Als ich tags zuvor angekommen war, mußte ich wohl sehr müde gewesen sein, wahrscheinlich eine Folge der Zeitverschiebung nach dem Flug. Denn als ich mit John Treadwell in die schneidend kalte Morgenluft hinaustrat, kam es mir vor, als sähe ich diese Umgebung zum ersten Mal. Das Parioli-Viertel bestand größtenteils aus Mietshäusern, vereinzelten ruhigen Hotels, dazwischen kleine Läden und Privathäuser. Die Straßen zwischen den hoch aufragenden Mietshäusern aus rotbraunen Ziegelsteinen waren eng und gewunden. Überall ragten Balkone hervor, die teils mit grünen, teils mit halb vertrockneten Pflanzen überwachsen waren. Die Fußgänger, die an uns vorübergingen, meist Italiener, aber auch eine ganze Anzahl von Ausländern, waren durchweg freundlich und grüßten uns oft auf englisch. Hin und wieder ratterte ein klappriges Auto an uns vorbei, ein paar Motorroller und ein Reisebus. Die rissigen Gehsteige wurden von Bäumen gesäumt und wimmelten von Katzen. Sogar vor den Türen eines Hotels sah ich eine ganze Ansammlung von Katzen, die dort herumschlichen, als ob sie sich zu einer Art Hexensabbat verabredet hätten. Was ich sah, gefiel mir. Es kam mir alles so fremdländisch und bezaubernd vor.
»Sollen wir zu Fuß gehen?«
»Ist es weit?«
»Es ist schon eine Strecke bis zur Innenstadt. Aber es geht die ganze Zeit bergab. Und wir kommen an einigen entzückenden Stellen vorbei. Aber wenn Sie Bedenken haben, können wir uns auch den Bus Nummer zweiundfünfzig schnappen. Er bringt uns für nur fünfzig Lire ins Zentrum.«
»Bedenken« war nicht das richtige Wort. Ich mußte vor allem Adele finden, und das würde nicht leicht werden.
An diesem Morgen war mir beim Aufwachen gleich wieder dieser Achmed Raschid eingefallen. Da ich mich versichern wollte, daß die Begegnungen mit ihm rein zufällig gewesen waren, hatte ich mich an der Rezeption nach seiner Zimmernummer erkundigt. Wie sich herausstellte, war Achmed Raschid kein Gast im Palazzo Residenziale, und so müßte es schon ein ganz außerordentlicher Zufall gewesen sein, daß ich ihn zuerst am Flughafen, dann in der Empfangshalle und schließlich vor dem Zeitschriftenladen gesehen hatte.
Aber es ging mir vor allem um Adele. Ihretwegen war ich nach Rom gekommen, und ich würde nicht ruhen, bis ich sie gefunden hatte. »Können wir den Bus nehmen? Das wäre mir lieber.« Wir gingen bis zur nächsten Straßenecke hinunter und stellten uns unter ein Schild, auf dem das Wort FERMATA stand. Während wir warteten, erzählte mir John einiges über die Sehenswürdigkeiten, die wir besuchen würden, und ich bückte mich, um ein paar Katzen zu streicheln, die zu unserer Begrüßung herbeieilten. »Rom ist eine Katzenstadt«, erklärte John, wobei er auf die Uhr schaute. »Ich bin schon dreimal hier gewesen, und jedesmal bin ich aufs neue darüber erstaunt.«
»Es sind ziemlich viele.«
»Warten Sie nur ab.«
Ein großer grüner Bus hielt vor uns, und wir stiegen durch die hintere Tür ein. Wir warfen Fünfzig-Lire-Stücke in die Schlitze der Fahrkartenautomaten und nahmen die kleinen weißen Fahrscheine entgegen. Ich setzte mich ans Fenster, während John alles, was wir sahen, fortlaufend kommentierte.
Rückblickend ist es schwer zu sagen, was mich mehr in Staunen versetzte, der viele Verkehr oder die vielen Bäume.
Wie ich bald erfahren sollte, lieben die Römer Gärten und Grünanlagen ebensosehr, wie sie es lieben, mit ihren Autos herumzufahren.
Obwohl die vorherrschende Farbe eine Art Rostrot war, zogen auch viele Hotelneubauten und hypermoderne, spiegelnde Bürogebäude an uns vorbei. Neben alten Renaissance-Fassaden ragten Hochhäuser aus Beton, Metall und Glas empor wie in amerikanischen Großstädten. Da ich aus einer Stadt kam, wo es nur wenige architektonische Gegensätze gab, war ich von der Vielgestaltigkeit Roms hingerissen. Natürlich galt dies nur für die Vororte außerhalb der Stadtmauern. Als wir erst einmal durch eines der antiken Tore der Aurelianischen Mauer gefahren waren, entdeckte ich eine völlig andersartige Schönheit. Private Villen waren von hohen Mauern und üppigen grünen Gärten umgeben. Öffentliche Gebäude zeichneten sich durch klare Linien und klassische Fassadengestaltung aus. Und überall dominierte diese bräunliche Farbe, die mal mehr zu Ocker, mal mehr zu Zinnober tendierte. Ich machte darüber eine Bemerkung zu John: »Es ist erstaunlich!« sagte ich. »Ich habe niemals eine Stadt wie diese hier gesehen.«
»Die Römer legen großen Wert darauf, daß ihre Stadt einheitlich wirkt, und haben daher strenge Bauvorschriften innerhalb der Stadtmauern. Alle neuen Gebäude müssen so aussehen wie die alten.«
»Mir gefällt das sehr!«
»Es gibt eine Ausnahme, die ich Ihnen später zeigen werde. Wir sind fast an der Endstation der Buslinie angelangt. Wohin möchten Sie zuerst gehen?«
Darauf konnte ich keine Antwort geben. Wie würden Römer es anpacken, um vermißte Römer aufzuspüren? In Adeles Fall war der einzige Anhaltspunkt das Hotel Palazzo Residenziale gewesen, das mich aber nicht weitergebracht hatte. »Ich weiß es nicht, John.«
»Wie wär’s dann mit etwas zu essen?«
Wir stiegen durch die Vordertür aus dem Bus und standen auf einer verkehrsreichen Straße. John führte mich eine Seitenstraße hinunter in eine kleine Bar, die neben einem Blumenladen lag. Vom Aussehen her genau wie eine Jahrhundertwende-Apotheke, hatte das kleine Lokal einen Tresen und einen einzigen Tisch am Fenster. Wir setzten uns an den Tisch, wobei wir die Blicke der Einheimischen auf uns zogen, die offensichtlich nicht an Touristen in ihrer Umgebung gewöhnt waren.
»Jetzt erzählen Sie mir mal«, begann John, während er Unmengen von Kondensmilch in seinen starken Kaffee goß, »wo denn eigentlich das Problem mit Ihrer Schwester liegt.«
Ich schaute ihn an. »Verzeihen Sie. Ich habe es Ihnen noch gar nicht erzählt.« In knappen Worten berichtete ich ihm von den Umständen, die mich nach Rom geführt hatten, und beobachtete, wie sich sein attraktives Gesicht in Falten legte.
»Das ist ja eine tolle Geschichte!« urteilte er nach einem Augenblick.
»Meinen Sie?« Mit einem Mal war ich wegen seiner Ansicht beunruhigt. Denn schließlich würde er die Dinge ja unvoreingenommen und objektiv betrachten und mich vielleicht als ein wenig hysterisch bezeichnen. »Mache ich mir für nichts und wieder nichts Sorgen?«
»Nein, so würde ich das ganz und gar nicht sehen. Wenn ich von einem lange Zeit verschwundenen Verwandten einen dringenden Anruf vom anderen Ende der Welt bekäme, wenn ich mit der Post so ein komisches Ding erhielte, wenn meine Wohnung durchsucht würde und wenn ich schließlich herausfände, daß mein so lange verschollener Verwandter noch immer verschollen wäre, dann würde ich mir ganz entschieden Sorgen machen.«
»Ich befürchtete, daß Sie das sagen würden. Adele muß sich diesmal wirklich in irgend etwas verstrickt haben.«
»Darf ich diesen Schakal einmal sehen?«
»Oh, ich habe ihn nicht dabei. Aber keine Sorge, er befindet sich an einem sicheren Ort.«
»Ich verstehe. Das kostbare Kleinod, haha!«
»Es muß in der Tat wertvoll sein. Das immerhin scheint trotz aller übrigen Rätsel festzustehen.« Ich dachte an Achmed Raschid, den ich John gegenüber nicht erwähnt hatte, und fragte mich, welche Rolle er wohl bei dem Ganzen spielte. Falls er überhaupt etwas damit zu tun hatte. »Ich schätze es, daß Sie mir helfen wollen, John, aber ich weiß, daß Sie geschäftlich hier in Rom zu tun haben.«
»Unsinn! Rätsel zu lösen macht mir immer Spaß. Besonders wenn es dabei auch um eine hübsche junge Frau geht. Aber wie Sie sagen, müssen wir Ihre Schwester finden. Die amerikanische Botschaft könnte vielleicht helfen. Ihre Schwester könnte dort eine Nachricht für Sie hinterlegt haben.«
»Natürlich! Daran hatte ich noch gar nicht gedacht!«
»Und außerdem könnte es sein, daß in Ihrem Hotel schon eine Nachricht auf Sie wartet, wenn wir zurückkommen.« Ich lächelte John Treadwell erleichtert an. Er hatte eine Menge getan, um mich ein wenig zu beruhigen.
»Aber zuerst das Forum Romanum. Darauf bestehe ich. Nur für den Fall, daß die Botschaft keine Neuigkeiten bereithält, was Ihnen den ganzen restlichen Tag verderben würde, sollten wir uns diesen Gang bis zum Schluß aufheben. Überdies möchte ich Sie öfter so lächeln sehen, wenn ich Ihnen die Sehenswürdigkeiten zeige, die Rom zu bieten hat.«
Wenn auch nur widerstrebend, so brachte ich es doch nicht fertig, Johns Angebot, einen vergnüglichen Morgen zu verbringen, abzulehnen. Mit seinem Charme, seinem guten Aussehen und seiner Hand, die einen sanften Druck auf die meine ausübte, war John Treadwell ein sehr überzeugend wirkender Mann. Und außerdem konnte Adele nicht weit sein, und nach vier Jahren kam es auf ein oder zwei Stunden später auch nicht mehr an.
Wir warteten bis um vier Uhr, bis die Wasserspeier an der Fontana di Trevi, dem monumentalsten Barockbrunnen Roms, eingeschaltet wurden, und dann machten wir uns langsam auf den Weg zur amerikanischen Botschaft.
John war der ideale Begleiter, als wir durch die kleineren, weniger überfüllten Straßen schlenderten, denn er sorgte für eine leise plätschernde Unterhaltung, und da er meine Besorgnis spürte, machte er gelegentlich Scherze, die mich zum Lachen brachten. Im Schein der Nachmittagssonne verfärbte sich sein Haar zu einem goldenen Braun und wurde vom Wind zerzaust wie bei einem kleinen Jungen. Je länger wir spazierengingen und sprachen, um so dankbarer war ich dieser Nonne im Flugzeug dafür, daß sie aufgestanden war und sich auf einen anderen Platz gesetzt hatte.
Die amerikanische Botschaft war ein gewaltiges, eindrucksvolles Bauwerk an der Via Veneto, das nach der Siesta gerade wieder zum Leben erwachte, als wir hinkamen. Unbewußt hatte ich wohl schon größte Hoffnung darauf gesetzt, Adele über die Botschaft zu finden, denn als wir aus dem Sonnenlicht in das dunkle Innere traten, fühlte ich mein Herz rasen.
Aber man konnte mir nicht weiterhelfen. Es gab keine Nachricht von Adele.
»Ich bedaure, daß es mit dem Abendessen nun doch nichts wird«, sagte ich, als wir in dem alten, klapprigen, grünen Bus den Parioli-Hügel hinauffuhren, »aber Sie müssen verstehen. Wenn ich Adele je finden soll, dann kann ich es nur, indem ich im Hotel bleibe.« John nickte. Obwohl er mich in eines der eleganten Restaurants an der Via Veneto hatte ausführen wollen, konnte ich sehen, daß er mit mir mitfühlte. Die Polizei war nur wenig hilfreich gewesen, da wir keine Beweise, keine Anhaltspunkte und noch nicht einmal ein Foto hatten, das wir ihnen geben konnten. Ich verübelte es ihnen nicht. Die Botschaft war eine noch größere Enttäuschung gewesen. Denn wenn Adele sich mit mir hätte in Verbindung setzen wollen, so hätte sie es leicht über die Botschaft tun können und hatte dafür drei Tage Zeit gehabt!
»Dann lade ich Sie im Hotel zum Abendessen ein«, schlug John vor. Ich blickte in seine lächelnden Augen und fühlte, wie mein Vorsatz, Einwände zu machen, schwächer wurde. Die Auskunft in der Botschaft war eine solche Ernüchterung gewesen. Gerade jetzt brauchte ich die Gesellschaft dieses Mannes wirklich. »Nun?« fragte mein Begleiter. »Abendessen im Hotel?«
»Abendessen im Hotel.« Ich gab mich geschlagen. John erklärte sich einverstanden, in der Empfangshalle auf mich zu warten, während ich schnell in mein Zimmer hinaufrannte. Ich murmelte eine Anzahl von Entschuldigungen, aber die wahren Gründe für diesen Gang behielt ich stillschweigend für mich. Erstens hegte ich eine winzige Hoffnung, daß Adele an mein Zimmer gekommen war und einen Zettel unter der Tür durchgeschoben hatte. Und zweitens wollte ich überprüfen, ob der Schakal noch da war. Nach dem Einbruch in meine Wohnung rechnete ich mit allem möglichen.
Der Schakal war noch genau dort, wo ich ihn versteckt hatte, auf der Bilderrahmenleiste, und das Zimmer war nicht durcheinandergebracht worden. Ich fand keine Nachricht von Adele. Ich kämmte mich rasch, trug frischen Lippenstift auf und eilte zurück zu John. Wir aßen Kalbsschnitzel in Salbeisoße und tranken danach starken italienischen Kaffee. Hinterher ließ ich mich zu einem Spaziergang durch das Parioli-Viertel überreden. Während wir an hell erleuchteten Straßencafes vorübergingen, an jeder Ecke auf einen Blumenverkäufer stießen und immer wieder ganzen Familien begegneten, die den Abend draußen verbrachten, wurde ich an Johns Arm etwas gelöster und war, wenn auch nur für kurze Zeit, imstande, die Schönheit dieser Stadt zu genießen.
»Was bedeutet S.P.Q.R .?« fragte ich. »Man kann es überall lesen.«
»Es ist eine Abkürzung und lautet auf lateinisch: Senatus Populusque Romanus, was soviel heißt wie >Der Senat und das Volk von Rom<. In den Tagen der Republik vor den Caesaren war es so etwas wie der Staatsname und wurde später, während der Kaiserzeit, einfach beibehalten. Es hatte dann aber nurmehr symbolische Bedeutung. Heute ist Italien eine westliche Demokratie mit einem Präsidenten, aber die Italiener haben dieses noble Erbstück übernommen und führen eine Tradition weiter. Irgendwie gefällt mir das.«
»Es steht sogar auf den Plastikmüllsäcken!«
»Richtig. Sie können S.P.Q.R. an antiken Monumenten ebenso wie an Verkehrsampeln lesen.«
»Sie wissen viel über Rom.«
»Es ist ein faszinierender Ort.«
»Wie lange wird Ihr Aufenthalt diesmal dauern? Wegen mir hatten Sie noch gar keine Gelegenheit, sich mit Ihren Geschäften zu befassen.«
»Nun, meine Aufgabe besteht eigentlich darin, zwischen unserem Hauptsitz in New York und unseren internationalen Filialen in London und Rom hin- und herzupendeln. Ich verfüge über ein Spesenkonto, und wenn ich mir einen oder zwei Tage zusätzlich Zeit nehme, wird sich niemand darüber beschweren.«
»Hm, jedenfalls vielen Dank. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Ich habe mit Reisen ins Ausland noch gar keine Erfahrung. Und mit Rätseln und Überraschungen konnte ich es noch nie aufnehmen. Ich führe gewöhnlich ein sehr gut durchorganisiertes, vorausschaubares Leben.«
»Sieht es so auch in einem Operationssaal aus?«
»Meistens. Außer wenn gelegentlich ein Notfall eintritt, der die ganze Ordnung über den Haufen wirft.«
»Wie Ihre Schwester?« Ich lachte. »Ja, wie meine Schwester.«
Wir blieben auf einer Anhöhe stehen, von der aus wir die erleuchtete Stadt unter uns sehen konnten. »Oh«, flüsterte ich. Ein schwarzes Band teilte die glitzernde Stadt dort, wo der Tiber das Zentrum durchzieht. Ich zitterte ein wenig, worauf John Treadwell behutsam einen Arm um meine Schultern legte. Als ich auf die Stadt hinabblickte, wie sie so traumhaft schön dalag, kam ich auf den Gedanken, daß ich vielleicht eben dabei war, mich in sie zu verlieben, und fragte mich, warum ich nicht schon früher hierher gekommen war. Dann fiel mir die Antwort ein.
Bis jetzt hatte ich geglaubt, ich führe ein rundum erfülltes Leben. Doch jetzt erkannte ich, daß dem in Wahrheit nicht so war und daß sich in meinem Leben eine beklagenswerte Leere ausbreitete. »John, mir wird langsam kalt. Können wir zurückgehen?«
»Natürlich.« Er führte mich zurück zu den warmen Straßen und den freundlichen Menschenmengen. Das Hotel war hell erleuchtet und wirkte im Moment sehr einladend. In der Empfangshalle blieb ich stehen und dankte John für den wundervollen Tag und für seine ernstlichen Bemühungen, mir bei der Suche nach meiner Schwester behilflich zu sein. Nachdem er mich einen Augenblick angesehen hatte, fragte John: »Und wann werde ich Ihren geheimnisvollen Schakal einmal zu Gesicht bekommen?«
»Kommen Sie morgen vorbei, und ich zeige Ihnen das merkwürdige Tier, einverstanden?«
»Abgemacht.« Er zögerte, und ich erriet seinen Gedanken. »Ich bin völlig erschöpft, ehrlich«, erklärte ich schnell. »Ich werde jetzt ein warmes Bad nehmen und anschließend sofort einschlafen.«
»Kann ich Sie nicht noch zu einem Schlummertrunk überreden? Ein Gläschen Benediktiner oder Grand Marnier?«
Ich schüttelte matt den Kopf. »Bitte nicht, es war heute ein ermüdender Tag für mich. Ich wäre bestimmt nicht sehr unterhaltsam.«
»Oh, das müßte man erst sehen.« Doch er beharrte nicht weiter darauf. Anstatt mich zu bedrängen, wie ich es schon befürchtete, legte John nur seine Hände auf meine Schultern, küßte mich leicht auf die Stirn und flüsterte: »Ich rufe Sie morgen früh an. Gute Nacht, Lydia.«
»Danke, John. Gute Nacht.« Als ich ihm nachschaute, wie er sich draußen ein Taxi herbeiwinkte, dankte ich der Vorsehung dafür, daß sie uns zusammengeführt hatte. Seine Gegenwart und seine Hilfe hatten mir den ersten großen Schritt sehr leicht gemacht. Von nun an, da war ich mir sicher, könnte ich es auch allein schaffen. Zumindest waren dies meine Gedanken, als ich den großen Aufenthaltsraum in Richtung auf die Treppe durchquerte, bis ich mit Mr. Raschid zusammenstieß, der sich mir in den Weg gestellt hatte.
»Entschuldigen Sie, Miss Harris. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob Sie Ihre Schwester schon gefunden haben.«
»Hmm. nein, noch nicht.« Er hatte noch immer dieselbe riesige Sonnenbrille auf und trug auch die Zeitung noch immer bei sich. Beides wohl Gegenstände, um sich dahinter zu verstecken. Und da er im Palazzo Residenziale nicht als Gast eingetragen war, fragte ich mich, was um alles in der Welt er schon wieder hier zu tun hatte. »Ich habe auf Sie gewartet«, erklärte er, als könne er in meinen Gedanken lesen. »Wie bitte?«
»Für den Fall, daß Sie Ihre Schwester nicht gefunden haben, dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht weiterhelfen, da ich Italienisch spreche und diese Stadt ziemlich gut kenne.«
»Danke«, erwiderte ich nervös, »aber ich habe bereits Unterstützung, und ich habe alles getan, was ich konnte. Die Polizei und die Botschaft waren nicht in der Lage, mir zu helfen. Aber ich mache mir keine Sorgen. Sie kann nicht weit sein. Vielleicht hat sie einen Ausflug nach Neapel oder sonst etwas unternommen.«
»Haben Sie schon einmal im Ägyptischen Museum im Vatikan nachgefragt?«
Verblüfft riß ich die Augen auf und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Wie bitte?«
Achmed Raschids Gesicht blieb unbewegt. Ich konnte nicht sehen, wo seine Augen waren oder wie er eigentlich aussah.
»Es war bloß so ein Gedanke. Also dann, gute Nacht, Miss Harris. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
Ich starrte ihm wie benommen nach und rührte mich nicht von der Stelle, bis die japanische Reisegruppe plötzlich in die Halle strömte. Dann drehte ich mich schnell herum und stürzte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die sechs Treppen hinauf, bis ich meine Tür doppelt hinter mir abgeschlossen und die Jalousientüren, die auf den Balkon führten, fest verriegelt hatte. Dann sank ich auf die Kante meines Bettes nieder, und während ich mein Herz wie wild gegen meinen Brustkorb hämmern spürte, versuchte ich, die schockierende Andeutung des Arabers zu verarbeiten. Achmed Raschid mußte von dem Schakal Kenntnis haben!
Ich war schon wach, als das Telefon klingelte. Ich stürzte zum Hörer. »Adele?« rief ich atemlos hinein.
»Tut mir leid, ich bin es nur«, ließ sich Johns Stimme vernehmen. »Habe ich Sie geweckt?«
»Nein.« Ich warf einen prüfenden Blick auf das Sonnenlicht, das durch die geöffneten Jalousien hereinströmte. »Ich bin schon eine Weile auf. Ich konnte nicht sehr gut schlafen. Ich warte die ganze Zeit.«
»Wie lange beabsichtigen Sie, damit weiterzumachen?« Ich zuckte die Achseln und gab durchs Telefon einen unbestimmten Laut von mir.
»Nun, ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn wir ein Weilchen spazierengingen. Ich habe gar keine Lust, mich heute um meine Geschäfte zu kümmern, und ich habe unser hiesiges Büro auch noch nicht wissen lassen, daß ich in der Stadt bin. Was halten Sie also davon, wenn wir noch ein wenig länger die Schule schwänzen?«
»Ich weiß nicht, John.«
»Nur für ein paar Stunden. Lydia, Sie lassen die wundervollste Stadt der Welt einfach achtlos links liegen! Was wollen Sie erzählen, wenn Sie nach Los Angeles zurückkehren? Daß Sie die ganze Zeit in einem Hotelzimmer herumgesessen sind? Na, kommen Sie schon, ich möchte Sie mit einem ganz besonderen Ort bekanntmachen.« Wieder blickte ich auf den einladenden Sonnenschein und fühlte meine Entschlossenheit schwinden. John Treadwell konnte man einfach nicht widerstehen. Und nachdem ich die ganze Nacht über Achmed Raschids geheimnisvolle Worte nachgegrübelt hatte, mit denen er durchblicken ließ, daß er von dem Schakal wußte, hatte ich außerdem beschlossen, John von ihm zu erzählen. Doch das wollte ich persönlich tun.
»Also gut«, antwortete ich daher. »Für ein Weilchen wird es nichts ausmachen. Wenn Adele auftaucht. nun, dann muß sie eben mal auf mich warten.«
»So ist’s recht! Nun passen Sie auf, ich muß noch eine Besorgung machen. Wie wär’s, wenn wir uns deshalb einfach in der Stadt treffen. Gehen Sie zum Kolosseum. Sie erinnern sich doch an den Weg? Wenn Sie dort angelangt sind, überqueren Sie die Straße und gehen den Oppio-Hügel hinauf. Sie können es gar nicht verfehlen. Ich treffe Sie vor der >Domus Aureac. Das ist es, was ich Ihnen zeigen will. Neros Goldenes Haus.«
»Klingt toll. Was ist, wenn ich mich verirre?«
»Das werden Sie nicht. Sie können den Hügel nicht verfehlen. Er ist grün und gärtnerisch gestaltet -, sieht aus wie ein Park. Fragen Sie irgendwen. Sagen Sie nur >Domus Aureac, und man wird Ihnen die richtige Richtung weisen. Hören Sie, jetzt ist es neun. Wie wär’s, wenn wir uns um zehn treffen? Ich werde draußen mit den Eintrittskarten warten.«
»Ausgezeichnet. Also dann bis um zehn.«
Ich überlegte eine Weile hin und her, ob ich den Schakal mitnehmen sollte, um ihn John zu zeigen, besann mich dann aber eines Besseren und beschloß in der letzten Minute, sein Versteck zu ändern. Dort wäre der Elfenbeinteufel bis zum Abend sicher aufbewahrt. Dann erst würde ich ihn John zeigen.
Meine Stimmung hob sich außerordentlich, als ich ins blendende Tageslicht hinaustrat. Keine dunklen Gestalten folgten mir. Keine unerklärlichen Ereignisse traten ein. Nur Sonnenschein und Menschen und blauer Himmel. Ich nahm den Bus Nummer 52 und stieg in der Stadtmitte an der Piazza San Silvestro aus. Von dort aus folgte ich einfach der breiteren
Straße. So genoß ich einen herrlichen Spaziergang zum Forum, das bald rechter Hand neben mir auftauchte, und zum Kolosseum. In diesen paar Minuten, in denen ich Schaufenster betrachtete und an Blumen schnupperte, war ich imstande, den wahren Grund meines Aufenthalts in Rom zu vergessen und mich in seinem Zauber zu verlieren.
Am Kolosseum sah ich die vertrauten Katzenscharen, die für diese Stadt so typisch sind. Alte Italienerinnen mit zerlumpten Umhängetüchern und Papiertragetaschen gingen von Ruine zu Ruine und fütterten die Katzen mit Nudeln. In solchen Augenblicken wünschte ich, ich hätte einen Fotoapparat eingepackt.
John hatte recht. Es fiel mir nicht schwer, die Viale della Domus Aurea ausfindig zu machen, die von der das Kolosseum umgebenden Straße zum Gipfel des Oppio-Hügels hinaufführt. Nach einem angenehmen Spaziergang zwischen kunstvoll beschnittenen Hecken und unter Bäumen hindurch gelangte ich an ein eisernes Tor, das offen stand. Beim Näherkommen sah ich auf der anderen Seite eine Handvoll ungeduldiger Touristen und ein kleines, buntes Kartenhäuschen. Ich schlenderte hinein und setzte mich auf eine Bank. Meine Uhr zeigte fünf nach zehn, und John war noch nicht da. Der Mann in der Kartenbude las eine Zeitung und rauchte dabei eine Zigarette. Die fünf Touristen warfen gelegentlich einen Blick auf die Uhr und schauten dann in Richtung auf zwei andere Eisentore, die auf höchst sonderbare Weise in den Hügel eingelassen waren. Jenseits davon tat sich ein gähnender, schwarzer Schlund auf, der so furchterregend wirkte, daß ich einen Augenblick lang meinte, christliche Märtyrer mit Löwen kämpfen zu sehen. Nichts deutete auf ein »Goldenes Haus« hin, und ich entdeckte auch nichts, das sich mit der Pracht auf dem Palatin-Hügel hätte messen können. Hier also hatten die herausragendsten Leute der römischen
Geschichte gelebt: Augustus, Tiberius, Livia, Caligula,
Claudius, Messalina.
Wieder blickte ich in die Höhle jenseits der Gitterstäbe. Kaum zu glauben, daß dies auch der Wohnsitz Neros gewesen war, des furchterregendsten Tyrannen in der römischen Geschichte und einer der schrecklichsten Figuren der ganzen Weltgeschichte. Er war der Wahnsinnige, der entartete römische Kaiser, der Rom in Brand gesteckt hatte und der vermutlich auch die Apostel Petrus und Paulus hatte umbringen lassen. Und dies war sein Haus. In meinen Gedanken wurde ich von einer üppigen Dame unterbrochen, deren. Oberschenkel beim Gehen ein raschelndes Geräusch von sich gaben. »Sind Sie Engländerin?« fragte sie.
»Amerikanerin.« Ich blinzelte zu ihr herauf, konnte aber kaum mehr als ihre Silhouette wahrnehmen, die von der Sonne wie mit einem Heiligenschein umgeben wurde.
»Wunderbar! Ich auch.« Sie setzte sich neben mich und legte ihre kleine, dickliche Hand auf meinen Arm. »Ist das nicht aufregend? Ist es nicht ausgesprochen hinreißend?«
»Die Domus Aurea?«
»Rom, meine Liebe! Sind Sie mit einer Reisegruppe hier?«
»Nein, allein.«
»Wir auch. Die Gruppenreisen haben dieses Jahr wegen der Inflation ihre Angebote reduziert. Aber meine Mutter und ich haben jahrelang für diese Reise gespart, und nichts konnte uns davon abbringen. Sind Sie schon einmal da drinnen gewesen?. Nein? Ich bin schon zum zweiten Mal hier. Sie werden es einfach nicht glauben, wenn Sie das hier betreten, besonders nicht, nachdem Sie die wunderschönen Paläste auf dem Palatin gesehen haben. Waren Sie schon dort? Nun, dies ist etwas ganz anderes. Hier ist es fürchterlich dunkel und unheimlich. Wie in einer schwarzen Höhle. Man kann sich richtig vorstellen, daß da drinnen Geister leben. Das jagt einem wahre Schauer den Rücken hinunter!«
Ich schaute wieder in die Schwärze jenseits der eisernen Gitterstäbe, eine Schwärze, die sich tief in den Hügel hinein erstreckte, die aber keinen Hinweis darauf gab, was darunter verborgen lag. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, es handele sich um ein Grabgewölbe.
»Natürlich stand das Goldene Haus einst im Sonnenlicht, aber im Laufe der Jahrhunderte wurde es verschüttet. Drinnen befindet sich das phantastischste Labyrinth, das Sie sich vorstellen können. Es sind noch ein paar Wandgemälde und Mosaikböden übrig, aber es ist alles so gruftartig und furchterregend. Es ist mein Lieblingsort in Rom!« Ich lächelte der Frau mit den leuchtendroten Lippen und dem Hang zum Gruseligen höflich zu. Sie war aufgeregt und lebhaft, und ich spürte selbst ein wenig davon. Was immer auch hinter diesem Eisentor aus dem zwanzigsten Jahrhundert liegen mochte, es gehörte einem anderen Bereich an, einem geheimnisvollen Bereich. »Nero lebt in diesen Mauern weiter«, plapperte sie. »Sein Geist ist tatsächlich schon gesehen worden!«
»Das hört sich wirklich ziemlich aufregend an.« Ich sah mich nach John um. Es war fast zwanzig nach zehn.
»Horchen Sie.« Sie faßte sich mit ihrer dicken Hand ans Ohr. »Die letzte Gruppe kommt zurück.«
Während ich auf die gedämpften Geräusche von Schritten und Stimmen lauschte, versuchte ich angestrengt, eine Bewegung hinter den Gitterstäben auszumachen. Dann tauchte ein Funke auf. Er wurde größer, und als er immer näher herankam, erkannte ich, daß es sich um die Taschenlampe des Führers handelte, der eine Handvoll Touristen ans Tageslicht zurückgeleitete. Die Tore öffneten sich quietschend, und einer nach dem anderen gaben die Fremden dem Italiener Trinkgeld und dankten ihm in verschiedenen Sprachen. Als sie feierlich an mir vorübergingen, suchte ich in ihren Gesichtern nach einer Reaktion.
Aber diese Gesichter waren seltsam ausdruckslos. Keiner sprach. Es war unmöglich, ihre Gedanken zu lesen. Plötzlich überkam mich eine unglaubliche Neugierde, mit eigenen Augen zu sehen, was von dem fürchterlichen Nero tatsächlich noch übrig war. Ich hörte meine amerikanische Freundin fragen: »Wollen wir hineingehen?«
»Nun, ich.« Ich schaute mich um und sah, wie die anderen sich um den rundlichen, kleinen Führer scharten. »Wann ist die nächste Führung?«
»In einer Stunde.«
Unschlüssig stand ich da. Dann warf ich einen letzten Blick um mich herum. John war nirgends in Sicht. »Ja, gehen wir hinein.« Ich rannte zum Kartenschalter und kaufte spontan eine Eintrittskarte für tausend Lire. Als ich zu der kleinen Gruppe stieß, war der Führer eben dabei, die Teilnehmer zu zählen. Als er fertig war, rief er dem Mann im Kartenhäuschen »Seil« zu, worauf dieser die Zahl sechs auf ein Stück Papier kritzelte. Dann richtete der Führer das Wort an uns: »Ihr alle sprechen Englisch? Sehr gut. Giovanni sprechen Englisch am besten. Und nur eine Sprache. Manche Tage ich haben Deutsche, Francese, mamma mia, sogar Griechen! Heute ist leicht für Giovanni. Wir gehen los, ja? Immer dicht bei Papa bleiben.« Er zog das Tor auf, und alle sechs traten wir furchtlos in den kalten Tunnel. »Sehr leicht Sie können sich verirren in Neros Haus. Bleiben bei Papa. Nicht weglaufen.«
Wir hielten uns alle dicht beieinander, als wir über den unebenen Fußboden stolperten und dem schwachen Schein von Giovannis Taschenlampe tiefer unter die Erde folgten. Je weiter wir vordrangen, um so vollständiger wurde die Finsternis, bis mir vom angestrengten Sehen die Augen schmerzten. Zum erstenmal im Leben konnte ich mir vorstellen, was es bedeuten mußte, blind zu sein, und der Gedanke daran machte mir angst. Giovannis Licht war wie ein richtungweisender Finger. Wir mußten folgen.
Als wir zum erstenmal unter gegenseitigem Anrempeln haltmachten, starrten wir alle mit hervorquellenden Augen in dem Raum umher und auf die vielen Türöffnungen, die in andere Teile des Gewölbes führten. Während Giovanni sprach und die Verbrechen und Greueltaten der »Neroni Imperatori« ausmalte, kam es mir mit einem Frösteln zum Bewußtsein, wie notwendig es war, die Besucher vor dem Betreten zu zählen und sich dicht bei dem Mann mit der Taschenlampe zu halten. Völlig dunkel und labyrinthisch war Neros irrsinnig angelegter Palast eine todsichere Falle für verlorene Schafe.
Wir schlurften von Raum zu Raum und lauschten hingerissen den beredten Erzählungen des Italieners von den Legenden, die dieses geheimnisvollste aller römischen Baudenkmäler umgab, und ich wünschte im nachhinein, ich hätte auf John gewartet. Zehn Minuten hatten wir sechs uns bereits durch enge Flure und klamme Gemächer geschoben, als es passierte. Giovanni hatte gerade ein paar Spukgeschichten über Neros ruhelosen Geist zum Besten gegeben und führte die anderen aus dem Zimmer hinaus, während ich zurückblieb, um einen letzten Blick auf das vor mir liegende Wandgemälde zu werfen.
Im nächsten Augenblick spürte ich einen Schlag auf den Kopf, einen stechenden Schmerz und dann eine Schwärze, die noch finsterer war als die in Neros Goldenem Haus.