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Jedes Mal, wenn Cathrin aus dem Eis zurückkehrte, überraschte sie der Frühling in Hamburg. Vor wenigen Tagen war sie noch im Eidfjord mit rot gefrorener Nase durch den Schnee gestapft, an Bord des Frachters durch eine stahlgraue und von einem eisigen Wind aufgewühlten Nordsee gepflügt, und hier brachen schon die Knospen auf, zeigte sich das erste Grün, vom Wechselspiel aus Märzsonne und Frühlingsregen aus der Reserve gelockt.
Im Lagerraum von Petersen & Voronin herrschte jedoch noch immer der Winter, den sie mit den aufgetürmten Eisblöcken aus Norwegen mitgebracht hatten. Einer von insgesamt drei Speichern, die das Unternehmen sein Eigen nannte, jeder davon wie ein Haus der Jahreszeiten. Vom kalten Eislager in den unteren Stockwerken zum rauchigen Herbstduft von Kaffee und Tee auf den Speicherböden darüber, von den Gewürzen eines Tropensommers bis hin zu der ganzen Palette an Frühlingsfarben, in denen die Stoffballen leuchteten.
Eine der dicken Jacken übergezogen, die vor der Tür stets griffbereit am Haken hingen, und ein Klemmbrett in den behandschuhten Händen, zählte Cathrin stumm die gefrorenen Blöcke, die mittels eines Flaschenzugs von der Spitze des torfummantelten Eisbergs herabgelassen wurden.
Dick gefütterte Arbeitshandschuhe trugen auch die Männer, die sich die Blöcke nacheinander zureichten und schließlich durch die Luke an der Wasserseite des Speichers in einen der Kähne umluden. Über das Nikolaifleet würde das Eis den Hafen erreichen, von wo aus es seine Reise nach Indien antrat, nach Singapur und Java oder Hongkong.
Eine monotone, mühselige und langwierige Prozedur, bei der ihnen nichtsdestoweniger die Zeit im Nacken saß. Kein Tropfen Schmelzwasser mehr als nötig sollte entstehen, und der Platz hier wurde gleich wieder gebraucht; jeden Tag konnte Grischa mit dem Eis aus den norwegischen Bergen eintreffen. Abzüglich des kleinen Anteils, der unmittelbar aus dem Eidfjord nach London verschifft wurde, um ein paar besonders finanzstarke Kunden sofort zu beliefern, sollte der überwältigende Rest dieses tiefgekühlten und damit äußerst haltbaren Eises hier lagern. Bis es sich im Juli auf den weiten Weg nach Australien machen würde, rechtzeitig für den heißen und trockenen Sommer dort. Noch auf Seglern alter Schule, weil es auf dem Weg dorthin nicht genug Kohlestationen gab; auf dem Rückweg würden sie Wolle und Schaffelle geladen haben.
Cathrin war aufmerksam bei der Sache. Eis mochte für sie einfach nur Eis sein, aber es war der größte und gewinnträchtigste Posten in den Bilanzen. Das Fundament der Firma, so stark und solide wie die Grundmauern dieses Speichers, den die Eisbarone seinerzeit aus den Brandruinen wieder hochgezogen hatten.
Mit halbem Auge sah sie Jakob zu, wie er bei den Eisblöcken mit anpackte und vor der Abfahrt eines jeden Kahns kontrollierte, ob der schützende Strohmantel des Eises nicht irgendwo auf der glatten Oberfläche abgerutscht war.
Cathrin mochte die Art, mit der er den Arbeitern begegnete, freundlich und nie herablassend. Mit einer Autorität, die nicht daher zu rühren schien, dass er der Sohn eines der Firmengründer war, sondern weil seine Aufgabe schlicht darin bestand, das Verfrachten des Eises zu überwachen.
Einer der Arbeiter gab eine flapsige Bemerkung von sich, und das Lachen, das Jakobs Gesicht erhellte, ließ auch Cathrin schmunzeln.
Eine eigentümliche Mischung aus Unwillen und kribbelnder Neugierde auf Jakob hatte sie aus Norwegen mitgebracht; eine Empfindung, auf die sie sich keinen rechten Reim machen konnte.
Die Tür hinter Cathrin öffnete sich, und Christian steckte den Kopf herein.
»Hast du einen Augenblick?«
Cathrin runzelte die Stirn. Im Allgemeinen respektierte man im Unternehmen die Arbeit jedes Einzelnen und störte nur, wenn es wirklich wichtig war und keinen Aufschub duldete. Cathrin hatte nicht einmal gewusst, dass ihr Vater hier im Speicher an der Neuen Burg zu tun hatte, sie hatte ihn im Kontor geglaubt, im Stammhaus bei den Mühren. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er sie sprechen wollte, weil ihr ein grober Schnitzer unterlaufen oder aber etwas passiert war. Ein Schiffsunglück, ein Börsencrash, die ans Licht gekommene Unterschlagung eines Mitarbeiters.
»Sicher«, entgegnete sie bedrückt. »Jakob, könntest du mich bitte kurz ablösen?«
Als sie ihm das Klemmbrett übergab, flossen ihre Atemwolken ineinander.
Christian schloss die Tür zum Lagerraum hinter sich und Cathrin. Hier unten im Stiegenhaus waren die Mauern unverputzt und ließen den roten Backstein sehen, der zu Hamburg gehörte wie Elbe und Michel.
»Was gibt es denn?«, fragte Cathrin betont salopp, aber mit einem nervösen Flattern in der Magengegend.
»Ich habe mir überlegt …«, begann ihr Vater.
Mit einer Unschlüssigkeit, die ihm sonst fremd war, nahm er die Aushänge auf dem Schwarzen Brett in Augenschein, den Zeitplan für die Lieferungen und die Sicherheitshinweise. Aufmerksam sah Cathrin ihren Vater an, während sie die Handschuhe abpellte und auf ihre Finger hauchte; trotz des Lammfellfutters waren ihre Hände klamm und steif.
»Vielleicht solltest du mit nach Kairo«, sagte er schließlich unvermittelt. »Was meinst du?«
Ganz nebensächlich hatte er es vorgebracht, als ginge es um eine Einladung bei den Amsincks oder Godeffroys, um einen Besuch des Pferderennens in Horn.
Cathrins Herz schlug höher, für einen Augenblick vergaß sie sogar zu atmen. Anmerken ließ sie sich nichts davon, sie reckte nur selbstbewusst das Kinn.
»Auf jeden Fall sollte ich das.«
In den blauen Augen ihres Vaters blitzte es auf. Wie belustigt darüber, dass sie sich weder überschwänglich bedankte noch ihm um den Hals fiel.
»Gut. Dann lasse ich für dich ebenfalls eine Passage buchen.«
Mit einem knappen Nicken wandte er sich um und lief die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, wie es seine Art war.
Erst als er außer Hörweite war, erlaubte Cathrin sich einen leisen Freudenschrei und wirbelte um ihre eigene Achse, bevor sie mit Schwung die Tür zum Lagerraum aufriss.