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Die Stimmung im Kontor war die gleiche wie ein paar Tage zuvor, von emsiger Betriebsamkeit. Und doch war es grundlegend anders für Jakob, mit einem respektvollen Handschlag als Sohn des Firmengründers begrüßt zu werden, bevor die Angestellten flugs an ihre Schreibtische zurückkehrten, um Frachtpapiere, Bestellungen und Rechnungen zu bearbeiten. Hier war Zeit spürbar jeden Pfenning wert.

Im Korridor zögerte Jakob. Zu einer Sitzung des Vorstands sollte er Grischa begleiten, um Geschäftsluft zu schnuppern und schon einen Teil der Familie kennenzulernen; jetzt war ihm nicht mehr wohl dabei.

»Ich glaube, ich bin noch nicht so weit.«

»In Ordnung.« Ermunternd drückte Grischa Jakobs Schulter. »Hier, warte in meinem Büro auf mich.«

Sobald sich die Tür hinter Jakob geschlossen hatte, atmete er auf.

Zwischen den Seestücken und gerahmten Karten an den Wänden verteilten sich nautische Instrumente, vom Salz und der Zeit angenagt, das eine oder andere Buddelschiff. Für Jakobs Empfinden seltsam unpersönliche Erinnerungsstücke. Wie die großzügige Wohnung in Altona ein ausgeworfener Anker, der jederzeit wieder gelichtet werden konnte.

Sein Vater. Die längste Zeit ein formloser Schatten am Rand von Jakobs Gesichtsfeld, musste er sich erst an den Mann aus Fleisch und Blut gewöhnen. Noch unsicher, ob er das überhaupt wollte.

Sein Blick fiel auf den Klingelzug an der Wand. Für einen Kaffee oder etwas anderes sollte er einfach jemanden von den Angestellten rufen, hatte Grischa ihm noch zugeworfen, bevor er davoneilte.

Tischlein deck dich.

Jakob vergrub die Hände in den Hosentaschen.

Vom Fenster aus hatte er einen guten Blick über Hamburg. Eine hoch aufwogende See aus Stein, durch die Grischa Voronin mit der Selbstsicherheit eines Wals pflügte, Jakob in den letzten Tagen wie ein großäugiger Hering in seinem Schlepptau.

Wie er Hamburg gerade erlebte, so ungefähr hatte er sich New York vorgestellt. Überschwappend und laut, ein Sammelbecken für Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Ein fortwährender Jahrmarkt, und nirgendwo in der Stadt drehte sich das Karussell schneller als im Hafen. Als Jakob sich dort nach den Kursplänen und Formalitäten für seine Auswanderung erkundigt hatte, hatte er die Menschenmengen gesehen, die sich mit Sack und Pack auf den Kais zusammendrängten. Hauptsächlich junge Männer wie er selbst, aber auch ganze Familien, die noch kleinen Kinder auf dem Arm oder an der Hand, manchmal mit einer Großmutter, einem Großvater dabei. Die Gesichter nach einer frischen Brise der Hoffnung gereckt, warteten sie darauf, eines der Schiffe zu besteigen, von denen kein einziges groß genug aussah, um sie alle fassen zu können.

Auch Grischa war damals aus Russland geflohen, vor der Armut und der Zwangsjacke der Leibeigenschaft. Jakob selbst hatte zwar nie Hunger gelitten, aber auch nie mehr erreicht, als von der Hand in den Mund zu leben. Im puppenstubengleichen Lüneburg, in dem er sich schon als Halbwüchsiger dauernd den Kopf, den Ellbogen angestoßen hatte. Nur wenn er aus der Stadt hinausgewandert war, hatte er sich frei gefühlt. Jenseits der von akkuraten Hecken und Baumreihen eingegrenzten Felder und Weiden, draußen in den Auen, wo die Elbe die Wiesen tränkte und im Himmel aufging, zwischen Weißstörchen und Graureihern, dem Kiebitz und der Heidelerche. Ein Menschenjunges, das sich nach einem eigenen Paar Flügeln verzehrte.

Jakob musterte Grischas Schreibtisch, das Holz warm schimmernd wie lange durchgezogener Tee. Eine Versuchung war es, sich daran zu setzen, einfach, um es einmal auszuprobieren. Doch die wahre Verlockung ging von dem wuchtigen Sofa aus, das Leder unter Jakobs Hand dunkel glänzend wie Zuckerrübensirup und genauso geschmeidig. Genau richtig fühlte es sich an, als er sich darauf niederließ, nicht zu hart und nicht zu weich. Luxuriös. Weltmännisch.

In Lüneburg war für Jakob Reichtum etwas Ungreifbares gewesen, hinter den Fenstern der Salzbarone und Tuchfürsten nur zu erahnen. Seit er in Hamburg war, konnte er den Reichtum fühlen und schmecken, und er roch wie dieses Sofa hier, nach weichem Leder und Zigarrenrauch und frisch geröstetem Kaffee.

Verwegen und fast schon unverschämt kam er sich vor, als er sich der Länge nach ausstreckte, um ganz in diesem geborgten Gefühl zu versinken.


Mit heißen Wangen warf Cathrin einen letzten Blick auf die Papiere vor sich, zu aufgeregt, um sich zu setzen. Es war das erste Mal, dass sie an den runden Tisch gerufen hatte, der bei Petersen & Voronin wörtlich zu nehmen war. Kein Geschäftsabschluss, keine Entscheidung in all den Jahren, die nicht an diesem Möbel aus schwerem und hartem Walnussholz stattgefunden hätten.

»Ich habe euch hierhergebeten«, richtete sie ohne Umschweife das Wort an Ludger, Grischa und Christian, »weil mir einige anstehende Transaktionen der Firma aufgefallen sind. Danke, dass Sie sich ebenfalls die Zeit genommen haben, Herr Overbeck.«

Der Prokurist deutete nur ein Nicken an, vermutlich ließ sein übersteifer Kragen keine größeren Bewegungen zu. Angelegentlich rückte er den Kneifer auf der dünnen Nase zurecht und zückte dann vorsorglich seinen Bleistift.

»Vor allem der geplante Kauf von Eisenbahnanleihen in Nordamerika ist mir ins Auge gestochen«, sprach Cathrin weiter.

»Der Eisenbahn gehört die Zukunft.« Ludger gab sich nachsichtig.

Der große Brand hatte in der Stadt eine Schneise zur Moderne geschlagen. Heute verband die Eisenbahn nicht nur über die abermals neu gebaute Lombardsbrücke Hamburg mit Altona, sondern in die andere Richtung auch mit Lübeck und Berlin. Sogar einen eigenen Güterbahnhof gab es inzwischen, mit einer Anbindung zum jüngst eröffneten Sandtorhafen.

»Ich weiß«, erwiderte Cathrin ungerührt. »Aber warum sollten wir in Amerika investieren und nicht hier in Deutschland?«

»Weil der amerikanische Kontinent unvorstellbar groß ist«, erklärte Ludger, der sich eine Menge darauf einbildete, schon dort gewesen zu sein, in New York und San Francisco. »Um die Distanzen dort zu überwinden, benötigt es viele Eisenbahnlinien. Sind die erst einmal in Betrieb, wird der Transport von Gütern und Menschen ungeahnte Profite einfahren.«

Ein Stichwort für Cornelius Overbeck.

»Bereits jetzt, knapp zwei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs«, erläuterte er, »zeichnet sich ein wirtschaftlicher Aufschwung Amerikas ab. Ist der Wiederaufbau erst einmal in vollem Gange und sind die Südstaaten wieder angeschlossen, wird Amerika eine nicht zu unterschätzende Wirtschaftsmacht sein.«

Cathrin durchblätterte eine Handvoll der Aufstellungen.

»Das sehe ich hier aber nirgends. Nur, dass wir viel Geld ausgeben und als Gegenwert ein nichtssagendes Stück Papier erhalten. Das ist noch nicht einmal eine Aktie oder etwas Ähnliches.«

Lächelnd lehnte Ludger sich zurück. Das Vermögen der Firma zu mehren fiel größtenteils in sein Aufgabengebiet.

»Derartige Geschäfte laufen immer nach diesem Prinzip ab.«

Cornelius Overbeck nickte zustimmend.

»Wie anno siebenundfünfzig?«, hakte Cathrin nach. »Als die Hamburger Kaufleute den Hals nicht voll kriegen konnten? Wechsel in Millionenhöhe waren damals im Umlauf. Ein kleiner Windstoß genügte, um das Kartenhaus weltweit in sich zusammenfallen zu lassen, und am Ende waren etliche ursprünglich solide Unternehmen bankrott.«

»Da hat jemand seine Hausaufgaben gründlich gemacht«, sagte Ludger schmunzelnd.


Stumm vor Staunen beobachtete Christian die junge Frau, die selbstbewusst vor ihnen stand und herausfordernd infrage stellte, was für die erfahrenen Geschäftsmänner beschlossene Sache war.

Seine Tochter.

Mit hochgekrempelten Blusenärmeln hatte Cathrin sich in den Geschäftspapieren und Bilanzen vergraben, Cornelius Overbeck mit Fragen bestürmt und die Buchhalter ins Kreuzverhör genommen. Nicht ein einziges Mal war sie deswegen zu ihm gekommen.

Ausgetrickst fühlte er sich. Katya hatte genau gewusst, was sie tat, als sie Cathrin die Schlüssel und ihren Segen gab und sich dann aus dem Staub machte. Der Gedanke, Katya versuchte womöglich, mittels Cathrin die Oberhand zu gewinnen oder gar späte Rache zu nehmen, ließ den Kaffee in seinem Mund sauer schmecken.

»Wenn wir solche Wagnisse gescheut hätten«, gab er jetzt dürr von sich, »wären wir nie über den Gemischtwarenladen hinausgekommen. Sofern wir ihn überhaupt hätten halten können.«

»Jedes Geschäft birgt ein Risiko«, ließ sich Grischa neben der Tür vernehmen, seine Tasse auf dem niedrigen Schrank abgestellt. Er zog es grundsätzlich vor, im Stehen zuzuhören und zu diskutieren. »Als wir damals mit dem Eis anfingen, haben uns nicht wenige für verrückt erklärt. Und das Einzige, was in den ersten Jahren wuchs, war unser Schuldenberg.«

»Euer Risiko lag jedoch immer außerhalb des eigentlichen Geschäfts«, hielt Cathrin dagegen. »Wie damals, als ihr die Maiden of the Seas verloren habt. Nie im Handel selbst. Gekauft und verkauft habt ihr nur das, was wirklich handfest ist. Eis. Seide und Baumwolle und Leinen, Kaffee und Gewürze. Später dann Grundstücke und Gebäude.«

»Die Zeiten haben sich geändert«, bekundete Ludger.

»Darauf will ich hinaus«, fuhr Cathrin fort. »Unsere Zeit ist schnelllebiger und unsicherer geworden, die Welt kleiner. Keiner weiß, wann die nächsten Unruhen ausbrechen oder der nächste Krieg und wie sich das auf den Handel auswirkt. Wann es wieder zu einem Kurssturz an der Börse kommt, in Hamburg, London oder New York. Ob wir rechtzeitig davon erfahren und reagieren können, bevor die Pleitewelle auch unser Geschäft erfasst. Daher können wir es uns nicht leisten, unser Geld in den Eisenbahnbau in der amerikanischen Pampa zu stecken oder in diese Bauvorhaben in Wien, die noch nicht einmal durchgeplant sind. Das sind doch alles Luftschlösser!«

Klatschend landete der Papierstoß auf dem Tisch.

Seine kräftigen Zähne entblößt, lachte Ludger laut.

»Da heißt es immer, die jungen Leute wollen die Welt verändern. Und jetzt will diese junge Dame hier aus einem florierenden internationalen Unternehmen wieder eine Klitsche machen. Aus Angst!«

»Das war respektlos, Ludger«, stutzte Grischa ihn zurecht. »Sowohl Cathrin gegenüber als auch uns, die wir diese sogenannte Klitsche gegründet und groß gemacht haben.«

Ludger verkroch sich in beleidigtem Schweigen.

»Die Entscheidungen der Großen und Mächtigen haben wir nicht in der Hand«, fuhr Grischa zwischen zwei Schlucken Kaffee fort. »Aber bislang haben sich alle politischen Umwälzungen für uns bezahlt gemacht. Mit dem ersten Opiumkrieg haben wir einen Fuß in die Tür zu China bekommen, mit dem zweiten diese dann endgültig aufgestoßen. Der Aufstand in Indien hat nicht nur Madras und sein Hinterland verschont, sondern unseren Marktanteil auf dem Subkontinent sogar noch gestärkt. Und mit Hongkong und Singapur haben wir gleich zwei neue Standbeine.«

»Du kannst nicht immer nur darauf setzen, dass die Zeit für uns arbeitet, Onkel Grischa. Auf reines Glück.«

»Kann ich nicht?«

Ein Funke der Erheiterung sprang zwischen Cathrin und Grischa hin und her. Eine solche Leichtigkeit hätte Christian sich auch im Umgang mit seiner Tochter gewünscht, aber nie erreicht.

»Wenn du etwas Handfestes willst«, mischte Ludger sich wieder ein, »dann investieren wir doch am besten in Waffenfabriken. Das ist ein todsicheres und krisenfestes Geschäft. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

Beifallheischend blickte er in die Runde.

Die Narbe, die der Krimkrieg im Gedächtnis der Welt hinterlassen hatte, begann gerade zu verblassen, zehn Jahre danach. Eine ganze Generation von Mädchen namens Alma wuchs heran, ohne zu wissen, dass sie nach einer Schlacht benannt worden waren, genauso wie ein Dutzend Brücken, Plätze und Ortschaften auf der ganzen Welt.

Im Kern war es ein verspäteter Kreuzzug um die heiligen Stätten Jerusalems gewesen, der sich schnell als Feuerwalze zwischen Ost und West durch die Landkarte fraß. Eine bis dato ungekannte Maschinerie aus Sprenggranaten, Unterwasserminen und präzisen neuen Schusswaffen drehte die Soldaten durch den Fleischwolf; die Männer Frankreichs, Großbritanniens und des Osmanischen Reiches auf der einen Seite der Schützengräben, die Russlands auf der anderen. Der erste Krieg, der in Bildern und gedruckten Worten die Menschen zu Hause in ihren Lehnsesseln erreichte, und der erste, der durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und den Telegraphen gewonnen wurde.

Die wahren Sieger des Krieges aber hießen Hunger und Durst, Seuchen und Wundbrand. Ein finsteres Kapitel in diesem langen Jahrhundert, in das auch Florence Nightingale und ihre Krankenschwestern nur ein winziges Lichtlein hatten tragen können.

»Auf keinen Fall!«, rief Cathrin aus. »Das ist moralisch nicht vertretbar, daran machen wir uns nicht die Hände schmutzig. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir auch niemals während des Krieges die amerikanischen Südstaaten mit Eis beliefert.«

Christian zuckte mit den Schultern. »Wenn wir es nicht gewesen wären, hätte sich ein anderer eine goldene Nase damit verdient.«

»Es war nicht recht«, widersprach Cathrin. »Dadurch haben wir den Süden unterstützt und uns an der Sklaverei mitschuldig gemacht.«

»Unsinn!«, polterte Ludger. »Die Sklaverei war schon zum Untergang verurteilt, bevor der erste Schuss des Krieges abgefeuert wurde. Unser Eis hat dabei nicht die geringste Rolle gespielt.«

Cathrin blieb störrisch. »Trotzdem war es nicht recht. Und illegal noch dazu.«

»Ich für meinen Teil habe liebend gern den Blockadebrecher gespielt«, gab Grischa heiter zurück.

Ein launiges Gedankenspiel war es gewesen, wie so oft zu später Stunde im Kontor. Über ein paar Gläsern und den Nachrichten aus der Welt, von denen jede ein drohendes Unwetter oder eine Flaute ankündigen konnte, die einen Kurswechsel nötig machte, manchmal aber auch einen frischen Wind mitbrachte.

Der Bruderkrieg im fernen Amerika hatte den Güterverkehr entlang der Mason-Dixie-Linie unterbrochen. Auch für das Eis aus den Flüssen und Seen von Massachusetts und Maine, das den Mint Julep auf der Veranda des schwülen Südens kalt hielt, das Fleisch für die geselligen Barbecues der Plantagen frisch. Nachdem Frederic Tudor und seine amerikanischen Konkurrenten ihr Monopol über Jahrzehnte hinweg verteidigt hatten, war es schlagartig im Pulverdampf zwischen Manassas und Gettysburg zerstoben. Ein Vakuum, das nur darauf wartete, dass jemand anders es füllte. Ein Abenteuer, für das Grischa und Christian sofort Feuer und Flamme gewesen waren. Gegen den Widerstand Katyas, und von Thilo nur widerwillig geduldet, aber der fette Gewinn aus diesen Schmuggelfahrten hatte ihnen recht gegeben.

»Gerade dir hätte es doch ein Anliegen sein müssen, dass der ausbeuterische Süden so schnell wie möglich in die Knie geht«, hielt Cathrin Grischa vor.

Grischa nickte. In Russland landlos und unfrei geboren, hatte er die Nachricht, dass das schwächelnde Zarenreich die Leibeigenschaft aufgehoben hatte, auf seine Weise gefeiert. Jedem Angestellten und Arbeiter hatte er einen Bonus ausgezahlt und den restlichen Tag freigegeben.

»Aber gerade ich weiß, dass viele Wege zum Ziel führen. Und nicht immer ist der kürzeste auch der beste.«

Ludger knurrte etwas von der heiligen Johanna, Revoluzzern und kommunistischen Ideen in sich hinein.

»Ludger, es reicht«, murrte Christian. Streitgespräche wie diese erschöpften ihn seit einiger Zeit.

Ludger schwieg, sichtlich verstimmt.

Einige Herzschläge lang war nur das Gurren der Tauben im Gebälk zu hören. Über dem Fleet schrien die Möwen nach mehr, mehr, mehr; der Wahlspruch der Hamburger Händler, so lange irgendjemand zurückdenken konnte.

»Macht ihr euch nie Gedanken«, begann Cathrin dann erneut, »dass unser Eis eines Tages nicht mehr gefragt sein wird? Weil andere auf den Markt drängen, die billiger und schneller liefern? Weil der Fortschritt uns eine andere Möglichkeit der Kühlung beschert?«

Christian schnaubte, fast schon erbost. »Als ob keiner mehr Diamanten kauft, seit es Strasssteine gibt.«


Nachdenklich rieb Grischa sich über die Unterlippe.

Für Christians Töchter war er der weit gereiste Onkel gewesen, der Jette erst ausgefallene Spielsachen mitbrachte, später exotischen Schnickschnack, Marie bunte Federn, die sie mit der gleichen Andächtigkeit durch ihre Elfenfinger gleiten ließ, mit der sie Tiefseemuscheln streichelte und dann an ihr Ohr hielt.

Cathrin hingegen hatte nichts mehr geliebt, als Zeit mit ihm zu verbringen. Räuber und Gendarm hatten sie im Garten gespielt, zusammen den Hafen erkundet und in der Elbe geplanscht und auf ihren Streifzügen durch die Wälder das Wesen der Dinge ergründet.

Als Herrin eines Landguts hätte er sie sich vorstellen können, als Entdeckungsreisende oder Naturforscherin. Wann immer Katya darauf zu sprechen gekommen war, dass sie und Thilo sich Cathrin im Unternehmen wünschten, hatte Grischa nur mit den Schultern gezuckt und darauf verwiesen, dass Cathrin sich ihren Posten schon erobern würde, wenn die Zeit für sie gekommen war.

Offenbar war diese Zeit jetzt angebrochen.

»Was schwebt dir stattdessen vor?«, wollte er wissen.


Der sichere Grund, auf dem Cathrin eben noch gestanden hatte, begann unter ihren Füßen zu bröckeln.

»Das weiß ich auch noch nicht.« Tapfer reckte sie das Kinn in die Höhe. »Über kurz oder lang werden wir aber wohl über einen neuen Kurs für die Firma nachdenken müssen.«

Ein Kassandraruf, den keiner hören wollte. Schon gar nicht mit einem solch neunmalklugen Nachhall, das las sie aus den Gesichtern der vier Männer.

Cathrins Blick fiel auf die verwaisten Plätze von Katya und Thilo. Katya würde spätestens in ein paar Wochen wieder hier sein. Thilo nicht. Niemals mehr.

Sie wünschte sich, sie hätte mit einem von beiden ihre Gedanken vorab durchsprechen, sich im Nachhinein Rat oder Hilfe holen können. Jetzt dämmerte ihr, wie allein man sich zuweilen auf einem solchen Posten fühlen konnte. Wie verloren.

Jäh fuhr sie herum und floh zur Tür hinaus.


Die Tür fiel krachend zu, und Jakob schreckte aus seinen Tagträumen hoch. Eine junge Frau war hereingeplatzt, sichtlich aus der Fassung geraten. Ungehalten riss sie an den Kragenknöpfen ihrer Bluse, um sich Luft zu verschaffen und stapfte dann auf und ab, während sie sich über die Augen rieb und mit den Fäusten in die Luft boxte.

Es vermittelte sicher keinen guten Eindruck, hier auf dem Sofa herumzuflegeln; rasch setzte Jakob sich auf.

Jetzt war sie diejenige, die zusammenzuckte.

»Entschuldigen Sie«, rief sie aus. »Ich wusste nicht, dass mein Onkel noch einen Termin …«

Ihr Mund blieb offen stehen. Gründlich musterte sie Jakob bis ins kleinste, seinem Vater so ähnliche Detail, und ein verblüfftes Lächeln zuckte über ihr Gesicht.

»Du musst Jakob sein. Grischas bis dato unbekannter Sohn.«

»Er hat von mir erzählt?«

Sie wiegte den Kopf hin und her. »Er hat zumindest erwähnt, dass du aufgetaucht bist.«

Siedend heiß fiel es Jakob ein, dass es sich nicht gehörte, in Gegenwart einer Dame zu sitzen, und er sprang auf. Keinen Augenblick zu spät; in einer energischen Geste streckte die junge Frau ihm die Rechte entgegen. Wie unter Männern, Jakob hatte keine Ahnung, ob das in Hamburg üblich war.

»Cathrin Petersen. Sozusagen deine Cousine.«

Einen festen Händedruck hatte sie, dazu einen durchdringenden Blick, dem nicht leicht standzuhalten war, auf Augenhöhe mit Jakob. Etwas an ihrem Hals lenkte seine Aufmerksamkeit ab; halb unter dem geöffneten Kragen verborgen, konnte er es nicht genau erkennen.

Eine rot leuchtende Feder. Ein Blutfleck. Das Herbstblatt des wilden Weins oder Klatschmohn.

Widerwillig drehte Cathrin den Kopf zur Seite. »Ist nicht ansteckend.«

»Das habe ich auch nicht angenommen«, versicherte er hastig.

»Meine Tante sagt, das ist der Fingerabdruck des Feuers. Ich bin während des großen Brands geboren.«

Das wiederum konnte Jakob sich gut vorstellen. Wie aus Stahl und Glas geschmiedet war sie, durchglüht von einer Lebendigkeit, die ihre helle Haut zum Leuchten brachte. Ein Geschöpf der Großstadt und wie für eine neue Zeit gemacht.

Einschüchternd geradezu, zumindest für Jakob, während sie beide schwiegen, verlegen und ein bisschen ratlos, aber spürbar neugierig auf den anderen.

Jakob nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Was hat dich vorhin denn so aufgebracht?«

Cathrin biss sich auf die Unterlippe. Ein selbst auferlegtes Siegel, das nicht lange vorhielt. Ihre Augen schlugen Funken wie Feuersteine, während sie ihrem Unmut freien Lauf ließ. Die Brauen zusammengezogen und den Blick auf seine abgestoßenen Schuhspitzen geheftet, hörte Jakob ihr aufmerksam zu. Er verstand das Problem, aber nicht die Schwierigkeit dabei. Schließlich hob er den Kopf.

»Warum hast du nicht einfach Nein gesagt?«

Überrascht sah Cathrin ihn an.

Jakob zuckte leicht mit den Schultern. »Wozu erst begründen, weshalb du gegen diese unsicheren Geschäfte bist, wenn sie dir deine Argumente doch gleich wieder auseinandernehmen? Sag Nein, und damit fertig.«

Cathrins gerade noch zornesdunkle Augen hellten sich auf, bis sie wie Opale schimmerten. Ein kleines Glucksen entfuhr ihr, dann brach sie in Lachen aus, wie über sich selbst, weil sie nicht von allein auf das Einfachste, das Naheliegendste gekommen war.

»Danke!«

Mit gerafften Röcken rannte sie davon, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Am anderen Ende des Korridors konnte Jakob ihre Stimme hören, fest und klar. Einer seiner Mundwinkel hob sich.

Seine Cousine. Sozusagen.


Am runden Tisch waren die Herren gerade im Aufbruch begriffen gewesen, jetzt harrten sie wie eingefroren aus. Nachdem Cathrin schwungvoll ihr Veto gegen die geplanten Investitionen in österreichische Bauprojekte und amerikanische Eisenbahnlinien eingelegt hatte, war die Stille zum Schneiden dick.

Ludger fing sich als Erster wieder. »Wer, zum Teufel, gibt dir das Recht …«

»Katyas Vollmacht«, erwiderte Cathrin schlicht.

»Katya sieht das womöglich anders«, ätzte Ludger.

Cathrin nickte. »Das mag sein. Es steht dir frei, diese Geldanlagen noch einmal auf den Tisch zu bringen, sobald sie wieder hier ist. Bis dahin treffe ich jedoch an ihrer Stelle solche Entscheidungen, so gut ich kann.«

Unter dem Backenbart arbeiteten Ludgers Kiefermuskeln, aber er sagte nichts weiter dazu.

»Du bist dir hoffentlich darüber im Klaren, dass uns dadurch lukrative Geschäfte entgehen«, bemerkte hingegen Christian, seine Augen wie geschliffenes blaues Glas.

»Ich halte sie nicht für lukrativ«, beharrte Cathrin. »Nicht in absehbarer Zeit. Nicht in dem Ausmaß, dass es das Risiko wert wäre.«

Was immer ihrem Vater dabei durch den Kopf gehen mochte, behielt er hinter gesenkten Lidern für sich, einen harten Zug im Gesicht.


Grischa war zum Fenster gewandert. Blicklos sah er auf die Silhouette Hamburgs hinaus.

Einen Moment lang fühlte er sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Im Laderaum eines Walfängers, Haut an Haut mit Wolf, ihre Atemluft schwer von abgefackelter Lust und noch mehr vom Gestank der Tranfässer.

Wir werden sie jagen, bis keiner mehr übrig ist, hatte Wolf düster orakelt. Die Tage des Walfangs sind gezählt. Morgen oder in ein paar Jahren oder in zehn.

Wolf hatte recht behalten, so viele Jahre später, als Grischa das längst nicht mehr zu kümmern brauchte.

Ihr Eis aus den norwegischen Seen reiste heute nicht nur nach Indien und Indonesien, nach Singapur und Hongkong und China, sondern bis nach Australien. Das »Arctic Crystal« aus den Gletschern Grönlands, das im Buckingham Palace den Champagner kühlte, hatte ihnen sogar das royale Wappen eines Hoflieferanten von Queen Victorias Gnaden eingebracht.

Der große überwältigende Rest Europas hatte sich jedoch als uneinnehmbare Festung erwiesen, mit den Alpen als ihrem Bergfried. Das kalte Herz des Kontinents versorgte Paris und Rom ebenso mit Eis wie die Bierbrauereien und Eiskeller Deutschlands. Und letztlich hatten sich auch die Geschäfte in Amerika als kurzes Gastspiel erwiesen; gleich nach der Baumwolle nahm das Eis Nordenglands heute den größten Stauraum auf amerikanischen Frachtern ein.

Frederic Tudor hatte das Ende des Bürgerkriegs nicht mehr miterlebt. Ihr Schattenkonkurrent, der vermutlich nicht einmal gewusst hatte, dass es die Eisbarone von Hamburg gab. Der Eiskönig von Boston war er geblieben, ungeachtet aller Rivalen, die ihr eigenes Eis auf den Markt brachten. Nachahmer, wie sie einst gewesen waren, als Katya im Hafen von Tromsø zum ersten Mal von einem verrückten Amerikaner gehört hatte, der Eis in die Tropen verschiffte.

Jetzt waren sie diejenigen, die kopiert wurden.

Der Süden Norwegens war nicht nur reich an Wäldern, sondern auch an Flüssen und Seen, die sich jeden Winter in eine unerschöpfliche Schatzkammer für Eis verwandelten. Vergleichsweise einfach zu gewinnen und in das Sägemehl gepackt, das im althergebrachten Holzgewerbe abfiel, konnte das Eis nahezu aus dem Stand über die Nordsee verschifft werden, denn auch der Schiffbau und die Seefahrt hatten dort lange Tradition. Massen preiswerten norwegischen Eises verteilten sich über die neu gebauten Eisenbahnlinien durch ganz Großbritannien, hielten den dort so beliebten Fisch frisch und kühlten die Eiscreme italienischer Einwanderer, fashionable in den Londoner Parks und in den Seebädern entlang der englischen Küste. Nicht einmal vor Etikettenschwindel wurde haltgemacht. Ein See bei Oslo war kurzerhand in Wenham Lake umbenannt worden, um den Käufern weiszumachen, dieses Eis sei Tudor-Eis aus dem gleichnamigen See in Massachusetts.

Auf Eis gab es ebenso wenig ein Patent wie auf Reis oder Bohnen oder Weizen, kein Warenzeichen oder Gütesiegel, das hatten sie immer gewusst. Am Ende war Eis eben nur Eis, gleichgültig, wie klar, wie besonders es sein mochte. Irgendwann blieb nichts als eine Wasserpfütze davon übrig.

Noch gab es keine Alternative. Immer wieder wurde in der Werkstatt eines Ingenieurs, eines Wissenschaftlers an Dampfkompressoren getüftelt, die mittels Alkohol oder Ammoniak kühlen sollten. Ewas wirklich Brauchbares war noch nicht dabei herausgekommen, genauso wenig wie bei Fernsprechapparaten oder Schreibmaschinen. Doch wer wusste schon, wie lange das so bleiben würde; heute verband sogar ein Telegraphenkabel am Meeresgrund Europa und Amerika, wuchs die Photographie gerade aus ihren Kinderschuhen heraus, und die Milch hielt länger, weil sie neuerdings pasteurisiert war.

Womöglich waren die Tage des Eishandels wirklich gezählt. Nicht heute und nicht morgen, aber übermorgen. Und sei es nur, dass das Wetter eines Tages Kapriolen schlug und zu warme Winter bescherte wie den Amerikanern zu Beginn des Jahrzehnts.

Grischa ertappte sich dabei, wie er mit den Fingerspitzen gegen den Fensterrahmen trommelte. Jetzt spürte er sie wieder, die Rastlosigkeit, die ihn früher vorwärtsgetrieben hatte. Seit Cathrin ihm heute diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.

Er wandte sich um.

Aufrecht stand sie da, erwartungsvoll und einen siegesgewissen Glanz in den Augen.

Genauso musste er früher gewirkt haben, von einem Selbstbewusstsein, das an Arroganz grenzte. Mit einem vorausschauenden Weitblick, den die Älteren frech fanden und die Gleichaltrigen verquer. Besserwisserisch geradezu. Ihm hatte man das nachgesehen, er hatte damit alles erreicht, was er wollte. Aber er war auch ein Mann, kein Fräulein aus gutem Hause.

Grischa vermisste die raue Romantik jener Jahre. Den Nervenkitzel, sich aus dem Nichts mit bloßen Händen etwas aufzubauen, und die Jagd nach dem Erfolg. Etwas von diesem Pioniergeist der Eisbarone schien Cathrin geerbt zu haben, weitaus mehr die Tochter von Thilo und Katya als die ihrer leiblichen Eltern. Am selben Tag zur Welt gekommen, als das Feuer Hamburg in Schutt und Asche legte, schien schon ihre Geburt wie das Versprechen auf einen Neuanfang gewesen zu sein.

»Ich gebe Cathrin recht«, ließ er sich schließlich vernehmen. »Es ist sicher nicht verkehrt, wenn wir zumindest darüber nachdenken, uns neu zu orientieren. So lange ist keine Zeit für riskante Geschäfte.«


Äußerlich ungerührt, erwiderte Cathrin sein Nicken, doch hinter ihrem Rücken ballte sie triumphierend die Faust. In dem sicheren Gefühl, heute nicht nur eine wertvolle Lektion gelernt zu haben, sondern auch Grischa als Verbündeten an ihrer Seite zu wissen.

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