15





Sanft bauschten sich die Gardinen im Wind und zeichneten weiche Muster ins Sonnenlicht. Jakob stellte seine Tasche ab und sah hinaus in das grün flirrende Gewölbe der alten Bäume. Unten im Haus konnte er die Stimmen von Grischa und Katya hören, von Trude und Griet. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen zog zu ihm herauf und mischte sich mit dem des Gartens, nach Sommerblumen und Laub und gemähtem Gras.

Die Villa der Petersens in Hamm war wie eine Fata Morgana, ein erstrebenswertes Ziel, aber womöglich unerreichbar, die Wohnung in Altona bei Grischa und Réka, der Mamsell, so etwas wie sein neues Zuhause. Aber das Haus hier in Teufelsbrück war nichts anderes als ein Paradies für Jakob, wann immer er an einem Sonntag zum Essen hier war oder gleich für ein paar Tage blieb.

Zwischen den üppigen Rosenbüschen unten im Garten glaubte er einen Blusenärmel auszumachen und helles Frauenhaar, und sein Herzschlag beschleunigte sich.


Bäuchlings lag Cathrin im Gras und sah ihm mit einem Lachen auf dem Gesicht entgegen.

»Störe ich dich?«, fragte Jakob dennoch und deutete auf den Folianten vor Cathrin.

Ein Atlas, das konnte er erkennen.

»Ganz und gar nicht. Ich blättere nur ein bisschen herum und träume von fernen Ländern.«

Jakob ließ sich neben ihr nieder. »Du hast doch schon eine Menge von der Welt gesehen.«

»Eben deshalb beschäftigt mich, was ich alles noch nicht gesehen habe. Schau hier. Sankt Petersburg. Grischa hat oft davon erzählt. Wie aus einem Märchen, ein einziges Schlaraffenland. Eine Stadt der Paläste, halb dem Meer und halb dem Sumpf abgerungen. Ein Traum aus Gold und Silber und Marmor, auf den Knochen der Leibeigenen erbaut. Der Urgroßvater von Katya und Grischa hat Figuren für den Eispalast der Zarin geschnitzt, wusstest du das?«

Fast ohne Punkt und Komma redete sie; ein reißender Fluss, dem Jakob sich nur schwer entziehen konnte, aber auch gar nicht wollte. Cathrins überschäumende Begeisterung ließ sein schweres Blut leichter durch die Adern kreisen.

»Und von hier aus sind sie die Newa entlanggewandert, Grischa und Katya«, sprach Cathrin weiter. »Vom großen See von Ladoga in Karelien. Dort liegen die Wurzeln unserer Familie, deshalb will ich unbedingt einmal dorthin. Du auch?«

»Eigentlich nicht«, murmelte Jakob schuldbewusst.

Er brauchte einige Augenblicke, um die richtigen Worte zu finden; mutig kam er sich dabei vor.

»Ich richte meinen Blick lieber nach vorn als zurück«, fügte er hinzu. »In eine Vergangenheit, die doch nicht meine ist.«

Die Art, wie Cathrin ihn ansah, ihre grauen Augen dunkel und glänzend, machte ihn verlegen.

»Hast du immer noch New York fest im Blick?«, fragte sie dann.

»Natürlich«, erwiderte Jakob im Brustton der Überzeugung.

Obwohl er wusste, dass es ihm umso schwerer fallen würde, von hier fortzugehen, je länger er blieb, wartete er noch. Auf einen Anstoß, ein Zeichen, den richtigen Moment.

Ein rätselhaftes Lächeln umspielte Cathrins Mund.

»Seit ich in Ägypten war«, sagte sie, »denke ich die ganze Zeit, dass jeder einmal die Pyramiden gesehen haben sollte. Und die Sphinx.«

Unvermittelt färbten sich ihre Wangen rot.

»Entschuldige.«

»Schon gut«, erwiderte Jakob gelassen.

Natürlich wäre er gern mit nach Kairo gereist. Nicht nur der Pyramiden wegen. Noch lieber hatte er jedoch Grischas Angebot angenommen, zum ersten Mal eigenständig eine Schiffsladung Eis nach London zu bringen. Den Geschmack unwidersprochener Autorität auf der Zunge und das Gefühl von Verantwortung auf den Schultern zu haben war unvergesslich.

»Die Pyramiden bleiben ja sicher noch eine Weile stehen«, setzte er hinzu.

Lachend rollte Cathrin sich auf den Rücken, ihre Miene träumerisch weich, die zum Sommerhimmel gerichteten Augen jedoch umso klarer.

»Weißt du, was mir seither nicht mehr aus dem Kopf will? Wie viel schneller wir heute unterwegs sind als früher. Und trotzdem geht es uns noch immer nicht schnell genug. Wir sind besessen davon, mit Eisenbahnen, mit Dampfschiffen so rasch wie möglich von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Was dabei verloren geht, ist das Vergnügen am Reisen selbst. Das Abenteuer. Ein Gefühl von Freiheit und Zeitlosigkeit. Ein echtes Erlebnis, von der Abreise bis zur Heimkehr. Deshalb verreist man doch überhaupt, oder nicht?«

In einer schnellen Bewegung drehte sie sich wieder auf den Bauch und schlug einige Seiten des Atlas um, in dem sie sich blind zurechtzufinden schien.

»Natürlich kann man auf direktem Weg von Hamburg durch das Mittelmeer nach Kairo fahren und nur zwischendurch irgendwo anlegen, weil man Kohle oder Frischwasser aufnehmen muss. Aber es ist doch ein Jammer, was man dabei alles verpasst.«

Jakob streckte sich neben ihr aus und verfolgte aufmerksam Cathrins Schilderungen der Route, die ihr Finger die Küstenlinien entlang zeichnete. Lissabon und der Affenfelsen von Gibraltar. Die Orangenplantagen von Valencia, das Casino in Monte Carlo und das mondäne Nizza. Der Vesuv und die Ruinen von Pompeji, nach Jahrhunderten unter Asche und Staub allmählich freigelegt, die Gipsabdrücke der Bewohner Zeugnis von ihrem Leben und dem Sterben in der Katastrophe. Vielleicht ein Abstecher nach Konstantinopel, wo sich über den Bosporus hinweg Orient und Okzident die Hand reichten, oder in die Heilige Stadt Jerusalem. Kairo natürlich, und Alexandria, und zum Ausklang der Reise ein Besuch bei den Parfumhändlern der weißen Stadt von Tunis und in der malerischen Kasbah von Algier.

Cathrin hatte das Talent ihres Vaters, mit Worten zu betören und Sehnsüchte zu wecken. Schulter an Schulter mit ihr im Gras, hatte Jakob Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren.

»Das ist ja eine halbe Weltreise«, wandte er ein.

Cathrin nickte. »Genau das sollte es sein. Eine Reise durch die Weltgeschichte, von der Antike bis in die Neuzeit, von West nach Ost. Eine Entdeckungsfahrt, die alle Sinne anspricht. Und das alles, ohne den halben Erdball zu umrunden, allein nur auf dem Mittelmeer.«

»Aber wer soll sich das denn leisten können? Wer hat so viel Zeit?«

Cathrin ließ sich nicht beirren.

»Wen es zu den Pyramiden zieht, der ist kein armer Schlucker. Der kann es sich auch erlauben, sechs oder acht Wochen herumzureisen.«

Ein reizvolles Gedankenspiel, ohne Frage. Auch wenn Jakob die Fantasie Cathrins fehlte; er hatte greifbarere Dinge dabei vor Augen.

»Wo nimmst du ein Schiff dafür her?«

»Wir haben doch Schiffe«, erklärte Cathrin. »Von denen mindestens eines immer müßig vor Anker liegt, wenn es gerade kein Eis verschifft, keine Stoffe oder exotischen Waren. Thilo hat sich oft den Kopf darüber zerbrochen, weil jeder Tag, den ein Segler ruht, Geld kostet, aber keines einbringt. Das Ergebnis ist unser ausgeklügelter Fahrplan, der aber notgedrungen noch immer zu viele Lücken aufweist. Wann es nur geht, verchartern wir eines der Schiffe für kleinere Fahrten nach England oder Frankreich. Damit ist aber nicht viel zu holen, dafür ist die Marge zu gering.«

Jakob stützte den Kopf auf. »Ich weiß ja nicht, was für Reisende du dafür im Sinn hast. Aber ich glaube kaum, dass ein simpler Eisfrachter deren Vorstellung von Abenteuer entspricht.«

Cathrin lachte auf. »Nein, bestimmt nicht. Ein gewisser Komfort müsste schon gegeben sein. Wohnliche Kabinen, gutes Essen, die eine oder andere Annehmlichkeit. Eine ausgewogene Mischung aus rauer Romantik und einem Hauch von Luxus.«

Das Kinn vorgeschoben, deutete Jakob ein Kopfschütteln an.

»Das kriegen wir nicht hin, Cathrin. Wir können nicht einen Frachter kurzfristig zum Vergnügungsschiff umbauen und nach der Heimkehr genauso fix in seinen Ursprungszustand zurückversetzen. Und ein Schiff eigens dafür abzustellen, damit es die übrige Zeit nutzlos im Hafen dümpelt, ist komplett unwirtschaftlich.«

»Es muss aber gehen«, gab Cathrin störrisch zurück.

Jakob grinste. »Akzeptierst du je ein Nein?«

»Nie.« Vergnügt zog Cathrin die Nase kraus. »Zumindest nicht, bis ich alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft habe.«

Sie blätterte weiter durch den Atlas.

»Eine Möglichkeit könnte sein, ein solches Schiff ganzjährig zu nutzen, mit unterschiedlichen Reisezielen. Rings um das Mittelmeer ist es auch im Winter warm oder wenigstens mild. Bestens geeignet also, um dem nasskalten Wetter in unseren Gefilden zu entfliehen. In Norwegen hingegen sind die Sommer besonders herrlich. Alles blüht, und die Tage sind endlos lang. Man könnte durch atemberaubende Fjorde schippern, im Meer oder in einem See baden und über die wilde Hochebene der Hardangervidda wandern. Eine ganz neue und aufregende Form der Sommerfrische, besser als Warnemünde und der Watzmann zusammengenommen.«

Jakob brütete einige Herzschläge lang darüber nach.

»Ich habe keine genaue Vorstellung davon«, sagte er dann, »was ein solches Schiff kosten würde. Wie viel man für eine solche Reise verlangen könnte. Trotzdem sehe ich einfach nicht, wie sich das umsetzen ließe und dazu noch profitabel wäre. Ganz abgesehen davon, dass Ludger sicher nicht tatenlos zusehen wird, wie wir die Firma zu einer Reederei umkrempeln.«


Wir. Ein so kleines und doch so großes Wörtchen, das sich fast unbemerkt zwischen ihnen eingeschlichen hatte.

Nachdem Ludger ihr die Idee gestohlen hatte, exklusive Kaffeesorten aus Kairo zu importieren, hatte Cathrin sich vorgenommen, künftig alle ihre Geistesblitze eifersüchtig unter Verschluss zu halten, bis sie zu spruchreifen Plänen gediehen waren.

Bei Jakob gelang es ihr nicht. Sie mochte die Art, wie er ihre hochfliegenden Träume auf den Boden der Tatsachen holte und sie mit jedem Argument, jedem Gegenargument zu einer greifbareren Form schmiedete und schliff.

»Oder wir lassen Ludger davon Wind bekommen«, spöttelte sie, »lehnen uns gemütlich zurück und sehen zu, wie er eigenhändig diesen neuen Kurs in der Firma einschlägt.«

Jakob kniff ein Auge zu. »Das bringst du nicht fertig, Cathrin. Dafür bist du viel zu ehrgeizig und zu stolz.«

Ein leises Lachen perlte zwischen ihnen auf. Jakob fuhr sich durch das Haar, das dicht und dunkel glänzend zurück an seinen Platz fiel, bevor er den Blick senkte und an den Grashalmen vor sich zupfte.

Cathrin musterte ihn aus den Augenwinkeln. Über das Jahr war Jakob in seine starken Konturen hineingewachsen, unter dem Hemd zeichneten sich breite Schultern ab. Nicht bärengleich wie Grischa, sondern von der kräftigen Geschmeidigkeit einer Großkatze, das Gesicht kühn geschnitten und schon wieder einen leichten Nachmittagschatten um den getrimmten Bart.

Schöne Hände hatte Jakob, schlank und sehnig, zupackend und zugleich feinfühlig sahen sie aus.

»Ich denke oft an Katya und Grischa damals«, sagte Cathrin. »Sie wussten, wo sie hinwollten, aber der Weg dorthin war alles andere als gerade. Und doch hat jeder Umweg, jeder Stolperstein sie näher an ihr Ziel gebracht. Weil sie bereit waren, jede Chance zu nutzen, die sich ihnen unterwegs bot.«

Jakob richtete die Augen wieder auf sie, tief wie eine sternenlose Nacht.

»Ich weiß«, erwidert er nur.

Natürlich wusste er das. Wie alle jungen Menschen warteten sie beide darauf, dass das Leben endlich anfing, obwohl sie schon mitten darin standen, Cathrin sogar mehr als Jakob.

Unverwandt sahen sie sich an, die Gesichter einander zugeneigt und die Umrisse der Welt auf den Seiten des Atlas so nahe, dass sie nur die Hand danach auszustrecken brauchten.

Etwas Unausgesprochenes lag in der Luft, goldschimmernd vom Blütenstaub und sommerflirrend: ein erwartungsvolles Summen wie der Flug der Bienen und Hummeln.

Katya rief an die Kaffeetafel.


Satte Tage waren es in diesem Juli, sonnenprall und blütenduftend, in einem warmen Wind, der nach Wasser und Sand roch.

So sah der wahre Luxus reicher Leute aus, das hatte Jakob gelernt. Indem man die Zeit mit Federballspielen und einem guten Buch vorbeifließen ließ. Während man auf einem Pferderücken die Elbe entlangritt und die saftigen Wiesen erkundete, durch die sich die Flottbek schlängelte. Wenn die Arbeit im Garten nicht nur den Essenstisch füllte, sondern auch ein Atemholen für die Seele bedeutete, bevor man irgendwann in das Kontor zurückkehrte, um weiter Geld zu scheffeln.

Im frühen Dunst des Morgens ging Jakob manchmal mit Grischa in der Elbe schwimmen, im Morgenlied der Vögel; eine Stärkung für den Tag und eine Stunde, die ihnen allein gehörte, Vater und Sohn. Manchmal kühlte er sich zusammen mit Cathrin im Fluss ab, am Ende eines langen und heißen Tages, während über ihnen der Himmel in Flammen aufging, und alle zusammen waren sie am Strand schon zum Baden gewesen, unter greller Mittagssonne, und hatten sich danach über den Inhalt des Picknickkorbs hergemacht.

Ab und zu noch unsicher, wo in diesem Familiengeflecht, im Unternehmen einmal sein Platz sein mochte, war es an diesen Sommertagen hier in Teufelsbrück, dass Jakob sich wirklich zugehörig fühlte, wirklich reich.

In gemächlichen Schlenderschritten ließ er die murmelnden Stimmen von Katya und Grischa hinter sich, die vor dem schummrig beleuchteten Haus noch beisammensaßen. Nach einer dieser genussvoll ausgedehnten Mahlzeiten unter freiem Himmel, bei denen es immer so viel zu reden und zu lachen gab, bei einer Flasche Wein, einer herbfrischen Kräuterbowle. Die Hände in den Hosentaschen, tauchte Jakob in den Garten ein.

Er musste nicht erst nach Cathrin suchen, er schien ein untrügliches Gespür für sie entwickelt zu haben, ein Nachtfalter, der immer dem Lichtschein folgte.

Unter dem Baum leuchtete ihr Lächeln genauso hell wie das duftige Sommerkleid. Mit der Schulter stützte Jakob sich neben ihr an die raue Rinde.

Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können, und es verlangte ihn auch nicht danach. Jetzt, im Grillenzirpen und dem sachten Rascheln von Blättern und Gras, war es genug, einfach beieinanderzustehen. Unter dem geräuschlosen Schwirren der Fledermäuse sahen Jakob und Cathrin sich immer wieder lächelnd an, bevor sie ihre Blicke erneut durch den Garten schweifen ließen, ein geheimnisvoller dunkler Wald in der Sommernacht aus Indigo und Lavendelgrau.

»Kommst du noch mit schwimmen?«, wisperte Cathrin irgendwann.


Unter leisem Lachen brachen sie aus dem Rhabarbergestrüpp hervor, in den Wind am Elbstrand hinein. Cathrin hatte kaum einen Fuß auf den Sand gesetzt, als sie auch schon aus den Schuhen schlüpfte und nach den Knöpfen ihres Kleids tastete.

Jakob zögerte. In der Dunkelheit glich die Elbe einem tintenschwarzen Ozean, bodenlos tief und unermesslich. Bedrohlich laut klangen die Wellen in der Stille der Nacht; ein lebendes, atmendes Geschöpf der Finsternis, das alles verschlang, was ihm zu nahe kam, die Sterne am Himmel, die Lichter am anderen Ufer weit entfernte und gleichgültige Beobachter.

»Ist das nicht gefährlich?«, rief Jakob über den Strand.

Cathrin lachte. »Natürlich ist es das! Das ist ja gerade der Reiz.«

Barfuß und in ihrem Unterzeug rannte sie ins Wasser wie der leuchtende Schweif eines Kometen.

Jakob schlug das Herz bis zum Hals, am liebsten hätte er kehrtgemacht. Noch schlimmer war jedoch der Gedanke, vor Cathrin als Feigling dazustehen. Mit dem Mut der Verzweiflung pellte er sich Schuhe und Kleider vom Leib und stürzte in seinen Unterhosen Cathrin hinterher.

Schneidend kalt war das Wasser auf seinem sommerdurchwärmten Körper. Mit den ersten Schwimmzügen wurde es besser, und doch schien es, als käme er nicht vom Fleck, so kräftig er auch kraulte. Die Strömung war es, wie er begriff, die sich wie mit Tentakeln um ihn schlang.

Er hatte sich immer für einen guten Schwimmer gehalten, doch die Elbe war hier nicht das zahme Gewässer der Auen hinter Lüneburg, nicht derselbe Fluss wie bei Tag. Ein wildes Wasser war sie in der Nacht, eigenwillig und unbezwingbar, und schonungslos zeigte sie ihm seine Grenzen auf.

Durch zusammengebissene Zähne entfuhr ihm ein halb furchtsamer, halb unwilliger Laut.

»Solange du Boden unter den Füßen hast, kann dir nichts passieren«, hörte er Cathrin rufen.

Es nützte nur nichts. Je fester Jakob die Fersen in Sand und Schlick stemmte, umso deutlicher ließen die Wellen ihn spüren, dass sie stärker waren und mit ihm spielen konnten, wie es ihnen gefiel. Nackte Angst kroch in ihm herauf. Angst, in der Dunkelheit die Orientierung zu verlieren. Der Strömung nicht gewachsen zu sein und von ihr abgetrieben zu werden, haltlos und ohnmächtig, bis seine Kräfte ihn verließen und er sehenden Auges unterging.

Prustend tauchte Cathrin vor ihm auf und fasste ihn am Arm.

»Ich bin da, Jakob.«

Glühend vor Scham wollte er sich losreißen, ihr in stummem Zorn zu verstehen geben, dass er allein zurechtkam, doch Cathrin packte nur fester zu.

Kaum merklich entspannte sich Jakob, ihm war tatsächlich bedeutend wohler in Cathrins Nähe. In ihren Augen stand keine Herablassung, kein Hohn, sie lächelte nur. Ein Lächeln, das auf Jakob übersprang, während sie halb über dem schlammigen Grund schwebten, halb schwammen, Arm in Arm ein seltsam schönes Amphibientier mit vier Beinen und zwei Köpfen, einer dunkel, einer hell.

Wie ein Ottermädchen bewegte Cathrin sich durchs Wasser oder wie eine Nixe, ihr Haar wie Seetang und der nasse Batist ihres Hemdchens ununterscheidbar von ihrer Haut, kühl und glatt. Es hätte ihn nicht verwundert, wären ihre Beine, die ihn ab und zu streiften, in Wahrheit ein schuppenglänzender Fischschwanz gewesen, das Mal an ihrem Hals wie ein magisches Zeichen.

»Jetzt weiß ich«, raunte er, »warum ihr in Hamburg immer so tut, als gehörte euch der ganze weite Ozean.«

Cathrin, das Gesicht halb unter Wasser, hob fragend die Brauen.

»Weil ihr selbst aus Wasser und Wind gemacht seid.«

Es waren die Männer, die den Sturm einfingen und die Wellen zähmten, um sich zum Herrscher über die Meere zu machen, Männer wie sein Vater. Die Frauen jedoch waren selbst wie Wasser, unberechenbar und unergründlich, eine nicht zu unterschätzende Macht voller Rätsel und Geheimnisse.

Den Arm um seine Schulter gelegt, drückte Cathrin sich aus den Wellen empor.

»Und was ist mit dir, Jakob Levgrün?«, flüsterte sie, ihr Wasseratem auf seiner Wange, während Tropfen über ihr Gesicht rannen. »Woraus bist du gemacht?«

Jakob wusste es nicht, auch mit bald dreiundzwanzig Jahren noch nicht. Er wusste nur, dass er nichts und niemanden auf dieser Welt jemals so sehr gewollt hatte wie Cathrin.

Jakob schloss die Arme um Cathrin und küsste sie. Kein zahmer oder gar scheuer Kuss war es. Fordernd und geradezu gierig fiel dieser Kuss aus, den Cathrin genauso hitzig erwiderte, die Finger in seinen Schultern vergraben, die Beine um seine Hüften geschlungen. Atemlos hielten sie nur inne, um sich in die Augen zu sehen, berauscht von der Nacht und diesen Küssen, Cathrins Lächeln weich wie das Licht einer Mitternachtssonne.

Man konnte eine Frau wie Cathrin nicht festhalten, genauso wenig wie das Wasser; auch das gehörte zu den Dingen, die Jakob wusste. Und wie das Wasser selbst glitt sie aus seinen Armen und tauchte ab, um dann mit kräftigen Schlägen ans Ufer zu schwimmen, ein Silberstreif im Tintenschwarz von Nacht und Fluss.

Mit ausgebreiteten Armen streckte Jakob sich rücklings auf dem Wasser aus und überließ sich dem Schaukeln der Wellen. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt, so stark, und er lachte sein Glück in den Sternenhimmel hinauf.


Traumverloren blinzelte Cathrin durch das geöffnete Fenster nach draußen. Die ersten Vogelstimmen regten sich zaghaft, in dieser weißen Stunde zwischen dem Ausklang der Nacht und Sonnenaufgang.

Immer noch saß sie in ein Handtuch gewickelt auf dem Bett, die Arme um ihre Knie geschlungen. Immer noch schmeckte sie Jakobs Kuss in ihrem Mund wie Ingwer und Kardamom, schien noch sein Duft auf ihrer Haut zu haften, ein kräftiger Ackerboden im Gewitterregen.

Als wäre sie durch einen Ozean geschwommen, um den Fuß auf einen anderen Kontinent zu setzen, so hatte es sich mit Jakob angefühlt. Die Grate seiner Schultern, seine kräftige Brust und der geriffelte Bauch eine aufregend neue Landschaft, die ihr gleichwohl vertraut vorkam, lange gründlich auf den Seiten eines Atlas studiert.

Bedenkzeit hatte sie von Gerrit verlangt, und Bedenkzeit hatte sie bekommen, diesen einen Sommer. Schuldig hätte sie sich fühlen müssen, weil sie jetzt Jakob geküsst hatte. Küsse, die sie leicht als Laune des Augenblicks abtun könnte, als Rausch einer Sommernacht. Eine kleine Schwäche, der sie nachgegeben hatte, nachdem ihr junger Cousin sie schon so lange anhimmelte, oder eine Feuerprobe, bevor sie Gerrit die Ehe versprach.

Cathrin wusste es besser. Vor allem wusste sie, dass nur die Anwesenheit von Katya und Grischa im Haus sie davon abhielt, an Jakobs Tür zu klopfen und sich mehr von diesen Küssen zu holen.

Für die Vögel war es Zeit auszufliegen. Einer nach dem anderen zog als Schattenriss über den blassen Himmel, und jeder ihrer Flügelschläge fand sein Echo tief in Cathrin. Mit dem ersten Morgenrot breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.


Ein paar Stunden später traf im fernen Berlin die Kriegserklärung des französischen Kaiserreichs an Preußen ein. Und bis zum Abend desselben Tages befand sich ganz Deutschland offiziell im Kriegszustand.

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