Mit den größten Befürchtungen und das Schlimmste ahnend, saß ich nur Stunden, nachdem ich Adeles Brief erhalten hatte, an Bord eines Flugzeuges der Alitalia. Zumindest - damit konnte ich mich trösten - wußte ich jetzt, wo meine Schwester sich aufhielt, und würde bald Antworten von ihr bekommen. Aus diesem Grund hatte ich Dr. Kellerman von Rom aus nicht angerufen. Ich wollte dieses Gespräch so lange aufschieben, bis ich Adele getroffen hatte, so daß ich ihm zumindest ein Rückreisedatum nennen konnte. Und doch saß in meinem armen, geschwollenen Hinterkopf eine nagende, kleine Angst, daß Adele mir abermals entwischen könnte, und die Aussicht, mich allein in Ägypten wiederzufinden, erschien mir weit gefährlicher als mein kurzer Aufenthalt in Rom. Während ich langsam den Rest meines dritten Glases Bourbon mit Wasser austrank, zog ich im Geiste Bilanz über meine Lage. Ein winziger Trost war, daß Achmed Raschid von meiner Abreise nicht unterrichtet war - dessen war ich gewiß -, und es beruhigte mich ein wenig, dem Zugriff dieses rätselhaften Mannes entronnen zu sein, dessen Gegenwart allein mich schon ganz nervös machte. Ein noch größerer Trost war, daß John Treadwell, nachdem er Adeles Mitteilung gelesen hatte, darauf bestanden hatte, mich zu begleiten. Und nachdem er sich erst einmal dazu entschlossen hatte, ließ er sich durch nichts davon abbringen. Er befand sich nämlich in dem festen Glauben, daß er nun ebenso tief in die mysteriöse Geschichte verwickelt sei wie ich und daß seine gefühlsmäßige Beziehung zu mir alle anderen Pläne, die er vielleicht vorher gehabt hatte, ausschließe. Diese glühende Beteuerung seiner Zuneigung zu mir war nicht ohne Wirkung auf mich geblieben. Es war lange her, daß ein Mann solche Gefühle für mich gezeigt hatte, und ich war davon gerührt. Zu sagen, daß ich John Treadwell liebte, wäre an diesem Punkt wohl zu früh gewesen, denn die Umstände erlaubten mir wirklich nicht, mich mit etwas anderem als mit Adele und ihrem verfluchten Schakal zu befassen. Indes wußte ich, daß ich mich wahrscheinlich nur zu leicht in John verliebt hätte, wenn wir uns unter normalen Umständen, in einer weniger angespannten Lage begegnet wären.
Wie die Dinge nun einmal standen, hatte seine Gegenwart an meiner Seite, während wir das Mittelmeer überflogen, eine beruhigende Wirkung auf mich. Es fiel mir leichter, meine Gedanken zu ordnen, meine finanzielle Situation abzuschätzen und sogar über mögliche Alternativen nachzudenken, falls Adele nicht zu finden wäre. »Vielleicht will sie einfach, daß Sie ihr um die Welt folgen«, meinte John.
Ich nickte und sah mein Spiegelbild in der Fensterscheibe, die von einem schwarzen Himmel hinterfangen wurde. Wir würden um drei Uhr morgens in Ägypten landen. »Es ist bestimmt nicht von Vorteil für Sie, John, daß Sie Ihre Arbeit einfach so im Stich lassen.« Er nahm meine Hand und antwortete beschwichtigend: »Das haben wir doch alles bereits durchgesprochen. Ich werde bei Ihnen bleiben, bis Sie Ihre Schwester gefunden haben. Ich bin zwar noch nie in Ägypten gewesen, aber ich kann mir denken, daß es nicht der geeignete Ort für eine alleinreisende junge Frau ist. In Kairo treiben sich bestimmt eine Menge finsterer Gestalten herum.« Ich nickte wieder und dachte dabei an Achmed Raschid. Abermals hatte ich beschlossen, John nichts von ihm zu erzählen. Er war in Rom zurückgeblieben, und ich war seinen nervtötenden, plötzlichen Auftritten entronnen. Warum sollte ich noch mehr Verwirrung in die Angelegenheit bringen?
Am internationalen Flughafen von Kairo, der fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt in der Wüste liegt, mußten für unsere Ankunft offensichtlich erst einige Leute extra geweckt werden, denn John und ich waren die einzigen Passagiere, die in Kairo von Bord gingen. Jede Menge uniformierte Araber, alle zuvorkommend und freundlich, waren zu unserer Abfertigung erforderlich, als wir durch den Zoll gingen, vorbei am Visum-Schalter, an einem Schalter der ägyptischen Nationalbank, an der Gesundheitskontrolle und so weiter. Während wir unser Geld in ägyptische Pfunde eintauschten, was uns den Erwerb befristeter Visa ermöglichte, wurden John und ich überall von freundlichen, lachenden Menschen begrüßt. Als wir dann endlich, nach zahlreichen Willkommensrufen und guten Wünschen in Arabisch und gebrochenem Englisch, in den Flughafen selbst entlassen wurden, liefen wir, behutsam einen Schritt vor den anderen setzend, über die Fußböden, die gerade mit peinlicher Sorgfalt gesäubert wurden. Wir hatten keine Schwierigkeit, vor dem Gebäude ein Taxi zu bekommen. Ein verschmitzt lächelnder Araber nahm unsere Koffer entgegen und ließ uns in sein kleines Auto einsteigen, das innen mit Blumen, Papiervögeln und bunten Gebetsketten geschmückt war. John sagte: »Shepheard’s Hotel«, und schon ging es los. Obwohl die Straßen zu dieser nächtlichen Stunde leer waren, empfand ich unsere Fahrt als qualvoll, vor allem wegen des mörderischen Tempos. Der Fahrer raste wie wahnsinnig, und mich beschlich das beklemmende Gefühl, daß es sich in dieser Stadt mit allem so verhalten könnte. Ich erinnerte mich an den haarsträubenden Verkehr in Rom und ahnte, daß ich in Kairo noch viel wachsamer sein mußte. Da es finstere Nacht war, sah ich vom Taxi aus wenig von Kairo, doch bemerkte ich vage, daß wir die ebene Wüste hinter uns gelassen hatten und durch ausgedehnte Vororte fuhren. Dann setzten wir unseren Weg durch enge Straßen fort, bis wir in der Innenstadt landeten. Dort fuhren wir um einen großen Platz herum, der von orangefarbenen Straßenlaternen spärlich erleuchtet wurde. Und als wir an einem gewaltigen, hoch aufragenden Gebäude vorüberkamen, streckte unser Fahrer den Zeigefinger aus und erklärte: »Hilton Hotel«, als erwartete er, uns damit zu beeindrucken. Zwei Häuserblocks weiter hielten wir vor dem Shepheard’s Hotel.
Trotz meiner Müdigkeit sprang ich geschwind aus dem Taxi, eilte die Stufen hoch, drückte die schwere Glastür auf und ging schnurstracks zur Anmeldung, wo ich einen dösenden Angestellten aus dem Halbschlaf schreckte. Zuerst murmelte er etwas in Arabisch, dann meinte er: »Willkommen in Kairo« und bedachte mich mit seinem freundlichsten Grinsen.
Auch ich verzog meinen Mund zu einem hoffnungsvollen Lächeln und stieß ein wenig atemlos hervor: »Können Sie mir die Zimmernummer von Miss Adele Harris nennen? Sie ist Amerikanerin. Adele. Harris.«
»Gewiß, Madam.« Er schlug ein dickes Buch auf, beugte sich über die letzte Seite und fuhr mit dem Finger die Zeilen hinunter. »Wie war doch bitte der Name?«
»Harris. H-a-r-r-i-s. Adele Harris.«
Ich beobachtete, wie der braune Zeigefinger sich Zeile um Zeile nach unten bewegte, wieder hochkam und abermals in der Spalte nach unten fuhr. Dann sah ich, wie die Augenbrauen des Arabers sich allmählich zu einem Stirnrunzeln zusammenzogen. Sein Lächeln verschwand, und seine nächsten Worte trafen mich wie ein Messerstich: »Ich bedaure, Madam, aber wir haben niemanden mit diesem Namen in unserem Hotel.«
»Doch« - ich wußte, daß ich träumte und jede Minute aufwachen würde -, »doch, sie ist bestimmt da. Sie hat mir geschrieben und mir mitgeteilt, daß sie hier wohne. Sehen Sie her!« Ich zog rasch ihren Brief aus meiner Handtasche und hielt ihn dem Angestellten beinahe anklagend unter die Nase. »Sehen Sie? Ihr eigenes Briefpapier.«
»Ja.« Er betrachtete aufmerksam den Umschlag. »Aber wo ihr Name steht, befindet sich keine Zimmernummer.« Er deutete auf den Absender. »Sie hat Ihnen ihre Zimmernummer nicht mitgeteilt.«
»Kann sie schon abgereist sein?«
»Ich werde für Sie nachsehen, Madam.«
Ungeduldig wartend lehnte ich an der geräumigen Rezeption mit ihren Postkarten von Pyramiden und Sphinxen. Irgendwo hinter mir tickte eine Uhr, und Fußtritte schlichen kaum hörbar über den blankpolierten Fußboden. Wann genau John sich zu mir gesellte, vermag ich nicht zu sagen, doch als ich voller Bangigkeit dastand und erwartungsvoll auf das Gästebuch starrte, fühlte ich plötzlich seine Hand beruhigend auf der meinen. Als der Hotelangestellte vom Empfang schließlich bedauernd meinte: »Wir hatten noch nie eine Miss Harris in unserem Hotel«, war ich den Tränen nahe. »Aber das kann doch gar nicht sein, verstehen Sie denn nicht?«
»Lydia«, ergriff John ruhig das Wort, »lassen Sie uns jetzt einfach ein Zimmer nehmen und das Problem morgen früh lösen.«
»Wäre es möglich, daß es noch ein zweites Shepheard’s Hotel gibt?«
»Nein, Madam«, versicherte der Angestellte, »dies ist eindeutig unser Briefpapier.« Er gab mir Adeles Brief zurück, und ich erkannte, daß es ihm ehrlich leid tat. »Warum sie sagt, sie sei hier, wenn sie es gar nicht ist«, er zuckte die Schultern, »das kann ich mir auch nicht erklären.«
»Wo ist sie nur?« heulte ich los. Die Rezeption fing an, sich vor meinen Augen zu drehen, und in meinem Kopf hämmerte es wieder. Der Schmerz war unerträglich. John führte mich zu einer Sitzgelegenheit und kümmerte sich um ein Zimmer. Ich war ihm dankbar dafür, daß er die Sache in die Hand nahm, aber im Grunde war es mir völlig gleichgültig. Adele hatte mich wieder in eine Sackgasse geführt.
Ein geschwätziger Page, der sein Schulenglisch an uns erprobte und uns alle möglichen Dienste anbot, um meinen Schmerz zu lindern, führte uns schließlich zu einem Hotelzimmer, das sich im achten Stock befand. Alles, was ich wollte, war, daß man mir meine Ruhe ließ. Nur zwölf Stunden zuvor war ich im Domus Aurea brutal niedergeschlagen worden und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mich davon zu erholen. Auch sah es nicht so aus, als ob ich mich in Kairo würde ausruhen können. Zumindest im Augenblick noch nicht.
John hätte seine Anteilnahme nicht deutlicher zeigen können. Er legte seinen Arm um mich, drückte mich sanft an sich und stützte mich so gut es ging, als wir den Flur zum Zimmer hinuntergingen. Den Pagen schickten wir so schnell wie möglich wieder weg, und John sorgte dafür, daß ich mich gleich auf die geräumige Hälfte des Doppelbettes legte, und dann zog er mir die Schuhe von den Füßen. Danach breitete er einen ganzen Haufen Wolldecken über mich. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Die Dunkelheit des Zimmers empfand ich als große Erleichterung, und ich war zu erschöpft, um zu widersprechen.
Nachdem er eine Weile leise im Zimmer hin- und hergelaufen war, um die Tür zu schließen, das Fenster einen Spalt breit zu öffnen und unsere Koffer im Wandschrank zu verstauen, kam John zu mir zurück und setzte sich auf die Bettkante. Ich konnte ihn nicht deutlich sehen, sondern nahm nur seine matten Umrisse wahr, die sich gegen die Dunkelheit abzeichneten. Aber ich spürte unter seinem geduldigen Schweigen das Lächeln auf seinem Gesicht. Als er mit der Hand behutsam über meine Stirn und meine Wangen strich, meinte ich, in seinen Augen eine gewisse Besorgnis zu erkennen. Als seine Lippen die meinen berührten, stellte ich mir das liebe Gesicht von John Treadwell vor und sah ihn ebenso klar vor mir, als hätte die Sonne geschienen.
Ich erwiderte seinen Kuß, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn an mich, so fest ich nur konnte. Ich klammerte mich an ihn und hielt ihn in meiner Angst und meiner Wut krampfhaft fest. Dann murmelte ich seinen Namen und fühlte, wie sein Körper sich an den meinen schmiegte. Er zog mich noch enger an sich heran, während unsere Küsse immer begieriger wurden. In diesem Augenblick konnte ich keinen Gedanken an Adele oder den Schakal oder Ägypten verschwenden. Da war nur noch John - unwiderstehlich und nahe. und erfüllte mich mit seiner Stärke.
Gleich darauf ließ er mich wieder los und legte mich auf das Kopfkissen zurück. »Nicht jetzt, Lydia«, flüsterte er, »ich möchte, daß du zuerst schläfst. Morgen sieht alles ganz anders aus.« Er küßte meine geschlossenen Augen, und ich spürte, wie er vom Bett aufstand. Die Leidenschaft erfüllte mich mit einer angenehmen Wärme und ließ meine Wangen glühen, aber ich war tatsächlich todmüde, und eine Sekunde später schlummerte ich friedlich ein.
Anfangs wußte ich nicht, wo ich war. Ich starrte zunächst geistesabwesend an die Zimmerdecke, während meine Gedanken allmählich klarer wurden. Ich lag völlig angekleidet im Bett. Mein Kopf schmerzte. Ich verspürte einen Bärenhunger. Zwischen den Vorhängen fielen einige schmale Lichtstrahlen ins Zimmer, und neben mir befand sich ein leeres, aber benutztes Bett. »Guten Morgen.«
Ich hob den Kopf. John stand vor mir und lächelte verschmitzt. »Fühlst du dich besser?«
Ich rieb mir die Augen. »Frag mich das in ein paar Tagen. Wie spät ist es?«
»Es geht schon auf Mittag zu.« Er setzte sich auf die Kante seines Bettes und musterte mich. »Ich bin den ganzen Morgen draußen gewesen, Lydia. Es tut mir leid. Nichts Neues von Adele.« Ich war nicht überrascht. Langsam und schwerfällig wälzte ich mich aus dem Bett und ging ins Badezimmer.
Das kalte Wasser auf meinem Gesicht wirkte Wunder. Während ich mich wusch und mir mit einer Bürste durchs Haar fuhr, spürte ich, wie sich mein Körper wieder belebte. Ich erinnerte mich auch an die Gutenachtküsse.
»Ich bin auf das amerikanische Konsulat und anschließend zum Büro von American Express gegangen«, hörte ich John aus dem anderen Zimmer sagen. »Ich habe in allen größeren Hotels nachgeforscht und mich schließlich an die Polizei gewandt. Sie waren alle äußerst bestrebt zu helfen, konnten aber nicht viel ausrichten.« Ich schnitt eine Grimasse und sah mich nach dem Röhrchen mit Aspirin um.
»Eines habe ich jedoch erfahren: Daß deine Schwester zweifellos nach Ägypten gekommen ist.« Ich streckte den Kopf aus der Tür. »Was?«
»Du erinnerst dich doch an all die Schalter, die wir letzte Nacht auf dem Flughafen passieren mußten? Jeder Besucher, der in Ägypten ankommt, muß durch dieselben Kontrollen gehen und dieselben Formulare ausfüllen. Deine Schwester bildete da keine Ausnahme. Die Polizei hat sie als Touristin registriert, die hier vor vier Tagen eingetroffen ist. Nach Aussagen der Visum-Kontrolle kam sie hier tatsächlich zwei Tage, nachdem sie das Hotel Palazzo Residenziale verlassen hatte, an, wenn es stimmte, was man dir am Telefon gesagt hat.« »Demnach ist Adele mitten in der Nacht aus dem Palazzo Residenziale abgereist und zwei Tage später hier aufgekreuzt. Wo aber war sie in der Zwischenzeit?«
»Du hast mich verstanden.«
»Konnte man dir sagen, ob sie noch immer hier ist?«
»Soviel sie wissen, hat sie das Land noch nicht verlassen. Aber es kommt noch besser, Lydia: Die Polizei will die Fluggesellschaften für uns überprüfen. Wir werden bald herausfinden, ob sie sich wieder aus dem Staub gemacht hat.«
»Aber wahrscheinlich ist sie noch in Ägypten!«
»Es ist ein großes Land, Lydia, und Kairo ist die größte Stadt Afrikas. In dieser Stadt kann man nur allzu leicht untertauchen. Sie könnte überall sein.«
»Aber sie ist doch hier und weiß, daß sie mich in diesem Hotel finden wird. Alles, was ich tun muß, ist warten, bis sie zu mir kommt.«
»Vielleicht ist es nicht das Klügste, einfach hier herumzusitzen.« Er erhob sich vom Bett und faßte mich an den Armen. »Du warst in Rom in großer Gefahr, Lydia«, meinte er in ernstem Ton, »und du bist es hier wahrscheinlich noch mehr. Ich denke nicht, daß du bleiben solltest.«
»Soll ich vielleicht heimfliegen? Unter gar keinen Umständen!« Schließlich hatte ich Achmed Raschid ja abgeschüttelt. »Ich bin vollkommen sicher.«
»Das sagtest du auch in Rom. Du bist aber nicht sicher, solange du den Schakal hast. Ich meine, du solltest ihn besser loswerden, Lydia.«
»Nein! Ich habe wegen dieses kleinen Schurken schon viel durchgemacht. Gerade jetzt werde ich nicht aufgeben.«
»Aber verstehe mich doch, ich meine, du kannst ihnen doch den Schakal überlassen - wer immer sie auch sind - und dann nach Adele suchen.«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Der Weg zu Adele führt über dieses Stück Elfenbein. Solange ich es habe, besteht immer eine Verbindung zwischen meiner Schwester und mir.
Schließlich wird sie ja auch irgendeinen Grund gehabt haben, mir diesen Schakal zu schicken. Gäbe ich ihn auf, würde ich vielleicht auch die Chance aufgeben, sie je wiederzufinden.«
»Dann laß mich ihn zumindest für dich verwahren. Ich kann ihn verstecken.«
Ich schüttelte abermals entschieden den Kopf. »Dieser Schakal und ich sind zusammen um die halbe Welt bis hierher gekommen, und er ist so sicher wie eh und je. Ich bin imstande, ebensogut auf ihn aufzupassen wie auf mich selbst, John.«
»O Lydia. Schon gut, du hast gewonnen.« Spontan schlang er die Arme um mich und küßte mich. »Es hat offensichtlich keinen Zweck, in dieser Hinsicht auf dich einwirken zu wollen.« Und dann fügte er hinzu: »Ich glaube, daß ich mich diesem Ding mittlerweile ebenso verschrieben habe wie du. Was auch immer dahinterstecken mag.« Ich küßte ihn für diese letzten Worte. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, was ich die ganze Zeit über ohne John getan hätte. Und obgleich ich es allein wohl auch irgendwie geschafft hätte, wäre bestimmt nicht alles so glatt gelaufen. Ich war ihm zu großem Dank verpflichtet.
»He, weißt du was? Ich habe diesen Schakal, für den ich Leib und Leben riskiere, noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht.«
»Dann ist es wohl an der Zeit, euch miteinander bekannt zu machen.« Doch als ich mich eben von ihm entfernen wollte, um den Schakal aus seinem Versteck in meinem Koffer hervorzuholen, vernahm man ein lautes Klopfen an der Tür. Indem er so etwas vor sich hin brummte wie: »Wahrscheinlich das Zimmermädchen«, riß er die Tür auf und gab den Blick frei auf Achmed Raschid, der draußen im Hotelflur stand.
»Guten Tag, Miss Harris«, grüßte er höflich näselnd. Mich konnte er nicht täuschen, aber zunächst war ich völlig überrumpelt und brachte es gerade noch fertig, hallo zu sagen. Dann stellte ich mich neben John in Positur und legte meine Hand auf seinen Arm. »Ich hoffe, daß es Ihnen nicht an Komfort fehlt?« Sein Benehmen war auf trügerische Weise zuvorkommend.
»Nicht im geringsten, danke.«
Raschids Augen waren wieder hinter der Sonnenbrille verborgen, und ich war dankbar dafür.
John warf mir einen seltsamen Blick zu und musterte dann den vor uns stehenden Araber. »Ist das ein Freund von dir, Lydia?«
»Nein, das ist er nicht. Nur jemand, dem ich in Rom begegnet bin.« Ich konnte nicht zu ihm aufsehen. Ich war zu mitgenommen. »Ich hoffte, mit Ihnen allein sprechen zu können, Miss Harris«, fuhr Achmed Raschid fort.
»Das ist nicht möglich. Und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, worüber wir uns unterhalten sollten.«
»Ach nein?« Er lächelte heimlichtuerisch. »Vielleicht habe ich den falschen Zeitpunkt gewählt.«
»Jeder Zeitpunkt ist der falsche, Mr. Raschid. Ich lege keinen Wert darauf, mit Ihnen zu reden.« Ich begann, die Tür zu schließen. »Sie befinden sich im Irrtum, Miss Harris.«
»Hören Sie zu, Mister«, mischte sich John nun ein, »Miss Harris will Sie nicht sehen. Ich denke, das hat sie deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Nehmen Sie nun freundlicherweise Ihren Fuß aus der Türöffnung, oder Sie werden gleich meine Faust im Gesicht spüren.«
»Es besteht kein Grund, Gewalt anzuwenden, Mr. Treadwell. Ich gehe schon. Für den Fall, Miss Harris, daß Sie es sich, was eine Unterhaltung mit mir anbelangt, doch noch anders überlegen sollten, werde ich an der Rezeption eine Telefonnummer hinterlassen.« An dieser Stelle knallte John ihm die Tür vor der Nase zu und fluchte leise. »Wer ist der Kerl, Lydia, und was will er? Woher kannte er meinen Namen?«
»Diese ganze Sache ist einfach furchtbar, John. Und mein Kopf schmerzt ganz scheußlich. Können wir bitte irgendwo einen Kaffee trinken gehen?«
Ich zog mich um und machte mich frisch, bevor wir uns in das Hotelrestaurant aufs Dach begaben. Während wir von liebenswürdigen Ägyptern bedient wurden und durch die weit geöffneten Fenster einen herrlichen Blick auf die Stadt genossen, fühlte ich mich weitaus besser und war in der Lage, John die ganze Geschichte von Achmed Raschid zu erzählen, ohne sie mit übertriebenen Ängsten und Vermutungen auszuschmücken. »Ich wünschte, du hättest mir eher von ihm erzählt«, meinte John stirnrunzelnd. »Er scheint eine Menge über dich zu wissen. Ich frage mich, woher er mich kennt und welche Rolle er bei dieser Schakal-Sache spielt.«
Ich fingerte nervös an dem Riemen meiner Handtasche herum, drehte und knotete ihn. Darinnen, sicher auf meinem Schoß und in ein Halstuch gewickelt, befand sich der Schakal. Ich wußte, daß es reine Einbildung war, aber die Handtasche schien mit jedem Tag schwerer zu werden.
»Zumindest war er nicht derjenige, der mich gestern niederschlug. Dessen bin ich sicher. Der Führer im Domus Aurea zählt alle Leute, die hineingehen, und niemand kann die Gewölbe betreten, ohne zur Gruppe zu gehören. Mr. Raschid gehörte nicht zur Gruppe.«
»Aber er könnte immerhin derjenige gewesen sein, der dein Zimmer durchsucht hat.«
»Ich weiß nicht, John, irgendwie glaube ich nicht daran. Es ist etwas Merkwürdiges an ihm. Wenn er nur hinter dem Schakal her wäre, hätte er ihn jetzt sicher schon bekommen. Auf die eine oder andere Tour. Mit ihm hat es mehr auf sich. Es kommt mir fast so vor, als wartete er darauf, daß ich ihn zu Adele führe.« John schmierte gleichgültig Butter auf ein Hörnchen. »Was soll denn das heißen?«
»Ich weiß nicht. Nur daß es hier um etwas Wichtigeres als um den Schakal geht. Wie wenn Adele auf etwas ganz Bedeutendes gestoßen wäre und gewissen Leuten ebensoviel daran läge, sie zu finden, wie mir.«
»Wenn sie nicht den Schakal wollen, warum ist dann dein Zimmer durchsucht worden?«
»Schon wegen des Schakals, John, doch nur um ihn als Hinweis auf Adeles Aufenthaltsort zu benutzen. Irgendwie denke ich, daß sie glauben, der Schakal werde sie zu meiner Schwester führen.«
»Klingt furchtbar an den Haaren herbeigezogen, Lydia.« Er nippte an seinem Kaffee und starrte dabei auf einen Punkt über meiner Schulter.
»Ich weiß, aber nur so läßt sich diese ganze Odyssee erklären. Irgendwie drängt sich mir der Gedanke auf, daß jedermann darauf wartet, daß ich Adele finde. Ich weiß nicht.«
Ich nahm noch ein Stückchen von der faden Ziegenmilchbutter und strich sie auf ein Brötchen, wobei ich mich in dem riesigen Speisesaal umsah. Zu dieser Tageszeit nur halb besetzt, strahlte er eine Atmosphäre von Vertraulichkeit und Abgeschiedenheit aus. Die Kellner standen allzeit bereit an der Seite, um uns den geringsten Wunsch sofort zu erfüllen, während die anderen Touristen - in der Mehrheit Franzosen - sich leise unterhielten.
Da bemerkte ich den dicken Mann. Halb verborgen hinter einer Topfpalme, schien er uns sehr eingehend zu beobachten. Doch was mich wirklich in Aufregung versetzte - in gewisser Weise hatte ich mich schon damit abgefunden, bespitzelt zu werden -, war, daß mir dieser kleine, dicke Mann irgendwie bekannt vorkam. Diese riesigen Brillengläser, die so aussahen wie die Böden von Colaflaschen. »John«, ich nickte in die Richtung hinter ihm und versuchte, mich dabei unauffällig zu verhalten, »hast du diesen Mann schon einmal gesehen?«
Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Welchen Mann?« Ich deutete auf die Pflanze, aber er stand nicht mehr dort. »Da ist jetzt niemand mehr. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.«
»Tatsächlich? Wie sah er aus?«
»Ach komm, laß gut sein. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.«
Während die Beule an meinem Kopf allmählich zurückging, hatte ich noch immer unter den Auswirkungen zu leiden. Als wir fertig waren, wünschte ich mir daher nichts sehnlicher, als mich wieder in meinem Zimmer hinzulegen.
»Du wirst dir sicher Kairo ansehen wollen«, meinte John, als wir zu den Aufzügen gingen.
»Natürlich will ich das. Aber nicht jetzt. Ich muß meinen Kopf eine Zeitlang schonen.«
Das sah er ein und begleitete mich zurück aufs Zimmer. »Nur keine Bange, Lydia, und mach dir keine Sorgen wegen dieses komischen Vogels Achmed Raschid. Ich werde ihn nicht an dich heranlassen. Jetzt schläfst du, und ich werde nachsehen, was die Polizei herausgefunden hat.«
Ich machte mir nicht die Mühe, mich auszuziehen, sondern legte mich sofort aufs Bett. John zog die Vorhänge zu, gab mir einen Kuß und hängte das Bitte-nicht-stören-Schild vor die Tür. Doch ich konnte keinen Schlaf finden. Obwohl ich dem
Hämmern in meinem Kopf wieder mit Aspirintabletten entgegenzuwirken versuchte, ließen mir die wild auf mich einstürmenden Gedanken keine Ruhe. Zwei Fragen plagten mich vor allem: Warum war mir Achmed Raschid nach Kairo gefolgt und worüber sollte ich mich seiner Meinung nach mit ihm unterhalten wollen? Und wer war dieser beleibte Mann, der mich offensichtlich überwachte und der mir so bekannt vorkam?
Nach einer halben Stunde gab ich ungeduldig auf und beschloß, nach unten zu gehen. Wenn Adele gefunden und das Rätsel gelöst werden sollte, hatte es bestimmt nicht viel Sinn, in einem dunklen Zimmer zu liegen und darauf zu warten, daß die Antworten von selbst kämen. Obwohl ich mir völlig bewußt war, daß ich möglicherweise im Begriff war, eine Verrücktheit zu begehen, ich hatte beschlossen, Achmed Raschid anzurufen.
Während ich im Aufzug nach unten fuhr, fiel es mir nicht schwer, Vernunftgründe zu finden, die diesen Anruf rechtfertigten. Zunächst einmal glaubte ich ohnehin nicht, daß ich Mr. Raschid in Kairo auf Dauer würde aus dem Weg gehen können. Und zum zweiten war ich sicher, daß er etwas von Adele wußte, und brannte darauf zu erfahren, warum er hinter ihr her war.
Dies waren jedenfalls meine Gedanken, als ich aus dem Fahrstuhl in die Empfangshalle trat. Und diese Gedanken beschäftigten mich auch noch, als mein Blick auf John Treadwell fiel, der an der Rezeption stand und eine angeregte Unterhaltung mit dem dicken Mann führte, der mich bespitzelt hatte. Ich blieb jäh stehen. Schnell zog ich mich in eine Nische zurück, von der aus ich nicht gesehen werden konnte. Und da fiel es mir plötzlich wieder ein, warum der beleibte Mann mir so bekannt vorgekommen war. Er war einer aus der Gruppe vom Domus Aurea. Kurz darauf gingen sie gemeinsam weg und stiegen leise lachend in einen Fahrstuhl ein. Ich muß eine Zeitlang wie erstarrt dagestanden haben, denn ich konnte mir nicht vorstellen, was John und der dicke Mann einander wohl zu sagen haben mochten. Aber noch verwirrender war ihr Verhalten gewesen: als wären sie nicht Fremde, sondern Freunde.
Natürlich vergaß ich darüber völlig mein Vorhaben, Achmed Raschid anzurufen, und beschloß statt dessen, mich zu John und seinem korpulenten Freund zu gesellen. So ruhig ich konnte, beobachtete ich, wie die Leuchtanzeige über dem Aufzug immer höher kletterte, bis sie ganz oben stehenblieb. Darauf nahm ich den nächsten Aufzug und drückte Nummer acht. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich oben anlangte, und ich spürte, wie meine Hände feucht und klamm wurden. Etwas, das man gemeinhin weibliche Eingebung nennt, begann die Vorherrschaft über meinen Verstand zu gewinnen und mir wahnsinnige Gedanken in den Kopf zu setzen. Denn ich fragte mich: Wenn der dicke Mann mit mir zusammen im Domus Aurea war, was tat er dann hier in Kairo, und wie kam es, daß er sich mit John so vertraulich unterhielt? Obgleich die Antwort für jeden anderen klar ersichtlich gewesen wäre, weigerte ich mich, daran zu glauben oder auch nur daran zu denken. Statt dessen erfand ich eine unausgegorene Theorie, nach der John den dicken Mann möglicherweise darauf angesprochen hatte, warum er uns nachspionierte.
Zahllose Gedanken gingen mir in diesem Augenblick durch den Kopf, doch keiner davon war auch nur im entferntesten vernünftig. Die Ereignisse folgten einfach zu schnell aufeinander. Die Zeitverschiebung, die Erschöpfung und zahlreiche ungewohnte Belastungen führten bei mir zu einem vernunftwidrigen Verhalten. Im achten Stock war es still und ruhig. Kein Geräusch drang von irgendwoher. Die Zimmermädchen waren schon dagewesen und wieder gegangen, und die Gäste hatten das Hotel verlassen, um die Stadt zu genießen. Da ich keinen Wert darauf legte, mein Kommen anzukündigen, schlich ich leise über den roten Teppich und schaute mich nach allen Seiten um.
Alle Türen waren geschlossen, mit Ausnahme der einen am Ende des Ganges, die einen kleinen Spalt offenstand.
Versuchsweise stieß ich sie vorsichtig auf. Seltsam, aber ich war nicht sonderlich überrascht, als ich John mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden liegen sah. Diese ganze Geschichte war so lächerlich und gleichzeitig so verteufelt. Sie glich einem Alptraum, bevölkert mit jungenhaften Börsenmaklern, geheimnisvollen Arabern und fettleibigen Männern mit dicken Brillen. John Treadwell lag bewußtlos auf dem Boden, und es schien ganz normal zu sein, daß auch ich in Ohnmacht fallen sollte. Ich sagte: »O John«, doch im gleichen Augenblick wurde mir schwarz vor Augen, und ich fiel neben ihn auf den Boden.