie hier?«

»Bis vor zwei oder drei Tagen. Sie meldete von diesem Hotel ein Ferngespräch nach Amerika an. Daher weiß ich, daß sie hier war. Ich schickte ihr auch ein Telegramm. Sie muß es bekommen haben. Wenn Sie nun bitte unter ihrem Namen nachschlagen und nachsehen würden, ob sie irgendeine Nachricht für Lydia Harris hinterlassen hat.«

»Ich erinnere mich nicht an diesen Namen, Madam, aber ich werde gerne für Sie nachfragen. Entschuldigen Sie mich bitte.« Irgend etwas stimmte nicht. Das Verhalten des Mannes oder möglicherweise das unbestimmte Gefühl, das wir Eingebung nennen, ließ im hintersten Winkel meines Verstandes ein

Warnsignal ertönen. Aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht, warum, erwartete ich nicht, daß der Mann mit guten Neuigkeiten von Adele zurückkäme. Ich behielt recht.

»Ich bedaure, Madam, aber eine Miss Adele Harris war in unserem Hotel nie angemeldet. Vielleicht in einem anderen Hotel in Rom.«

»Es war das Palazzo Residenziale«, beharrte ich ruhig. »Sehr wahrscheinlich sprach sie mit mir von dieser Empfangshalle aus. Ich weiß ganz genau, daß sie hier war, denn sie schickte mir ein Päckchen mit der Adresse dieses Hotels als Absender. Ich möchte, daß Sie noch einmal nachsehen, bitte, und diesmal ein wenig gründlicher.« Der Mann war durch mein Auftreten nicht im geringsten beunruhigt. »Gewiß, Madam, entschuldigen Sie mich.« Diesmal verschwand er, und während ich mich mit einem Ellbogen auf den Tresen stützte, blickte ich wieder prüfend in die Empfangshalle. Die japanische Reisegruppe wurde größer - man sammelte sich zweifellos für eine Besichtigungstour. Aus dem nahen Speisesaal hörte ich das Klappern von Geschirr und die angeregte Unterhaltung von späten Frühstücksgästen. In dem geräumigen Aufenthaltsraum, der an die Empfangshalle grenzte und mit weich gepolsterten Sesseln und Sofas ausgestattet war, schrieben ein paar Touristen Briefe. An den Wänden hingen breite, reichverzierte Spiegel und alte Stiche von römischen Ausgrabungsstätten.

Dann blieben meine Augen an ihm haften. Ich weiß nicht, was es war, aber irgend etwas an ihm fesselte meine Aufmerksamkeit. Nur wenig größer als ich und gut gekleidet, war er dunkelhäutiger als die meisten Italiener und trug eine riesige Sonnenbrille, die den größten Teil seines Gesichts verdeckte. Er lehnte sich müßig gegen die Wand und las eine italienische Zeitung. Ich konnte gar nicht begreifen, warum ausgerechnet dieser Mann meine Aufmerksamkeit so sehr auf sich zog. Aber wenn ich versuchte wegzusehen und ihn nicht mehr zu beachten, drehte sich mein Kopf unwillkürlich doch wieder in seine Richtung.

»Es tut mir leid, Madam«, ließ sich der italienische Empfangschef mit großem Bedauern im Blick vernehmen. »Ich habe das Gästebuch eingehend studiert. Ich bin sogar zwei Monate zurückgegangen, aber eine Adele Harris hat niemals in unserem Hotel gewohnt.« Ich starrte den Mann ungläubig an. »Aber das ist doch unmöglich!« rief ich aus. »Ich weiß, daß sie hier war!« Er hob hilflos die Arme und zeigte seine Handflächen.

»Hören Sie zu. Ich rief eben dieses Hotel vor zwei Tagen an. Es war nach Mitternacht, und ich sprach mit jemandem an genau dieser Rezeption hier. Und diese Person teilte mir mit, Adele habe ihre Rechnung bezahlt und sei abgereist.« Er zuckte die Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

»Vielleicht war sie unter einem anderen Namen hier. Vielleicht.«

»Madam, bitte. Es gibt keine Amerikaner in diesem Hotel. Es waren schon lange keine mehr hier. Sie steigen im Hilton oder im Holiday Inn ab. Die Geschäfte gehen derzeit schlecht in Rom. In den letzten drei Monaten hatten wir wenige Einzeltouristen, immer nur Gruppen. Ich kenne sie, ich sehe sie doch. Ich sehe alle Gäste.« Über die Maßen aufgebracht, seufzte ich und trat einen Schritt zurück. Es war klar, daß ich nirgendwo hingehen würde. »Warum wurde mir dann am Telefon gesagt, sie habe ihre Rechnung bezahlt? Wer macht den Nachtdienst am Empfang?«

»Luigi Baroni.«

»Gut, kann ich ihn sprechen?«

»Er kommt erst heute abend, Madam.«

»Na großartig.« Ich schaute mich in der Empfangshalle um. Die Japaner waren gegangen, aber der Fremde mit der Zeitung stand noch immer da. Ich hatte bei seinem Anblick ein eigenartiges Gefühl, das ich einfach nicht los wurde. »In diesem Fall, schätze ich, werde ich wohl ein Zimmer nehmen müssen. Sie haben doch sicher eines mit einem eigenen Bad, oder?«

»Natürlich, Madam.«

Als ich mich eintrug und im voraus bezahlte, ließ ich meinen Ärger ein wenig abklingen und kam zu dem Schluß, daß es wohl eine ganz einfache Erklärung für dies alles gab. Ich würde jetzt einfach ein Nickerchen machen, duschen, im Speisesaal essen und Luigi Baroni heute abend mit dem Tod drohen, falls er mir nicht sagen wollte, wo Adele sei. Der Empfangschef schlug leicht gegen eine Glocke, und ein Gepäckträger in rot-weiß gestreifter Schürze ergriff meinen einzigen Koffer. »Prego«, sagte er, indem er mir bedeutete, daß ich vorangehen solle. Als ich an ihm vorbeiging, warf ich einen raschen Blick über meine Schulter.

Der Mann mit der Zeitung war verschwunden. Nach einer riskanten Fahrt in einem telefonzellengroßen Aufzug und einer kurzen Besichtigung meiner riesigen Suite legte ich mich auf dem Bett zurück, um seinen Komfort zu testen, und schlief augenblicklich ein.

Sechs Stunden später, während denen ich mindestens drei merkwürdige Träume gehabt hatte, erwachte ich und wußte erst gar nicht recht, wo ich war. Als ich mich dann erinnerte, verfluchte ich die Rückenschmerzen, die ich mir zugezogen hatte, weil ich die ganze Zeit in derselben Lage geschlafen hatte. Nichtsdestoweniger war ich erfrischt und fühlte mich nun ein wenig mehr gegen die Unbilden meiner neuen Umgebung gefeit. Schnell fand ich heraus, daß mein Zimmer eigentlich gar kein Zimmer war, sondern eine Wohnung, die sorgfältig mit antiken Möbelstücken, alten Teppichen und den überall im Hotel hängenden faszinierenden Stichen ausgestattet war. Meine Unterkunft überraschte mich. Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Durch Jalousientüren betrat man einen großzügigen Balkon, der einen herrlichen Blick auf das benachbarte Wohnhaus bot. Lächelnd blickte ich von der Balkonbrüstung hinunter auf den Garten und stellte fest, daß ich sogar die Stadt Rom sehen könnte, wenn mein Zimmer noch eins weiter um die Ecke läge. Doch auch jetzt faszinierte mich das vor mir liegende Panorama, denn hier gab es in Fülle, was ich später als ein ganz gewöhnliches, charakteristisches Merkmal von Rom kennenlernen sollte: rotbraune Wohnblocks mit einem Balkon vor jedem Fenster und Topfpflanzen auf jeder verfügbaren Fläche. Darunter wucherte in engen, kleinen Gärtchen wildes Gesträuch, in dem sich da und dort ein paar Blumen verbargen. Von jedem Balkon hingen grüne und braune Pflanzen jeglicher Art.

Während ich mich in einer Wanne in dem wie ein Operationssaal anmutenden Bad wohlig ausstreckte, fragte ich mich geistesabwesend, was ich wohl tun würde, wenn der Nachtportier leugnete, mit mir gesprochen zu haben, und sich die Suche nach Adele als aussichtslos erwies? Was dann? Zurück nach Amerika?

Als ich mich mit einem großen und flauschigen Handtuch abtrocknete, dachte ich schon an die Heimreise, daran, wie ich Dr. Kellerman alles erklären würde, wie ich den Schakal als Briefbeschwerer benutzen und darauf warten würde, daß meine Wohnung erneut durchsucht würde. Ich hielt inne und richtete mich auf. Plötzlich fiel mir ein, warum der Mann mit der Zeitung mein Interesse auf sich gezogen hatte. Ich hatte ihn zuvor bereits gesehen.

Natürlich, es war ganz zweifellos er, Irrtum ausgeschlossen. John Treadwell und ich waren gerade durch den Zoll gegangen und hielten nach einem Taxi Ausschau. Während ich mich suchend auf dem Gelände umsah, war mir ein Zeitung lesender

Mann mit einer großen Sonnenbrille aufgefallen. Und aus einem unerfindlichen Grund hatte ich mich einen flüchtigen Augenblick lang mit ihm beschäftigt. Möglicherweise hatte es an seinem nicht ganz italienischen Aussehen gelegen. Oder an der Art, wie er die Zeitung zu lesen schien und doch gar nicht las. Wie dem auch sei, ich hatte ihn bereits am Flughafen kurz bemerkt und war dann ins Taxi gestiegen. Jetzt befand er sich im Palazzo Residenziale.

Ich zog mich hastig an. Bevor ich das Zimmer verließ, holte ich den Schakal aus meiner Handtasche, betrachtete ihn einen Moment, wickelte ihn dann fest in ein Taschentuch ein und stopfte ihn tief unten in meine Tasche. Die Handtasche sicher unter den Arm geklemmt, huschte ich die Treppe hinunter.

Dieses italienische Hotel im alten Stil stellte selbst für den pfiffigsten Pfadfinder eine Herausforderung dar, denn obwohl ich anscheinend im dritten Stock, Zimmer Nr. 307 wohnte, mußte ich sechs Treppen hinuntersteigen, um das Erdgeschoß zu erreichen. Dies war, so glaubte ich, auf die Tatsache zurückzuführen, daß das Gebäude am Hang eines Hügels lag und daher irgendwie terrassenartig gebaut war. Als ich die Treppe hinuntereilte und meine Hand über die marmorne Balustrade gleiten ließ und nur das Echo meiner hallenden Schritte hörte, hatte ich für kurze Zeit den Eindruck, mich in einer Kirche oder einem Kloster zu befinden. Überall um mich herum gab es nur weiß getünchte Wände, hie und da ein antikes Möbelstück, schmiedeeiserne Leuchter, und es herrschte eine unglaubliche Stille. Ich kam an verschlossenen Türeingängen und staubigen Farnen vorbei und dachte bei mir, daß dies der wunderlichste und bezauberndste Ort war, den ich je gesehen hatte.

Der Speisesaal war geräumig und wirkte auf reizende Weise altmodisch, mit seinen antiken Skulpturen in Nischen, den gerahmten Stichen und den verblichenen Teppichen an den

Wänden. Während ich gierig einen Teller Spaghetti verschlang, die - da war ich mir sicher - besser schmeckten als alle Spaghetti, die ich in den USA gegessen hatte, überlegte ich mir, daß die eigentümliche Bauweise des Hotels zu der Zeit, als es noch keine Klimaanlagen gab, wahrscheinlich eine besonders kühle Atmosphäre bot. Zugleich fragte ich mich jedoch, wie es sich wohl im tiefsten Winter im Palazzo Residenziale leben ließ.

Zwei Gläser Wein versetzten mich in eine ausgezeichnete Stimmung. Danach zog ich mich in den prächtigen, mit Polstermöbeln ausgestatteten Teil der Eingangshalle zurück, setzte mich an ein malerisches, antikes Schreibpult und begann einen Brief an Dr. Kellerman zu schreiben.

»Ja, bitte?« Ich fuhr herum, als ich meinen Namen hörte. Ein stämmiger Italiener mit einer glänzenden Glatze stand hinter mir. »Ich bin Luigi Baroni. Sie wünschen mich zu sprechen?«

»O ja!« Hastig raffte ich meine Siebensachen zusammen und stopfte sie in die Handtasche. Dabei spürte ich das harte Material des Schakals an meinen Fingern und nahm mir vor, einen sichereren Platz für ihn zu finden. »Ja, Sir, ich bin froh, Sie zu sehen. Ich bin Lydia Harris. Ich glaube, ich habe neulich nachts mit Ihnen gesprochen.«

»So?« Er blickte verständnislos drein.

»Nun kommen Sie schon. Ein Telefongespräch aus Amerika vergessen Sie doch bestimmt nicht. Es war nach Mitternacht, und ich fragte nach meiner Schwester. Sie gaben mir die Auskunft, sie sei gerade abgereist.«

»Ich bedaure, Madam, ich erhielt keinen.«

»Dann hat jemand anders den Hörer abgenommen. Schauen Sie, ich habe mit jemandem in diesem Hotel gesprochen!« Ich begann die Geduld zu verlieren, meine Stimme wurde allmählich schrill. »Wer arbeitet nachts sonst noch am Empfang?«

»Niemand, Madam. In den letzten Wochen bin ich immer allein gewesen. Seit es im Touristengeschäft so schlecht läuft, mußten wir Personal entlassen.«

»Moment mal.« Ich versuchte langsam zu sprechen und war mir durchaus bewußt, daß meine Stimme überallhin trug. »Ich rief vor zwei Tagen dieses Hotel an. Ich sprach mit einem Empfangschef, dessen Stimme seltsamerweise ganz so klang wie Ihre. Er sagte, Miss Adele Harris habe ihre Rechnung bezahlt und das Hotel verlassen. Jetzt möchte ich die Quittung zu dieser Rechnung sehen.«

»Aber, Madam.«

»Ich gebe mir alle Mühe, meine Geduld nicht zu verlieren. Ich will die Eintragungen sehen.«

»Aber das sind persönliche Daten, Madam. Ich kann nicht erlauben.«

Ich war drauf und dran, ausfallend zu werden, als sich eine dritte Stimme mit den Worten einmischte: »Vielleicht kann ich hier behilflich sein.« Mein Herz machte einen Satz, als ich sah, wer es war. Mit der übertrieben großen Sonnenbrille, hinter der er seine Augen verbarg, und der Zeitung, die er unter seinem Arm zusammengerollt hatte, war es derselbe dunkelhäutige Mann, den ich morgens am Flughafen und anschließend in der Empfangshalle gesehen hatte. »Ich konnte es nicht vermeiden, Ihr Gespräch mitanzuhören, und fragte mich, ob ich, der ich ebenfalls als Tourist hier bin, nicht irgendwie helfen könnte.«

Ich gaffte den Mann an. Er sprach ausgezeichnet Englisch, und seine Stimme klang weich und näselnd. Er hatte kurzes, lockiges Haar und kupferfarbene Haut und war mittelgroß. Er trug einen schwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine schmale Krawatte. Ich weiß nicht, warum, aber ich faßte auf der Stelle eine Abneigung gegen ihn.

»Es ist schon gut, danke. Ich komme schon allein zurecht.«

»Sie sagen, Sie suchen nach Ihrer Schwester?« »Sie wohnte hier im Hotel, doch dieser Herr behauptet, es gebe keine Eintragung von ihr. Ich habe aber ganz bestimmt mit jemandem gesprochen.«

Der Fremde sagte etwas auf italienisch zu dem Angestellten, worauf dieser nur mit den Schultern zuckte.

»Dann ist es doch ganz einfach«, fuhr er auf englisch fort. »Wir werden selbst in den Eintragungen nachsehen.«

Als der Angestellte protestieren wollte, hob der Fremde eine Hand und meinte mit größter Liebenswürdigkeit: »Wir versuchen nur, Ihnen Zeit und Ärger zu ersparen. Morgen wird die junge Dame zuerst zur amerikanischen Botschaft und anschließend zur Polizei gehen. Spätestens dann werden wir ins Gästebuch Einsicht nehmen.«

»Sie müssen meine Lage verstehen«, gab der Italiener, ungerührt von der Drohung, zur Antwort. »Unsere Gästeliste muß vertraulich behandelt werden. Ich kann nicht jedem ohne besondere Anweisung Einblick gewähren. Wenn Sie zur Polizei gehen müssen, dann tun Sie das, aber wir müssen auf die Privatsphäre unserer Gäste Rücksicht nehmen.«

»Gewiß«, erwiderte der andere Mann. »Diese junge Frau ist den ganzen Weg von Amerika hierhergekommen, um ihre Schwester zu finden. Und nun muß sie feststellen, daß sie allenfalls von der Polizei Hilfe erwarten kann.«

»Ich würde Ihnen gerne helfen, Signore.«

»Können wir mit dem Geschäftsführer sprechen?«

»Aber selbstverständlich!« Der Angestellte ging weg und war vermutlich froh, von der Verantwortung entbunden zu sein. Als er von der Rezeption wegeilte, musterte ich erneut den Mann, der mir seine Hilfe aufdrängte, und fragte mich, wie er wohl ohne diese Sonnenbrille aussah.

»Sie müssen sich wirklich keine Umstände machen, Mr.«

»Verzeihen Sie mir. Mein Name ist Achmed Raschid.« Ich muß wohl ziemlich die Augen aufgerissen haben. Warum ich eigentlich so überrascht sein sollte, einen Araber in Rom zu treffen, weiß ich nicht, außer, daß mich bei seinem Anblick gleich zu Beginn - am Leonardo-da-Vinci-Flughafen - ein komisches Gefühl beschlichen hatte. Jetzt hatte ich ein ganz und gar absonderliches Gefühl. »Mein Name ist Lydia Harris. Ich werde wirklich alleine damit fertig.«

»Nicht der Rede wert. Das italienische Volk ist äußerst gastfreundlich und entgegenkommend. Und dies hier ist ein sehr feines Hotel. Wir werden Ihre Schwester in Kürze finden.« Wir? wunderte ich mich.

Der Angestellte kam mit einem anderen Mann zurück. Er wurde uns als der stellvertretende Geschäftsführer des Hotels, Mr. Mangifrani, vorgestellt. Der Angestellte hatte ihm den Sachverhalt bereits auseinandergesetzt. Mit einem strahlenden Lächeln und einer freundlichen Handbewegung forderte er uns auf, ihm in sein Büro zu folgen, wo er uns zu einem Tee einlud und uns gestattete, die letzten Gästelisten durchzusehen.

»Es tut mir wirklich furchtbar leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten haben, Miss Harris. Ich wünschte aufrichtig, wir könnten Ihnen weiterhelfen. Doch wie Sie selbst sehen, war Ihre Schwester niemals hier registriert.« Er verhielt sich höflich und entgegenkommend, und hinterher fühlte ich mich wegen meines ungehörigen Benehmens ein wenig schuldig. Es war sonst gar nicht meine Art, quasi in der Öffentlichkeit herumzuschreien. Mr. Mangifrani, seiner Art nach so typisch für das Hotel Palazzo Residenziale, war mehr als hilfsbereit gewesen und hatte sich ehrlich bemüht, uns dienlich zu sein. Doch auch er konnte meine Schwester nicht herbeizaubern. »Vielleicht«, begann Mr. Raschid, der aus einem unerfindlichen Grund weiter bei mir blieb, »vielleicht hat Ihre Schwester hier nur jemanden besucht, und es ist diese Person, die abgereist ist. Als Sie anriefen, befand sich der

Angestellte einfach im Irrtum darüber, wer genau das Hotel verlassen hatte.«

Ich konnte die Logik dieser Annahme nicht bestreiten. Und doch nahm ich an zwei Umständen Anstoß: Warum hatte Mr. Baroni darauf beharrt, kein Übersee-Gespräch entgegengenommen zu haben, und wo war das Telegramm, das ich geschickt hatte? »Nun, ich denke, so wird es wohl gewesen sein. Danke für Ihre Hilfe, Mr. Raschid.«

»Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«

»Nein, danke«, entgegnete ich hastig. »Ich möchte jetzt einfach in mein Zimmer hinaufgehen und mich eine Weile ausruhen. Ich bin sicher, Adele wird bald auftauchen. Guten Abend.« Ich machte keck auf dem Absatz kehrt und entfernte mich, so schnell ich konnte. Da ich dem Aufzug ein wenig mißtraute, beschloß ich, über die Treppe zu meinem Zimmer zurückzukehren, nur um mich nach dem dritten Treppenabsatz daran zu erinnern, daß ich ja noch drei weitere vor mir hatte. Als ich mich dann auch noch erinnerte, daß es in meinem Zimmer weder einen Fernseher noch irgendwelchen Lesestoff gab, drehte ich um und begab mich wieder hinunter in die Empfangshalle.

Als ich die Rezeption erreichte, strömte die japanische Reisegruppe gerade durch die Türen herein. Sie schwatzten mit hohen, singenden Stimmen und lächelten mir im Vorübergehen freundlich zu. Einige von ihnen traten nicht ins Hotel ein, sondern gingen statt dessen weiter die Straße hinunter. Instinktiv folgte ich ihnen. Sie liefen an dem amerikanischen Kino vorbei und den leichten Abhang der Via Archimede hinauf. Meine Eingebung wurde belohnt. Alle zusammen betraten wir einen kleinen Laden unweit des Hotels, der THE DAILY AMERICAN hieß.

Als der Raum von Italienisch und Japanisch widerhallte, begutachtete ich die Zigaretten, die Süßigkeiten und die

Literatur, die der Händler feilbot. Sehr wenige Bücher und Zeitschriften waren in Englisch, und während ich in den einzelnen Büchern blätterte, um zu entscheiden, welches ich kaufen sollte, hob ich zufällig den Kopf und warf einen Blick aus dem großen Schaufenster.

Mr. Raschid stand auf der anderen Straßenseite und beobachtete mich.

»Oh.« Ich begann, ungeschickt mit den Büchern herumzuhantieren. »Was kosten die Bücher, bitte?«

»Cinquecento lire, per favore.«

»In Ordnung.« Meine Handflächen waren feucht und klamm, während meine Hände leicht zitterten. »Ich nehme diese hier.« Nachdem ich dem Mann meine Lire überreicht und er mir das Wechselgeld zurückgegeben hatte, nahm ich allen Mut zusammen und riskierte nochmals einen Blick aus dem Fenster. Achmed Raschid stand nicht mehr da.

Als ich unsicher in die Nacht hinaustrat, überkam mich eine ungute Vorahnung. Im sanften Laternenschein der Via Archimede und in der lauen Luft dieses römischen Abends wußte ich, daß Adele ohne jeden Zweifel in Schwierigkeiten steckte.

Vielleicht beruhte diese Annahme aber nicht allein auf einer instinktiven Eingebung und bloßen Vermutungen. Als ich den Gehsteig in Richtung auf die einladende Leuchtschrift des Hotels hinunterschlenderte, überdachte ich die Situation noch einmal von Anfang an. Es war immerhin möglich, daß dies alles ein Mißverständnis war. Es konnte sein, daß sich Adele bei einem Freund aufhielt. Dieser Freund hatte das Hotel verlassen, und bei der schlechten Überseeverbindung war es zu dem Mißverständnis gekommen. Denkbar einfach, Adele war irgendwo anders in Rom.

Doch so hübsch und bequem diese Erklärung auch war, sie gab leider noch immer keine Antwort auf die beiden Fragen, die mir am meisten zu schaffen machten: Wo war das Telegramm, das ich abgeschickt hatte, und warum hatte Mr. Baroni so hartnäckig geleugnet, ein Telefongespräch aus Amerika entgegengenommen zu haben? Als ich mutig in den kleinen Aufzug stieg, der mich ratternd nach oben beförderte, kam ich zu dem Schluß, daß es sehr schön gewesen wäre, über all dies mit Dr. Kellerman zu sprechen. Und als der Fahrstuhl mit einem unsanften Ruck anhielt und die Türen quietschend aufgingen, wurde mir auch klar, daß ich Dr. Kellerman vermißte und ihn in meiner Nähe wünschte.

Den Schakal mußte ich noch verstecken. Ich nahm ihn aus meiner Handtasche heraus und schaute mich im Zimmer um. Schrank, Bett, Nachttisch, das waren die Plätze, wo jeder mögliche Eindringling zuerst nachschauen würde. Kurz entschlossen schob ich den Schakal hinter eines der Bilder an der Wand. Auf der unteren Leiste des breiten Rahmens lag er sicher.

Ich lag bequem ausgestreckt auf meinem Bett, als das Telefon schrillte, was mich hochschrecken ließ. In einem plötzlichen Anflug von Aufregung glaubte ich, daß es Adele sein könnte. »Hallo?« rief ich eilig in den Hörer. »Hallo. Hier ist John Treadwell.«

»Oh!« Ich senkte enttäuscht die Stimme. »Hallo.«

»Es tut mir leid, wenn mein Anruf ungelegen kommt.«

»O nein. So habe ich es nicht gemeint. Ich dachte nur, Adele sei am Apparat.«

»Soll ich auflegen? Sie könnte gerade versuchen, Sie zu erreichen.«

»Nein, John, das glaube ich nicht.«

»Wissen Sie immer noch nicht, wo sich Ihre Schwester befindet? Ich dachte, sie wollte sich im Hotel mit Ihnen treffen.«

»Tja, leider hat es da irgendeine Verwechslung gegeben. Es scheint ganz so, als ob sie nicht hier ist. Wahrscheinlich habe ich das falsche Hotel erwischt.«

»Hätten Sie Lust, in die Stadt zu gehen?«

»Oh. nein danke, Mr. Treadwell, ich meine John. Ich bin wirklich todmüde.«

»Dann also morgen. Um wieviel Uhr soll ich an Ihrem Hotel sein? Acht? Neun?«

In meiner gegenwärtigen Verfassung war ich eigentlich nicht besonders daran interessiert, mit John Treadwell in engeren Kontakt zu treten. Doch als ich sein Angebot eben schon ausschlagen wollte, erinnerte mich eine leise, durchdringende Stimme an etwas, das ich für eine Weile vergessen hatte: die Tatsache, daß Achmed Raschid mich allem Anschein nach verfolgte. »Acht Uhr wäre ganz prima. Ich warte auf Sie in der Eingangshalle.«

»Großartig. Und dann können wir auch nach Ihrer Schwester suchen, ja?«

»Wunderbar, vielen Dank und gute Nacht.«

Als ich auflegte, begann ich darüber nachzudenken, daß es vielleicht gar nicht so dumm war, sich mit diesem so hilfsbereiten John Treadwell zu treffen, wenn man die Sache mit Adele, dem sonderbaren Mr. Raschid und meine Unkenntnis der Stadt in Betracht zog. Als ich das Licht löschte und mich in dem ungewohnten Bett gemütlich zurücklehnte, waren meine Gedanken bei der fremden Stadt, die jenseits meiner Fenster lag, und abermals ertappte ich mich dabei, wie ich an Dr. Kellerman dachte. Es lag wohl an der Tatsache, daß er immer »dagewesen war« und daß seine Gegenwart mir stets Trost gespendet hatte. Und so hatte jetzt, in einem Augenblick der Niedergeschlagenheit und des Zweifels, der bloße Gedanke an ihn eine tröstende Wirkung.

Dr. Kellerman hatte Augen, die so eisig-blau und frostig waren, daß ein Blick daraus genügte, um einen unter den heißen Lampen des Operationssaals erschauern zu lassen. Doch sosehr sich eine Schwester oder ein Assistenzarzt auch vor ihm fürchten mochten, sosehr ihn manche auch nicht leiden mochten, so spürte dennoch jedermann seine Stärke, und niemand konnte die Sicherheit bestreiten, die er in das Operationsteam brachte. Ganz gleich, wie hoffnungslos eine Situation am Operationstisch auch sein mochte, wie übernervös sich seine Assistenten auch fühlen mochten, Dr. Kellerman verbreitete stets eine Atmosphäre von völliger Kontrolle und Beherrschung um sich her. Mit diesen Gedanken fiel ich allmählich in einen unruhigen Schlaf.

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