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Christian saß vor der Hütte und schnitzte an einem Stück Holz. Nicht, um etwas herzustellen oder mit stetiger Übung irgendwann einmal etwas zustande zu bringen, was einer Figur, einem Gegenstand ähnelte. Er mochte es nur, wenn seine Hände beschäftigt waren, während er dem Kommen und Gehen seiner Gedanken zusah wie der gekräuselten Oberfläche des Sees.
An der Hütte selbst oder ihrer Einrichtung gab es nichts mehr zu reparieren, zu erneuern oder zu verbessern. Auch das Arbeiterhaus war so weit renoviert, jetzt musste er ohne solche Ziele auskommen.
Jahrelang war sein ganzes Sein darauf ausgerichtet gewesen, ein Geschäft zu gründen und das Eis aus Norwegen gewinnbringend an den Mann, die Frau zu bringen. Nach passenden Kontorräumen Ausschau zu halten war der nächste Schritt gewesen, einen Speicher erst zu mieten, dann zu kaufen. Immer bestrebt, neue Kunden zu gewinnen, neue Märkte zu erschließen, im nächsten Jahr größeren Umsatz zu machen und im Jahr darauf noch einmal mehr.
Jetzt saß er untätig hier, Henny auf dem Kirchhof zur Dreifaltigkeit begraben und seine Töchter aus dem Haus, das längst nicht mehr sein Zuhause war. So selten, wie Jette ihm ein paar Zeilen schickte, hatte sie es ihm nicht verziehen, dass er sich hierher zurückgezogen hatte. Seine eigenen Briefe an sie waren kaum länger, er hätte auch gar nicht gewusst, worüber er schreiben sollte.
Eine merkwürdige Art der Langeweile bestimmte seine Tage, quälend und erholsam zugleich. Er schwamm viel im See und streifte ziellos über die Wiesen, wo ihn die Hirten mit einem Schnack über das Wetter begrüßten, über die Lämmer und die Wolle dieses Jahres oder die Sorge um ein kränkelndes Rentier der Herde.
Wenn es ihm zu einsam wurde, wanderte er zum Eidfjordvatnet und ruderte in einem Boot zur Siedlung im Fjord hinüber. Bei Lejos Frau Anni und ihren Kindern bekam er immer eine Mahlzeit und ein paar freundliche Worte. Meist ließ er eine Liste dessen, was er benötigte, dort; dann und wann brach er auch selbst mit Lejo in einem der Kähne nach Bergen auf.
Auf der Bank hob er dann etwas von dem Geld ab, das Cornelius Overbeck im Auftrag von Jakob und Cathrin dorthin überwies, im Gegenzug für seine Anteile. Viel zu viel Geld für das mehr als bescheidene Leben, das er hier führte, das ihm jedoch ein beruhigendes Gefühl vermittelte. Und sobald er sich neue Hemden oder eine Hose gekauft hatte, etwas Besonderes zu essen und ein paar Flaschen Bier, war er froh, wieder in die abgeschiedene Stille des Fjords und der Seen zurückzukehren.
Ein kauziger Eigenbrötler war aus ihm geworden, das verriet sein Spiegelbild in den Schaufenstern von Bergen, trotz frisch geschnittener Haare und getrimmtem Bart, sehnig und fast hager und sonnenverbrannt. Selbst in dieser an schrulligen Charakteren nicht armen Gegend ein Sonderling, der zunehmend fremdelte.
Eine der Hündinnen in der Siedlung hatte unlängst geworfen, tapsige und herzzerreißend niedliche Flauschknäuel. Christian dachte daran, einen dieser Welpen als seinen Weggefährten zu sich zu holen, als seinen Kumpan, und konnte sich doch ebenso wenig dazu durchringen wie dazu, seine Zelte hier abzubrechen. Obwohl er mit dem baldigen Ende des Sommers einem weiteren Winter hier entgegensah, der unsäglich kalt und hart sein würde, jede Kleinigkeit zwischen Wachen und Schlafen zu einem mühseligen Kraftakt machte.
Mit Hennys langsamem Sterben war sein eigener Weg versandet, mit ihrem Begräbnis schließlich gänzlich verschüttet. Er sah nicht, wie er jemals wieder dorthin zurückfinden könnte, womöglich war das auch schlicht der natürliche Lauf am Abend eines Lebens. Mit sechsundsechzig Jahren war er schon fast ein alter Mann, obwohl er sich noch jung fühlte, das Herz kräftig, die Muskeln gestärkt vom kargen Alltag hier draußen, und der Verstand so klar und scharf wie eh und je.
Aber wahrscheinlich dachte das jeder über sich, der den Zenit seiner Tage hinter sich gelassen hatte.
Als ob er auf etwas wartete, so fühlte es sich an, hier zu leben. Auf etwas, von dem er nicht wusste, was es sein könnte und ob es überhaupt jemals kam. Warten musste er dennoch, mochte es auch noch so sinnlos erscheinen.
Christian hobelte weitere Späne vom Holz und sah dann wieder müßig in die Landschaft hinaus. In der Ferne flatterte eine Krähe auf der Wiese, vielleicht auch ein Rabe, schwer zu sagen. Erst auf den zweiten Blick erkannte er darin eine Frau in schwarzen Röcken, die geschmeidig und energisch ausschritt, ein Gang, den er unter Tausenden erkannt hätte.
Christians Herz zuckte auf, einen Augenblick traute er seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr.
Katya setzte die sichtlich schweren Taschen ab und hob einen Arm in einem ausgreifenden Winken. Hastig warf Christian die Schnitzerei von sich und rannte los.
»Ist etwas mit Marie?«, rief er ihr schon von Weitem entgegen.
Katya lachte. »Mach dir keine Sorgen. Marie geht es prächtig. Allen zu Hause.«
Atemlos stimmte er in ihr Lachen ein.
»Was tust du dann hier?«, fragte er fast vorwurfsvoll.
Spöttisch funkelte sie ihn an.
»Dies ist auch mein Land, falls du das vergessen haben solltest.«
Christian grinste und bückte sich nach ihrem Gepäck.
»Ich habe einiges mit dir zu besprechen«, fuhr sie fort, während sie mit der einen Tasche, die er ihr gelassen hatte, neben ihm durch die Wiesen stapfte. »Gerade auch, was Marie betrifft. Das geht von Angesicht zu Angesicht nun einmal wesentlich besser als in Briefen. Und außerdem wollte ich sehen, was ihr mit meiner Hütte gemacht habt, du und Jakob.«
Aus halb zusammengekniffenen Augen musterte sie das Dach und betrachtete die Schicht frischer Farbe außen an den Wänden. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, trat sie ein. Die Tasche abgestellt, wanderte sie durch den Raum und sah sich gründlich um, fuhr mit der Hand über das eine oder andere neue oder aufgearbeitete Möbel, ihre Augen hell und klar wie ein Frostmorgen. Den wechselnden Ausdruck auf ihrem Gesicht vermochte er nicht zu deuten.
»Ich hätte dich wohl besser erst fragen sollen«, sagte er schließlich und kratzte sich verlegen unter dem offen stehenden Hemdkragen.
Abrupt wandte sie sich um, mit einer Regung der Schulter, als wollte sie etwas von sich abschütteln.
»Ja, hättest du.«
Christian sah ihr zu, wie sie auspackte, und ging ihr mit den Lebensmitteln zur Hand, als sie ihn darum bat, ein verwünschtes und ganz und gar herrliches Pochen in seiner Brust.
Christians Tage hier waren zuletzt still gewesen. Zu still manchmal, stumm geradezu. Jetzt füllte Katya sie mit ihrer Stimme, ohne den Frieden des Sees zu stören.
Christian badete förmlich in ihren Schilderungen von Cathrins und Jakobs Triumph; in allen Einzelheiten ließ er sich deren Pläne für eine künftige Reederei erzählen und konnte nicht genug Fragen dazu stellen. Wie ein Schwamm saugte er alles über die Reisen auf, die Katya mit Marie unternommen hatte, voller Stolz auf seine Tochter, die es doch noch geschafft hatte, sich in die Welt hinauszuwagen.
Noch mehr staunte er darüber, dass Marie den Wunsch nach einem eigenen Zuhause geäußert hatte. Lange beratschlagten sie, ob und wie das zu bewerkstelligen sein würde, in einem Haus oder einer Wohnung, und wenn ja, in welchem Viertel der Stadt. Ob es Griet, selbst noch so jung und ihr ganzes Leben vor sich, zuzutrauen und vor allem zuzumuten war, rund um die Uhr mit Maries Eigenheiten zurechtzukommen. Nicht nur ein Jahr oder zwei, sondern zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang, und was es für Marie bedeuten würde, sollte Griet sich einmal eine andere Stellung suchen oder heiraten wollen.
Fragen und Gedanken, Argumente und Gegenargumente füllten ihre Tage, während sie Hand in Hand in einem nahe gelegenen Bach die Wäsche wuschen und in der Sonne trockneten, gemeinsam kochten und sauber machten. Auf ihren langen Spaziergängen über die Wiesen und Hügel und wenn sie abends noch lange zusammensaßen. Sofern es das Wetter zuließ, im Freien, Christian in einer warmen Jacke, Katya eine Decke über den Schultern, beide einen Becher Tee in der Hand; war es zu kühl, blieben sie zwischen den heimeligen vier Wänden der Hütte.
So wie an diesem Abend. Draußen rauschte der Regen herab und trommelte auf das Dach; der ganze Tag war schon grau und ungemütlich gewesen und hatte eine Ahnung von Herbst mitgebracht.
»Cathrin und Jakob also«, sagte Christian.
Die brennende Lampe spann einen goldschimmernden Kokon um den Tisch.
»Zumindest sieht alles danach aus«, erwiderte Katya heiter über ihrer Näharbeit. »Hast du irgendwelche Einwände?«
»Bestimmt nicht«, wehrte Christian ab. »Keiner wäre mir lieber für Cathrin.«
Katyas Brauen hoben sich. »Das klang anfangs, als er in unsere Familie kam, aber ganz anders.«
Christian nickte. »Ich habe dazugelernt.«
Den Blick, den Katya ihm zuwarf, konnte er nicht einordnen.
»Vermutlich ist er auch der Einzige weit und breit, der ihr gewachsen ist«, sprach er deshalb einfach weiter, »und der ihr dazu noch das Wasser reichen kann. Ich war in seinem Alter nicht annähernd so reif und verständig.«
Katya lachte leise. »Das ist wohl wahr.«
Einmal mehr spürte er ihren Blick auf sich, dieses Mal vorsichtig und wie abwägend.
»Warum hast du ihnen deine Anteile überschrieben?«, fragte Katya dann.
Mit dem Daumen fuhr er über den Hals der Bierflasche.
»Ich dachte, die beiden sollten sie haben«, brummte er vor sich hin. »Sie können etwas damit anfangen.«
»Das ist keine Antwort.«
Christian schwieg einige Herzschläge lang. Er hatte sich diese Frage selbst schon gestellt, ohne dass er je eine greifbare Erklärung gefunden hätte. Offen sah er Katya an.
»Ich weiß es nicht. Es schien mir einfach an der Zeit zu sein.«
Katya nickte, ohne die Augen von dem Leintuch zu nehmen, das sie sorgsam ausbesserte.
»Ich habe mich einmal mit Cathrin darüber unterhalten«, sagte sie nach einer längeren Pause, »was es heißt, ein solches Unternehmen zu führen. Für sie klang es, als wäre die Firma ein Dämon, der einem alle irdischen Wünsche erfüllt, aber einen im Gegenzug in Ketten hält. So in etwa hat sie sich ausgedrückt.«
Widerstreitende Regungen zuckten über Christians Gesicht, während er darüber nachdachte.
»Am Ende habe ich es wohl ganz ähnlich empfunden«, rang er sich schließlich ab. »Vermutlich ist es mir deshalb derart leichtgefallen, mich zurückzuziehen und meine Anteile herzugeben.«
Er trank einen langen Schluck, der bitter schmeckte.
»Aber was bin ich dann für ein Vater, der seiner Tochter den Fluch aufbürdet, von dem er sich selbst zu befreien sucht?«
Konzentriert zog Katya das Garn durch den Stoff.
»Was dem einen Fluch ist, bedeutet für den anderen Segen. Keiner kann das vorher so genau wissen. Cathrin wollte immer schon unbedingt in die Firma, und ich glaube, Jakob hat es sich auch irgendwann gewünscht. Du kannst nie verhindern, dass kleine Kinder sich die Knie aufschlagen. Genauso wenig kannst du verhindern, dass sie Fehler machen, sind sie einmal erwachsen, oder sich gar kopfüber ins Unglück stürzen. Sie wissen zu lassen, dass man da ist, wenn ihre Welt in Trümmern liegt und sie einen brauchen, das ist das Einzige, was man tun kann.«
Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.
»Du hast einmal zu mir gesagt, Cathrin sei nicht aus demselben Holz geschnitzt wie ich. Das mag durchaus sein. Aber sowohl sie als auch Jakob sind aus gutem und vor allem starkem Holz gemacht. Da sei unbesorgt.«
Durchatmend lehnte Christian sich im Stuhl zurück und streckte die Beine von sich.
Seltsam eigentlich, wie unbefangen sie miteinander reden konnten, nach allem, was gewesen war. Als ob sie in den Jahrzehnten zuvor keine gemeinsame Sprache gesprochen hätten, unfähig oder nicht willens, sich mehr als eine Handvoll Worte und Wendungen des anderen anzueignen.
»Glaubst du«, wollte er wissen, »es wäre mit uns anders gekommen, hätten wir nie mit dem Eishandel angefangen?«
»Dann hätten wir ein anderes Geschäft gegründet«, lautete Katyas nüchterne Antwort.
Christians Blick wanderte durch die Hütte, behaglich im Lampenschein der Regennacht.
»Und wenn es immer so gewesen wäre wie jetzt? Du und ich in einem Häuschen, einer Wohnung mit ein paar Zimmern. Ein bescheidenes, kleines, ganz und gar unaufgeregtes Leben.«
Eine ihrer Brauen hob sich ironisch.
»In dem ich die kleine Hausfrau bin, die dir abends das Essen auf den Tisch stellt und dir die Wäsche hinterherträgt? Dass dir das gefallen hätte, glaube ich sofort.«
Christian grinste. Katyas schonungslos ehrliche Art war immer schon wie ein Bad in Eiswasser gewesen, von einer schneidenden Schärfe und erfrischend zugleich.
Versonnen blickte sie einige Herzschläge lang vor sich hin.
»Wäre es so gekommen, hätten wir uns erst recht gegenseitig zerfleischt. Vor lauter Enttäuschung, dass wir nicht mehr aus unserem Leben gemacht haben.«
Sorgsam vernähte sie den letzten Fadenrest und begutachtete ihr Werk, bevor sie das Leintuch lose zusammenfaltete und auf den Tisch legte, dann mit lockerer Hand darüberstrich.
»Wir waren so hungrig, Christian. Hungrig nach einem besseren Leben. Nach Erfolg und Reichtum und vielleicht ein bisschen auch nach Macht. Mit all der Arroganz, aller Rücksichtslosigkeit und Besserwisserei, die genauso zur Jugend gehört wie glatte Haut und volles Haar und ein stürmischer Tatendrang. Niemand kann uns das verdenken. Auch wir selbst nicht.«
Ein wehes Lächeln um den Mund, stand sie auf.
»Wir haben beide genau den einen Menschen gefunden, den wir in diesem Leben brauchten. Du deine Henny und ich Thilo. Du und ich, wir wären früher nie miteinander glücklich geworden. Gute Nacht, Christian.«
Die Schatten jenseits des Lichtkreises verschluckten sie.
Christian schloss die Augen, als er hinter sich Katyas Röcke auf den Boden fallen hörte, das Rascheln, als sie aus ihrer Bluse schlüpfte und ihr Nachthemd überzog. Nicht, weil er fürchtete, der Versuchung zu erliegen, einmal über die Schulter zu spähen. Sondern weil er ganz in diesem Knistern von Stoffen aufgehen wollte. Das trockene Geräusch des aufgeschüttelten Kissens und das Knarzen des Holzes, wenn Katya sich hinlegte, war das Beste am Ende eines jeden Tages.
Katyas Atemzüge auf der anderen Seite des Raumes bedeuteten ihm mehr als nur das Ende seiner Einsamkeit. Ein stilles Glück brachten sie mit, das er nicht mehr missen mochte.