39
Zäh hielt sich die Stille im Raum.
In Katyas Ohren klingelte es, Mund und Kehle waren wie mit Sand gefüllt. Wie damals, nachdem Christian sie in der brennenden Stadt mit sich gezerrt und unter sich begraben hatte. Ehe ein lauter Knall die Luft zerriss und die Wucht der Sprengung sie überrollte, Steinchen und lose Latten und Metallsplitter auf sie einprasselten. Nicht weit von hier, wo sie heute zusammensaßen, nur ein paar Straßen entfernt, dreißig Jahre war es her.
Brandwunden und Schrammen hatte sie an jenem Tag davongetragen, ein verstauchtes Handgelenk. Ihr Knöchel, damals blau und auf die Größe einer Sellerieknolle angeschwollen, war danach gut verheilt und bereitete ihr nur selten Schwierigkeiten; jetzt pochte es wieder darin.
Als ob der Körper genauso Erinnerungen sammelte und verwahrte wie der Kopf.
Katya senkte den Blick auf die Hände in ihrem Schoß. Riefen hatten sich um die Knöchel herum eingegraben. Zwischen dem Delta durchschimmernder Adern war der eine oder andere bräunliche Fleck aufgetaucht wie Schlammspritzer, die man nicht auf Anhieb abgewaschen bekam, und wenn sie die Hand locker ließ, lag die Haut nicht mehr so stramm an wie früher.
Diese Hände hatten sie mit Putzen und Nähen ernährt, bis Feder und Tinte im Kontor ihr Arbeitswerkzeug wurden. Die Schwielen auf den Fingerkuppen waren geblieben, weil sie bis heute selbst zu Nadel und Faden griff und im Garten jätete, säte und erntete. Männerhaut hatten diese Hände gestreichelt, Tierfell und das Gefieder ihrer Hennen. Diese Hände hatten sich um Kinder gekümmert, die nicht ihre leiblichen gewesen und doch die ihren geworden waren.
Ein ganzes reiches Leben lag in diesen Händen; kommenden Winter würde sie sechzig Jahre alt werden.
»Ich weiß«, begann sie dann langsam, »wie es ist, tagelang in einem schmutzigen und stinkenden Frachtraum zu verbringen. Ich weiß, wie sich Hunger anfühlt. Wie unbarmherzig die Welt zu denen sein kann, die mehr wollen als das, was ihnen das Schicksal zugedacht hat. Und genauso habe ich nie vergessen, wie froh ich war, wenn mir jemand etwas Gutes tat. Ohne die Chancen, die sich mir dadurch geboten hatten, säße ich heute nicht hier.«
Sie hob den Kopf und tauschte einen langen Blick mit Grischa, der diesen Weg mit ihr gegangen war.
»Wenn wir mehr besitzen als andere«, fuhr sie fort, »dann geben wir etwas davon ab. So haben wir es schon gehalten, als Thilo Rüben, Kartoffeln und Kohl, die sich im Gemischtwarenladen nicht mehr verkaufen ließen, in die Hinterhöfe gebracht hat. Diese Tradition haben wir bis heute hochgehalten.«
Ihre Augen richteten sich auf Cathrin und Jakob.
Ähnlich hoffnungsvoll mochten sie selbst einst gewirkt haben, bei ihren ersten Gehversuchen in der Welt der Geschäfte, Katya und Grischa, Thilo und Christian. Genauso erfolgshungrig und von einem an Hochmut grenzenden Selbstbewusstsein, durchsetzt von dem Quäntchen Naivität, das man brauchte, um zu träumen; die Wirklichkeit stutzte einem ohnehin früher oder später die Flügel.
»Wenn wir die Möglichkeit haben«, sprach sie weiter, »unseren Teil dazu beizutragen, dass Menschen sich ein besseres Leben aufbauen können, mit einer sicheren Überfahrt in einem sauberen Bett und mit vollem Magen, dann tun wir das. Und wenn wir etwas daran verdienen, umso besser. Ich setze da mein ganzes Vertrauen in euch. Das wäre auch in Thilos Sinn.«
Die Erleichterung, die von Jakob und Cathrin ausging, schwappte wie eine Flutwelle durch den Raum.
Die Hände auf die Tischplatte gepresst, schob Ludger geräuschvoll den Stuhl zurück.
»Dann ist meine Anwesenheit hier ja wohl überflüssig.«
»Warte bitte«, wandte Cathrin sich an ihn.
Sie schien nicht gleich die richtigen Worte zu finden und versicherte sich mit einem Blick zu Jakob, dass sie auch hier an einem Strang zogen, bevor sie neu ansetzte.
»In geschäftlichen Dingen sind wir meist unterschiedlicher Meinung, du und ich, und auch ganz persönlich stehen wir oft auf dem falschen Fuß miteinander. Das wird sich wohl nie ändern. Trotzdem glaube ich, dass gerade unsere Gegensätzlichkeit ein Gewinn für dieses Projekt wäre. Jakob und ich sind zwar stolz auf die Arbeit, die wir bis hierhin geleistet haben, und trauen uns eine Menge zu. Aber wir sind eben doch noch recht jung. Uns wäre bedeutend wohler, wenn du uns mit deiner Erfahrung und deinem Geschäftssinn zur Seite stehen würdest. Sei es, dass du auf der Werft noch ein wenig Nachlass für uns herausholen könntest, dich darum kümmerst, dass alle Verträge wasserdicht sind, oder wenn es später darum geht, uns so zu präsentieren, dass wir uns deutlich von der Konkurrenz abheben.«
Einladend und mit einem offenen Lächeln streckte sie ihrem Schwager die Rechte entgegen.
»Wir hätten dich gern mit im Boot, Ludger.«
Verlegen kraulte Ludger sich den Backenbart, damit hatte er offenbar nicht im Geringsten gerechnet. Sichtlich geschmeichelt fühlte er sich, aber genauso sichtbar widerstrebte es ihm, künftig Cathrin und Jakob unterstellt zu sein. Schließlich schlug er doch ein.
»Willkommen an Bord«, sagte Jakob, als die beiden Männer sich ebenfalls die Hand schüttelten.
Der letzte Rest Anspannung war verflogen. Lachend redeten sie durcheinander, beglückwünschten sich gegenseitig und öffneten die Karaffen mit Cognac und Scotch.
Katya trat zu Cathrin und schloss sie in die Arme. Wie sie es damals getan hatte, als Christian sie zu ihr brachte, mit ihrem hellen Haarschopf wie ein flaumiges Küken. Aus dem Jungvogel war ein Adler geworden, der gerade stolz und frei seine Schwingen ausbreitete, die Federn im Wind gekräuselt und die Zukunft scharf im Blick.
»Gut gemacht«, flüsterte Katya, löste einen Arm von Cathrin und legte die Hand an Jakobs Wange. »Alle beide. Für Thilo wäre heute ein glücklicher Tag.«
In langen Schritten eilte Grischa zur Tür und lud die Angestellten zur Feier des Tages auf einen Schluck ein. Im Handumdrehen füllte sich der Raum, Gläser stießen klingelnd aneinander, und Ludger reichte die Zigarrenkiste herum, selbst schon eine Zigarre im Mundwinkel. Gratulationen schwirrten durch die Luft, und Cathrin und Jakob antworteten bereitwillig auf die interessierten Nachfragen zum Schiffsmodell und den ausgebreiteten Plänen.
Im feierfreudigen Trubel fiel es nicht weiter auf, wenn sich Jakobs und Cathrins Finger wie zufällig streiften. Die Art, wie sich Jakobs Hand kurz zwischen Cathrins Schulterblätter legte und Cathrin mit dem Fingerknöchel auf Jakobs Revers klopfte, wenn sie ihn in ein Gespräch mit einbezog.
Katya sah es sehr wohl und lächelte dabei in sich hinein.
Eine Zeitenwende war mit dem heutigen Tag eingeläutet. Womöglich hatte Christian etwas in der Art geahnt und deshalb seine Anteile abgetreten. Ausgerechnet Christian, dem die Firma über alles gegangen war, in mancherlei Hinsicht sogar über seine Familie, sein eigenes Glück, wie Katya immer mal wieder gedacht hatte.
Vielleicht änderten sich manche Menschen doch im Lauf der Zeit und reiften nach wie eine Mango.
Katya warf noch einen Blick auf Cathrin und Jakob. Die neuen Eisbarone, die das Unternehmen in ein anderes Morgen führen würden und dabei die Liebe gefunden hatten.
Dann stahl sie sich aus dem Raum.
Am Tisch drängten sich einige der Schreibkräfte zusammen, die Knie gebeugt oder gleich ganz in der Hocke, um das Schiffsmodell in allen Einzelheiten zu begutachten.
»Und das hier wird der Speisesaal«, erklärte Cathrin und strich mit der Spitze des kleinen Fingers über die entsprechende Stelle des Modells. »Wir wollen die Mahlzeiten im Turnus anbieten, vielleicht sogar nach einem Zeitplan. Dadurch sparen wir Platz, den wir wiederum für weitere Kabinen nutzen können. Für die Passagiere ist es sicher auch angenehmer, wenn sich nicht alle gleichzeitig hineindrängen.«
»Oh, von da sieht man ja sogar aufs Meer hinaus«, staunte Fräulein Wesendonk.
»Den kleinen Luxus haben wir uns erlaubt«, erwiderte Cathrin lachend.
Sie richtete sich auf und sah sich nach Katya um. Nirgendwo jedoch konnte sie deren Witwenschwarz ausmachen, nicht ihr Rabenhaar. Cathrin entschuldigte sich und schob sich zwischen den Angestellten hindurch.
»Hast du Katya gesehen?«, fragte sie Grischa, der bedauernd den Kopf schüttelte.
Jenseits des Stimmengewirrs lag das Kontor still und verlassen da.
Die Tür zu Katyas Büro stand offen, und Margarete Paal trat gerade heraus, wie gewohnt in schwarzem Rock und grauer Bluse, eine Brosche mit schwarzem Stein am hochgeschlossenen Kragen. Übers Jahr hatte ihr Gesicht wieder Farbe angenommen, und ihr rehbraunes Haar war schick frisiert.
»Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, Fräulein Paal«, sprach Cathrin sie an. »Im Salon findet gerade ein kleiner Umtrunk statt.«
Fräulein Paal blinzelte ein wenig unglücklich hinter der Brille, die sie neuerdings trug und sie flott und sehr modern aussehen ließ.
»Danke, Fräulein Petersen. Aber auf ausgelassenen Feiern mag ich mich noch nicht so recht wohlfühlen.«
Cathrin nickte, das verstand sie.
»Sie haben nicht zufällig meine Tante gesehen?«, setzte sie dann hinzu.
»Doch, natürlich«, antwortete Fräulein Paal erstaunt. »Frau Petersen hat noch ein paar Dokumente unterschrieben und ist dann gegangen. Sie will kurzfristig verreisen. Warten Sie, sie hat etwas für Sie dagelassen. Auf ihrem Schreibtisch.«
Cathrin folgte Fräulein Paal in das Zimmer und nahm den Umschlag entgegen. Halb stirnrunzelnd, halb lächelnd überflog Cathrin die Vollmacht, die Katya ihr ausgestellt hatte.
Der Zugvogel war wieder auf Reisen gegangen.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte Cathrin sich in der Tür noch einmal um.
»Sagen Sie, Fräulein Paal … Herr Voronin wird zwar alles andere als begeistert sein, weil er Sie und Ihre Arbeit überaus schätzt. Dürfte ich trotzdem versuchen, Sie abzuwerben? Damit würden allerdings lange Arbeitstage auf Sie zukommen, voraussichtlich auch an den Wochenenden, und das für ein gutes Jahr oder sogar länger. Was wir Ihnen selbstredend entsprechend vergüten werden.«
Hinter den Brillengläsern blitzten Margarete Paals Augen auf.
»Ich würde meinen Posten bei Herrn Voronin an sich nur sehr ungern aufgeben«, antwortete sie diplomatisch. »Aber wenn Sie und Herr Voronin sich darin einig sind, dass ich bei Ihnen mehr gebraucht werde, Fräulein Petersen …«
»Gut«, erwiderte Cathrin heiter, »dann werde ich gleich mit ihm sprechen.«
Schwungvoll kehrte sie in den Salon zurück, um offiziell ihr neues Leben als Eisbaronin von Hamburg anzupacken. Wohl wissend, dass sie damit erst ganz am Anfang stand.