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Friedlich lag der Garten der Villa in der Junisonne. Ein Frieden, der weit über die gutbürgerliche Nachbarschaft und das idyllische Dorf von Hamm hinausreichte.

Vor rund drei Wochen war dieser Frieden in Frankfurt am Main geschlossen worden. Nach einem Krieg, der im vergangenen September nach nicht einmal zwei Monaten schon fast vorbei schien. Doch der französische Hahn, der in der Schlacht von Sedan so viele Federn lassen musste, Kaiser und Krone noch dazu, dachte nicht daran, klein beizugeben. Mit schon stumpfem Schnabel, abgewetzten Krallen und aus zahlreichen Wunden blutend, hatte er sich dem finsteren preußischen Adler und dessen Verbündeten widersetzt, eine Attacke nach der anderen. Auch als Paris bereits den vierten Monat eingekesselt war, in eisiger Kälte und Hunger und Not. Bis Frankreich in diesem Frühling wankte und fiel, ein gerupftes und geschlachtetes Federvieh.

In der Villa in Hamm erlebten die Petersens indes einen eigenen Belagerungszustand. Ein stiller und zäher Widerstand gegen den Feind, der sich in Hennys Unterleib eingenistet hatte. Vernarbungen aus drei Geburten, die bösartig zu wuchern begonnen hatten; aussichtlos, an eine Operation auch nur zu denken, darin waren sich die Ärzte einig. Der einzige Sieg, den sie davontragen konnten, war der über die Zeit, und am Ende würden sie doch kapitulieren müssen.

Sachte schloss Cathrin das Buch, aus dem sie vorgelesen hatte. Auf der Sonnenliege waren Henny die Augen zugefallen. In Augenblicken wie diesen war besonders deutlich zu sehen, wie sehr der Krebs an ihr zehrte, das Gesicht hohlwangig, die Nase spitz und die Haut wie vergilbtes Pergament. Cathrin beugte sich im Gartenstuhl vor und zog behutsam die dünne Decke über ihrer Mutter zurecht.

»Glaubst du«, wisperte Henny, »ich schaffe es noch einmal ans Meer?«

Sobald sich abzeichnete, dass dieser Krieg nicht zur See stattfinden würde, sondern viel weiter im Süden, waren Christian und Cathrin mit Henny nach Warnemünde gefahren, sooft es ging. Mit dem Segen der Ärzte; die Luft dort würde Henny zwar nicht heilen, aber stärken.

Tatsächlich war Henny jedes Mal aufgeblüht, wenn sie mit bloßen Füßen in der Ostsee stand oder warm eingepackt neben Marie den Wellen zusah. Auf den langen Spaziergängen an Christians Arm oder während sie ihren Enkeln, die mit Jette manchmal nachkamen, beim Spielen zusah.

Heitere Tage, an denen sie alle fast vergessen konnten, wie es um Henny stand. Der Gedanke, dem Leben noch ein wenig mehr Zeit abzuringen, war ein Strohhalm, an den sie sich stets aufs Neue klammerten und der doch mittlerweile spürbar zerfaserte.

»Bestimmt, Mama«, versicherte Cathrin mit enger Kehle.

Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht ihrer Mutter ab. Flatternd hoben sich die Lider, ihre blauen Augen schimmerten feucht.

»Es tut mir so leid, Cathrin«, flüsterte sie. »Dass ich dir keine bessere Mutter gewesen bin.«

Bittend streckte Henny die Hand aus. Cathrin legte ihre Finger hinein und drückte sanft zu.

»Schon gut.«

Henny deutete ein Kopfschütteln an, wie ungläubig.

»Ich hätte doch gar kein Kind mehr bekommen sollen. Als du dann unterwegs warst, habe ich lange gar nichts davon gemerkt. Bei dir war alles so anders als bei Jette und bei Marie … Natürlich dachte ich, du müsstest ein Junge werden.«

Der feine Stich, der durch Cathrin hindurchfuhr, hinterließ keine bleibende Spur.

»Den hast du doch auch bekommen«, erwiderte sie leise. »Nur in Mädchengestalt.«

Grüblerisch furchte sich Hennys Stirn, als müsste sie diesen Gedanken erst drehen und wenden und von allen Seiten betrachten. Dann lachte sie auf, hell und fröhlich, und glich dabei einen Wimpernschlag lang einem jungen Mädchen.

»Ja, das habe ich wohl.«

Ihre Hand, klein und plump, streichelte Cathrins schlanke Finger.

»Du warst auch wild für zwei«, fügte sie hinzu. »Nicht einmal ungezogen. Nur so lebhaft und furchtlos, dass ich manchmal dachte, ich müsste dich festbinden, damit dir im Überschwang nichts zustößt. Ich weiß nicht, warum ich es nicht geschafft habe, mit dir zurechtzukommen. Wo es Katya doch so leichtfiel.«

Cathrin konnte nur vermuten, wie schwer es für eine Mutter sein musste, das einzugestehen, und die Art, wie Hennys Kinn dabei zitterte, rührte etwas tief in ihr an.

»Weißt du«, begann Henny erneut, unablässig mit Cathrins Hand beschäftigt, »dass ich auch einmal so etwas wie eine Geschäftsfrau war? Im Gemischtwarenladen damals. Oh, was habe ich das geliebt! Mit einer weißen Schürze und einem weißen Häubchen stand ich an der Toonbank. Ich mochte es, wenn es bis in den letzten Winkel blitzblank war, alles appetitlich hergerichtet und das Schaufenster hübsch geschmückt. Den Klönschnack mit den Hausfrauen.«

Hennys Augen leuchteten mit dem Sommerhimmel um die Wette.

»Warum hast du die Arbeit dort aufgegeben?«

»Ach«, antwortete Henny zaudernd, »wir hatten ja mit einem Mal so viel Geld. Viel mehr, als wir uns je erhofft hatten. Und dann war eben auch Marie da …«

Mit gekreuzten Beinen saß Marie im Gras, ihren Skizzenblock auf den Knien und unter dem breitkrempigen Strohhut ein seliges Lächeln auf dem Gesicht. Nur jemandem wie Marie gelang es, derart still auszuharren, dass die Schmetterlinge sie sorglos und fast zutraulich umtanzten.

»Und schau, was aus ihr geworden ist«, sagte Cathrin sanft. »Wie glücklich sie ist. Das ist in der Hauptsache dein Verdienst.«

Hennys Blick flackerte unsicher.

»Meinst du wirklich?«, fragte sie dann hoffnungsvoll.

Cathrin beugte sich weiter vor und küsste Henny auf die Wange. Ihre anstrengende, unbedarfte, manchmal geradezu kindliche, manchmal auf hausbackene Art eitle Mutter, die immer alles richtig machen wollte.

»Natürlich, Mama.«

Aus den Schatten der Säulenfassade löste sich eine schlanke Männersilhouette und spazierte über den Rasen auf sie zu.

»Schau, Papa ist zu Hause.«

Christian fuhr nicht mehr oft ins Kontor, nur noch, wenn seine Anwesenheit dort unbedingt erforderlich war. Alle richteten sie sich nach Henny aus wie Kompassnadeln nach dem Nordpol, während die Zeit, die ihnen noch blieb, unaufhaltsam dahinschmolz.

Cathrin lief ihrem Vater entgegen, in banger Erwartung, was auf seinem Gesicht geschrieben stehen mochte.

»Gibt es Neuigkeiten?«, sprudelte sie hervor.

Bedauernd verneinte er, und Cathrin sank der Mut. Seit zehn Monaten hatten sie nichts von Jakob gehört. Nicht seit seiner hastig gekritzelten und spröden Mitteilung an Grischa, nach einigen Wochen militärischen Drills sei das Regiment Ende August von der Küste ins Landesinnere verlegt worden, in Richtung des Rheins.

»Keine Nachrichten sind gute Nachrichten«, versuchte Christian sie aufzumuntern.

Beide wussten sie jedoch, dass zwischen erlösendem Weiß und grausamem Schwarz ein endloses Feld aus undurchsichtigem Grau lag. Soldaten wurden gefangen genommen, Soldaten wurden vermisst. Sie blieben irgendwo auf einem Schlachtfeld zurück, gingen auf den Märschen der Truppen verloren oder gerieten in einen Hinterhalt, desertierten vielleicht sogar. Manche verschwanden einfach von den Listen, als hätte es sie nie gegeben. Der Mahlstrom des Krieges zerhäckselte nicht nur Leib und Leben, sondern auch jegliche Ordnung.

Und doch blieb in der bleiernen Ungewissheit ein Rest Zuversicht, mochte sie auch noch so quälend sein.

Anders erging es Margarete Paal, die um ihren Verlobten weinte. Hein Claasen, einer der Lieferfahrer der Reintjes, trauerte um seinen Sohn, Reeder Kellinghusen um seinen Enkel, der die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte.

Auch Tristan war gefallen, zwischen Orléans und Paris, in der Schlacht von Bazoches-les-Hautes Anfang Dezember.

Cathrins zehn Jahre älterer Cousin, der einmal während einer Familienfeier in Teufelsbrück mit der kleinen Cathrin ausgebüxt war, damit sie auf einer Weide wenigstens auf einem Schaf reiten konnte, weil sie nicht warten wollte, bis sie ihr heiß ersehntes Pony bekam. Faustdick hatte er es hinter den Ohren gehabt, auf eine gutmütige und warmherzige Art. Ein Kamerad für Cathrin, nicht nur in geschäftlichen Dingen.

»Wie geht es Grischa?«, fragte Cathrin.

Erst seit ein paar Tagen war er wieder in Hamburg. Sobald ihn die Nachricht von Tristans Tod erreicht hatte, war er nach London aufgebrochen, um Elli, Aurora und Judith beizustehen. Nicht zuletzt, um zu besprechen, wie es jetzt weitergehen sollte. Ob Judith den Kaffeehandel weiterführte oder verkaufte, unerfahren, wie sie war, mit fünfundzwanzig Jahren Witwe und zwei kleine Kinder zu versorgen, das Jüngste erst im November zur Welt gekommen.

Tristan hatte nicht mehr erfahren, dass er nach seinem kleinen Sohn noch Vater einer Tochter geworden war.

In einer hilflosen Geste hob Christian die Schultern, einen kummervollen und besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. Cathrin konnte nur nicken.

Ein Schatten lag seither auf ihnen allen. Noch dunkler, noch kälter durch das ungewisse Schicksal Jakobs. Durch das Wissen, sich bald auch von Henny verabschieden zu müssen.

Ihr Vater zog sie an sich.

»Ich war nie dankbarer für meine wundervollen Töchter«, murmelte er an ihrer Stirn.

Einen Augenblick hielten sie sich aneinander fest, bevor Cathrin ins Haus ging und sich dabei über die Augen wischte.


Ein Lächeln breitete sich auf Hennys Gesicht aus, als Christian sich neben ihr niederließ. Seltsam, dass ihr Herz heute noch manchmal höher schlug, wenn sie ihn sah, auch nach über vierzig gemeinsamen Jahren. Genau wie damals, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war, eine frischgebackene Ehefrau.

Christian nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf.

»Wie geht es dir heute?«

Henny nickte vage. Tapfer wollte sie sich zeigen, obwohl sie doch spürte, wie der Krebs sie aushöhlte und ihr das Mark aus den Knochen kratzte. Ein wehes Lächeln auf dem Gesicht, streichelte Christian ihr über die Wange.

Hand in Hand badeten sie in der Sonne und sahen Marie zu, die hingebungsvoll an der Zeichnung auf ihrem Skizzenblock strichelte. Lächelnd verfolgte Henny eine Hummel im Flug, zielstrebig und doch scheinbar unentschlossen zwischen Flieder und Hortensien, Rittersporn und Päonien, Rhododendren und Jasmin.

»Sind die Rosen dieses Jahr nicht besonders prächtig?«, fragte Henny und seufzte zufrieden.

Henny hatte keinen grünen Daumen, aber einen kundigen Gärtner, der aus dem Garten jedes Jahr aufs Neue ein Schmuckstück machte, der feinen Villa würdig. Ein Sinnbild dafür, was sie und Christian in ihrem Leben erreicht hatten.

Dann fiel ihr ein, dass sie keinen weiteren Frühling mehr erleben würde, keinen nächsten Sommer und auch nicht, wie der unlängst gepflanzte Kirschbaum Früchte trug. Nie wieder würde sie beim Lied der Nachtigall einschlafen, Haut an Haut mit Christian, satt von seiner Nähe, seiner Zärtlichkeit, und nie wieder an seiner Seite mit den Stimmen von Rotkehlchen und Amsel aufwachen. Niemals mehr würde sie das Meer sehen und sein Salz atmen, war nie in Paris gewesen oder in Italien, geschweige denn in Indien oder Amerika. Sie würde nicht mehr erfahren, was aus ihren Enkelkindern wurde oder aus Marie, wenn sie nicht mehr da war. Und so, so gern hätte sie Cathrin noch als Braut gesehen.

Gähnend tat sich der finstere Schlund des Nichts vor Henny auf, der sie immer öfter heimsuchte und vor dem sie solche Angst hatte, und ihre Augen quollen über.

»Ich will doch noch nicht sterben«, schluchzte sie auf.

Christian rutschte aus dem Stuhl herüber und streckte sich neben ihr auf der Sonnenliege aus.

»Ich weiß, mein Herz«, murmelte er und drückte sie an sich.

In seinen Armen, das Gesicht an seine Hemdbrust geschmiegt, fühlte Henny sich getröstet. Als ob ihr nichts Schlimmes geschehen könnte, solange er bei ihr war. Daraus schöpfte sie den Mut, das auszusprechen, was ihr auf der Seele lag, lange schon.

»Bist du mir immer treu gewesen?«

Unter ihrer Wange fühlte sie, wie sein Herzschlag sich verlangsamte, dann beschleunigte. Sie blinzelte zu ihm hinauf.

»Karten auf den Tisch, Christian. Solange noch Zeit ist.«

Nur langsam weichte seine versteinerte Miene auf.

»Ein Mal nicht, nein«, raunte er heiser.

Henny musste nicht erst raten. In einer einzigen Nacht war Christian nicht nach Hause gekommen. Jene Nacht, in der zwischen Katya und Thilo etwas zerbrochen war.

»Katya, nicht wahr? Es war immer schon Katya.«

Die Art, wie sich seine Lider senkten, sein Kiefer sich anspannte, war ein stummes Eingeständnis. Es tat nicht einmal weh. Vielleicht, weil sie es lange schon geahnt hatte, seit dem Feuer; vielleicht, weil solche Dinge zu Winzigkeiten geschrumpft waren, am Ende eines Menschenlebens.

»Trotzdem hast du mich geheiratet«, flüsterte sie, verwundert und halb fragend. »Trotzdem bist du bei mir geblieben. Bei mir und den Mädchen.«

Ein Lächeln glomm in seinen Augen auf und ließ diese umso blauer strahlen. Sanft legte sich seine Hand an ihre Wange.

»Ja, Henny.«

Als ob das goldflirrende Licht des Nachmittags in Henny hineinfloss, so fühlte es sich an. Sie ließ den Kopf wieder an Christians Brust ruhen und weinte still vor sich hin, glückselig und unendlich traurig zugleich.

»Es waren doch gute Jahre, die wir zusammen hatten«, schniefte sie leise. »Oder nicht?«

»Die besten, Henny«, murmelte Christian und hielt sie umso fester. »Es waren die besten.«

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