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Zügig schritt Katya aus, den Kragen ihrer Jacke zum Schutz gegen den Wind hochgeschlagen. Innerhalb weniger Tage war es kalt geworden, Gras und Laub waren schon mit dem ersten Hauch von Bronze und Kupfer gefärbt.
Lächelnd warf sie einen Seitenblick auf Christian, der flott neben ihr hermarschierte, ihrer beider Schritte von einem harmonischen Rhythmus, der sie weiter beflügelte. Der Herbst, der hier in Norwegen so kurz war, mochte schon vor der Tür stehen. Sie beide jedoch lebten in einer eigenen Zeit, die sie sich selbst schufen, irgendwo zwischen gestern, heute und morgen. Jenseits aller Heimlichkeiten, aller verborgenen Gedanken, dafür gingen sie zu offen miteinander um.
In diesen Wochen trugen sie beide ihr Herz auf der Zunge, möglich, dass es am Alter lag, an gewonnener Weisheit und Reife, einer gewissen Furchtlosigkeit.
Am anderen Ufer des Voroninvatnet entdeckten sie zwei große Steine, auf denen sie sich niederließen und über das Wasser blickten, das grau und unruhig war wie Quecksilber.
»Erinnerst du dich«, fragte Katya nach einer Weile leise, »als du in das Eis eingebrochen bist? In unserem ersten Winter hier?«
Angespannt blinzelte Christian auf den See hinaus.
»Natürlich erinnere ich mich«, antwortete er rau. »Ich habe nichts davon vergessen. Nichts, was ich getan, und nichts, was ich gesagt habe.«
Katya schob die Hände in die Jackentasche. Mit der Spitze ihrer Schnürstiefelette scharrte sie durch Sand, Kies und staubige Erdkrume.
»Ich wollte mich noch bedanken«, brachte sie schließlich hervor. »Für die Arbeit, die du dir mit der Hütte gemacht hast.«
Er blickte zerknirscht. »Ich hätte wirklich erst fragen sollen, ob es dir recht ist. Welche Wünsche du dafür hast.«
Katya atmete tief ein, um Mut zu schöpfen; diese eine Wunde tat noch immer weh, nach so langer Zeit.
»Ich habe einmal etwas ganz Ähnliches getan. Bei Pawel. Heimlich habe ich mir bei ihm Zutritt verschafft und in seiner Küche gewerkelt, als wäre es meine eigene, weil ich ihm so unbedingt eine Freude machen wollte. Erst als er in der Tür stand, habe ich begriffen, dass ich keinerlei Recht dazu gehabt hatte.«
Ein Schatten legte sich auf Christians Gesicht, er rang sichtlich mit sich.
»Ich wünschte«, brachte er schließlich mühsam hervor, »ich hätte damals anders gehandelt.«
»Ich auch«, hauchte Katya. »Aber du hattest recht, damals im Feuer. Er hat das Geld genommen. Du hast ihn zwar in Versuchung geführt, aber er hat es genommen. Und das kann ich euch beiden nicht verzeihen. Bis heute nicht.«
Christian ließ den Kopf hängen.
»Ich wusste mir nicht anders zu helfen«, gestand er schwach. »Ich konnte damit leben, dass du Thilos Frau bist. Vermutlich hätte ich auch damit leben können, dass du mit Pawel glücklich wirst. Aber dass du mit ihm fortgehst und ich dich womöglich nie wiedersehe … das hätte ich nicht ertragen.«
Er stützte die Unterarme auf die Knie und beugte sich vor, die Last der Erinnerung schwer auf seinen Schultern.
»Pawel wusste das«, fuhr er heiser fort. »Er ist nicht deinetwegen gegangen, Katya. Sondern meinetwegen.«
»Er ist aber auch nicht meinetwegen geblieben«, flüsterte Katya in den Wind.
Christians Tragik lag darin, dass er bei aller Rücksichtslosigkeit, aller Selbstsucht ein viel zu weiches Herz hatte, das hatte Katya irgendwann begriffen. Zwei Seiten an ihm, die immer gegeneinandergeprallt waren wie Eisschollen auf hoher See, Splitter und Scherben dabei hinterließen. Jetzt schienen diese Bruchkanten ineinandergeschmolzen, unter der Last der Jahre, dem Gewicht von Verlust und Trauer und dem Alleinsein.
»Und trotzdem hast du Henny geliebt und bist bei ihr geblieben«, sagte sie jetzt.
Christian hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht erklären.«
Ein kleines Lächeln um den Mund, gab Katya einen mitfühlenden Laut von sich.
»Das brauchst du auch nicht. Thilo und ich haben einander auch geliebt, obwohl es für uns beide andere Männer gab, im Lauf der Jahre.«
Sie streckte die Beine von sich und kreuzte die Knöchel.
»Ist es nicht merkwürdig? Wir haben nur ein einziges Wort für die Liebe. Als könnten wir alle immer nur ein und dasselbe damit meinen. Genau wie wir Schnee oder Eis sagen, ohne je daran zu denken, wie viele unterschiedliche Gesichter sie haben.«
»Du tust das nicht.«
Katya schmunzelte. »Aber auch ich musste das erst lernen.«
Ein kleines Lächeln flog zwischen ihnen hin und her, bevor Katya lang gezogen den Atem ausblies, fast wie ein Seufzen.
»Und da sitzen wir nun«, sagte sie, vergnügt und melancholisch zugleich. »Beide alt und grau.«
Ein Funke der Erheiterung glomm zwischen ihnen auf.
Christian hob zögernd die Hand und strich ihr dann behutsam eine der Strähnen hinters Ohr, die der Wind aus ihrem Haarknoten gelöst hatte.
»Alt und grau steht dir gut«, raunte er.
Katya musterte ihn. Die Jahre hatten seine ohnehin nie sanften Züge schärfer herausgeprägt, die tiefen Falze und Furchen darin wie mit spitzer Klinge eingeritzt. Im sonnenbraunen Gesicht und gegen das Grau von Haar und Bart leuchteten seine Augen umso blauer.
Ein in die Jahre gekommener Hasardeur, der in Würde verwittert war.
»Dir auch.«
Er hatte sich verändert seit Hennys Tod. An einen Gletscher erinnerte er, der sich unter seiner eigenen Last kaum merklich durch die Landschaft schob. Man musste schon sehr genau hinsehen, um zwischen dem Geröll, das er hinterließ, die Körnchen puren Goldes zu entdecken, die eine Ewigkeit lang unter dem Eis verborgen gewesen waren.
Vorsichtig und wie fragend legte sich sein Arm auf ihre Schultern, und Katya ließ ihn gewähren. Unwillkürlich rückten sie näher zusammen, im kalten Wind war es wärmer zu zweit.
Bis zum Abend hatte der Wind an Kraft zugenommen. Fauchend fegte er um die Hütte und rüttelte an ihrem Fundament. Christian blickte immer wieder zum Dach hinauf; er konnte nur hoffen, dass seine und Jakobs Arbeiten daran etwas taugten.
Umso stiller war es im Inneren der Hütte. Wie auf Zehenspitzen schlichen Christian und Katya umeinander herum. Als ob jede unbedachte Bewegung, jedes Wort zu viel etwas zwischen ihnen zerbrechen könnte wie eine Eierschale.
Nach dem Essen wollte er ihr beim Abwasch zur Hand gehen, mit einem Kopfschütteln hatte sie abgewehrt. Als müsste sie zwischen den Tellern und Töpfen einen Raum für sich schaffen, zu dem er keinen Zutritt hatte.
Die Hände in den Hosentaschen, stand Christian im Lampenschein herum. Ein Mann von sechsundsechzig Jahren und doch so unbeholfen wie ein Schuljunge, rätselnd über das Wesen der Frau.
Bei jeder ihrer Bewegungen pendelte der Flechtzopf über ihren Rücken, das Weiß darin wie verschüttetes Salz. Ein unwiderstehlicher Sog ging von ihrer schlanken Gestalt aus, und Christian trat hinter sie.
Katyas Bewegungen froren ein. Als ob sie besorgt lauschte, was wohl hinter ihr lauern mochte. Wie beruhigend legte Christian ihr die Hände auf die Schultern.
Seine Knie wurden weich, als sie sich an ihn lehnte und in seine Arme schmiegte. Tief sog er den Duft ihres Haars ein, nach gebratenem Speck und dem Rauch des Herdfeuers, darunter nach Katya selbst, wie blühende Wiesen auf dem Höhepunkt eines heißen und trockenen Sommers.
»Ich kann nicht wieder von vorn anfangen«, wisperte sie. »Ich will nicht noch einmal dieselben Fehler machen.«
»Wir werden andere Fehler machen«, raunte er ihr zu. »Bessere.«
In seiner Umarmung drehte sie sich um, in ihren Augen schimmerte es feucht.
»Irgendwann wird einer von uns sterben und den anderen zurücklassen.«
»Aber nicht heute, Katya. Und wohl auch nicht morgen.«
Das Kinn vorgeschoben, schüttelte sie den Kopf.
»Es wird trotzdem nicht genug Zeit sein.«
Christian drückte die Stirn an ihre. Bang war ihm zumute, bang vor Glück und leiser Hoffnung.
»Worauf warten wir dann noch?«
Ihr Mund auf seinem war die Antwort, die er sich erhofft hatte.
Während der Sturm die Hütte mit Zähnen und Klauen bearbeitete, schufen Katya und Christian sich ein behagliches Nest aus Kissen und Laken und vom Leib geschälten Kleidungsstücken. Unter Küssen, die von seltsamer Vertrautheit waren und doch fremd schmeckten, schlossen sie Frieden mit dem, was hätte sein können, aber nie gewesen war.
Das Licht ließen sie brennen, sie wollten einander in die Augen sehen. Ohne Scham, ohne Scheu vor den Stellen ihres Körpers, die unter den Jahren nachgegeben und ihre ursprüngliche Form verloren hatten; die Zeit war zu niemandem gnädig.
Aber wer brauchte schon die blinde und eigensüchtige Lust der Jugend, wenn das Alter eine solch lebendige Sinnlichkeit mit sich brachte? Eine, die keine Eile kannte, nur endlose Zärtlichkeit und Nähe und ein funkensprühendes Verglühen.
Wie der Docht der Lampe, bevor sie im Lauf der Nacht verlosch.
Im Silberlicht, das durch das Fenster sickerte, setzte sich Katya auf und zog die Beine an. Der Sturm war abgeflaut; was an Wind noch zu hören war, klang wie ein Nachhall von Christians tiefen Atemzügen.
Hier, an diesem See, in dieser Hütte, hatte Katya zum ersten Mal von Lust und Sinnlichkeit gekostet, ein Menschenalter schien es her. Unvergessen waren jene Nächte mit Johann Silberberg; unvergessen, was sie von ihm über Eis und Schnee gelernt hatte. Der erste Mann in ihrem Leben, so viel älter, reifer, erfahrener. Bestattet auf der Hochebene der Hardangervidda, wie er es sich gewünscht hätte, dafür hatte Katya damals gesorgt, das war sie ihm schuldig gewesen.
Ihr erster Mann, aber nicht ihre erste Liebe, die lag neben ihr, das Gesicht ihr zugewandt, als wollte er sogar mit geschlossenen Lidern nicht den Blick von ihr lösen. Beide hatten sie Katya geprägt, jeder auf seine Weise, beide den Weg, den sie in all den Jahren zurückgelegt hatte, mit gebahnt.
Dass sie und Christian noch einmal zueinanderfinden würden, nach all den Dornen, die das Leben ihnen vor die Füße gestreut hatte, nach all den Stacheln, mit denen sie einander verletzt hatten, widersprach jeder Wahrscheinlichkeit.
Niemand konnte vorhersehen, wie lang der Schicksalsfaden einmal sein würde, der sich für einen spann, in jungen Jahren nahm man ihn meist nicht einmal wahr. Irgendwann jedoch kam es einem so vor, als bewegte man sich damit nur im Kreis, anstatt sich an diesem Faden vorwärtszuhangeln. Erst später im Leben begriff man, dass sich das Schicksal als Spirale wob, ihre Windungen immer größer und weiter. Ein fein verzweigtes Netz, das die schlimmsten Genickschläge abfederte und einen hielt, wenn man fiel.
Glücklich waren diejenigen, denen es eines Tages gelang, das spinnwebfeine Muster darin zu erkennen, mit dem alles einen Sinn ergab.
Vollkommen gelöst waren Christians Züge. Zwischen den Linien der späten Jahre schien der Junge durch, der er einmal gewesen war.
Am Ende war es wohl nur der Körper, der alt wurde und verfiel, während die Seele jung blieb und nachts auszog, um sich zu erinnern. Um all die Wünsche und Träume und Hoffnungen wiederzufinden, die sie einmal gehabt hatte.
Sanft fasste Katya ihn an der Schulter und wisperte seinen Namen.
»Du setzt mich jetzt aber nicht wieder vor die Tür«, murmelte er schlaftrunken.
Katya gab ein gehauchtes Lachen von sich.
»Ich will dir den Himmel zeigen.«
Mit einem tiefen Durchatmen öffnete Christian die Augen und rollte sich auf den Rücken. In seine Armbeuge geschmiegt, sah Katya mit ihm zu den Sternen hinaus. Wolken glitten über den Himmel, dunkle Schatten, vom Leuchten der Nacht glänzend hell verbrämt.
Katya drückte den Mund auf Christians bloße Brust, die Haut ledriger als früher. Auch sein Geruch hatte sich verändert, nicht länger das frische grüne Holz von früher, erinnerte er an einen alten Wald im Regen.
»Ich werde dich nicht heiraten«, verkündete sie im Flüsterton.
Christian blickte sie überrascht an.
»Ist es wegen der Leute? Darum hast du dich doch bisher auch nicht gekümmert.«
Katya deutete ein Kopfschütteln an.
»Ich bin Thilos Witwe und werde es auch bleiben. Ihm zum Gedenken.«
Christian zeichnete die Linien ihres Gesichts nach und ließ dann eine dicke Strähne ihres Haares durch die Finger gleiten.
»Was immer du willst. Mir soll es recht sein.«
Katya küsste ihn auf das Schlüsselbein. »Und was willst du?«
Seine Hand wanderte über Katyas Hals und fuhr die Rinne ihres Rückgrats entlang; wohlig kräuselte sich ihre Haut, bis zu den Pobacken hinab.
»Ich will die Welt mit dir sehen«, flüsterte er.
»Dann tun wir das«, murmelte sie. »Lass uns weiter in den Norden hinauffahren. Zu Silja. Ihr beide habt euch nie kennengelernt.«
Zweifel malten sich auf Christians Gesicht. »Ob ich vor ihren Augen bestehen kann?«
Sie versetzte ihm einen Knuff gegen die Schulter. »Dann streng dich an.«
Lachend zog Christian sie an sich.