13
Die Tür zu der kleinen Wohnung hatte sich gerade erst geöffnet, Cathrin kaum den Schritt über die Schwelle gemacht, als sie schon ihren Hut und die pralle Tasche fallen ließ und die Arme um Gerrit schlang. Die Wange gegen seine Schulter gepresst, badete sie in seinem Geruch, den sie so lange vermisst hatte, nach Wäschestärke und wie Zimt und Ingwer. Ein halbes Jahr lang hatten sie einander fast nur zwischen Tür und Angel gesehen.
»Du bist ganz nass«, murmelte er in ihr Haar, von südlicher Sonne milchweiß gebleicht.
»Es regnet«, erwiderte sie genauso leise. »Juniregen.«
»Ich weiß.« Sie konnte hören, wie er schmunzelte. »Regnet es an Sankt Barnabas, schwimmen die Trauben bis ins Fass.«
Lachend sahen sie einander ins Gesicht, bevor er sie bei der Hand nahm.
»Komm.«
Die feuchten Schuhe abgestreift, saß Cathrin mit Gerrit auf der Decke, die er auf den Bodendielen ausgebreitet hatte; ein Picknick in der Stube, während der Hamburger Regen außen an den Fenstern hinabrann. Bei Wein und Käse, geräuchertem Schinken und Melone erzählte Gerrit von belgischen Pralinen und französischem Cidre, von Jakobsmuscheln und Hummer an der wilden Küste der Bretagne und von den Champagnersorten, die er in lieblichen Flusstälern gekostet hatte.
Cathrin indes schwärmte von gebratenen Okraschoten in Kairo und von Zuckerzeug aus Mandeln, Pistazien und Aprikosen, während sie die Tasche voller Mitbringsel ausleerte. Seidenschals und Glasperlen und Fläschchen duftender Öle für Gerrits Schwestern, für Jordis Kopstede und ihre Mädchen; magische Geduldsspiele für die Jungen, ein Lederfutteral für Fietes Werkzeug und klebrige Süßigkeiten. Auf den souqs der Stadt bei bärtigen Händlern erhandelt, die mit Willkommensgesten zu Malventee einluden, das Feilschen um den Preis offenbar mehr Zeitvertreib und eine Frage der Ehre denn wirtschaftliche Notwendigkeit.
»Am Ende machst du uns noch Konkurrenz«, neckte Gerrit sie, während er sich durch Kardamom, Sternanis, Nelken und getrocknete Minze schnupperte, die sie ihm mitgebracht hatte.
Gekonnt blasiert hob Cathrin die Brauen. »Oder ich werde künftig euer wichtigster Lieferant.«
»Oder das«, gab Gerrit mit zuckendem Bart zurück.
Für Betje und Hanno hatte Cathrin ein Schachspiel gekauft. Genau so eines, wie es die Männer in ihrer Mitte hatten, die bei Mokka und Wasserpfeife vor den Kaffeehäusern Kairos zusammensaßen. Manchmal, zu vorgerückter Stunde, hatten sich die Schachspieler in Musiker verwandelt, ihre Lieder von einer solchen Melancholie, einer unerfüllbaren Sehnsucht, dass Cathrin wohlige Schauder den Rücken hinabliefen.
In Kairo spielte es keine Rolle, welches Jahr man gerade schrieb oder sogar welches Jahrhundert. In diesem Irrgarten aus himmelhohen Torbögen und Mauern aus Kalkstein, Mosaiken aus blauen und weißen Fliesen und geschnitzten Türen. Wo sich Wäscheleinen von einem überhängenden Balkon zum nächsten spannten und Kupferwaren und bunte Glaslaternen Regenbogenlichter auf die Gasse warfen, die Luft gewürzt von Spezereien und Gesottenem und Räucherwerk. Zwischen farbenprächtigen und perlenglitzernden Stoffen, kostbaren Schatullen und Perlmutt glich jede Werkstatt eines Gold- oder Silberschmieds, eines Obsidian- und Alabasterschnitzers der Schatzhöhle Ali Babas, von der Cathrin so lange geträumt hatte.
Auf den Ellbogen gestützt und die Beine von sich gestreckt, hatte Gerrit die mitgebrachten Kaffeebohnen durch die Finger gleiten lassen, während er zuhörte. Jetzt legte er das Päckchen zur Seite und setzte sich auf. Eine Hand auf Cathrins Nacken, zog er sie wortlos zu sich heran.
Das hatte Cathrin am meisten vermisst. Diese endlosen Küsse und wie Gerrits bärtiger Mund über ihre Haut strich, während sie spielerisch miteinander rangelten und rauften, Knöpfe aufsprangen und Säume hochrutschten.
»Halt«, raspelte Gerrit irgendwann heiser. »Cathrin, halt.«
Cathrin hörte nicht auf ihn. Der heiße Hunger, den sie in diesem Jahr aus dem Eis mitgebracht hatte, war übermächtig und verwandelte ihr Innerstes in schmelzendes, tropfendes Wachs. Umso fester schlang sie ein Bein um Gerrit, packte ihn bei den Haaren und grub herausfordernd die Zähne in seinen Hals.
Gerrit ergriff ihre Hände und drückte sie zu Boden. Sein ganzes Gewicht musste er aufbieten, um Cathrin zum Stillhalten zu zwingen, einen fiebrigen Glanz in seinen Augen, ein trunkenes Lächeln um den Mund.
»Wenn ich dir jetzt schon ein Kind mache«, raunte er atemlos, »jagt mich dein Vater mit Schimpf und Schande aus der Stadt. Und meine Mutter hilft ihm vermutlich dabei.«
Das Lachen blieb Cathrin im Hals stecken, etwas in seiner Stimme irritierte sie. Fragend blinzelte sie zu ihm hinauf, plötzlich zahm und fast scheu.
»Lass uns heiraten«, sagte er.
Die Beine im Sessel unter sich gezogen, starrte Cathrin in die Flammen.
Es fühlte sich falsch an, im Juni vor dem prasselnden Feuer im Kamin zu sitzen, eine Tasse Tee in den Händen. Und doch war es genau das, was sie jetzt brauchte. An diesem Tag, an dem der Regen eine unzeitige Dämmerung mit sich gebracht hatte, der natürliche Lauf der Jahreszeiten wie aufgehoben schien. Nachdem sie vor Gerrit davongelaufen und in einer Mietdroschke nach Teufelsbrück geflüchtet war.
Lange hatten sie und Katya geredet. Auf einen Rat hatte sie gehofft, auf eine einfache Antwort.
Stattdessen schärfte sich einen langsamen Wimpernschlag nach dem anderen das Bild, das Cathrin von ihrer Familie hatte. Einen tiefen dunklen Wald sah sie jetzt vor sich, über Jahrzehnte gewachsen und windumtost. Hinter jedem Baum schienen heimliche Leidenschaften und enttäuschte Gefühle zu lauern, jederzeit konnten Äste brechen und blutige Wunden ritzen, das tückische Unterholz einen ins Straucheln bringen. Und trotzdem schlug man sich weiter durch, es gab keinen anderen Weg.
Beim nächsten Schluck sah sie zu Katya, die auch im vierten Jahr noch an ihrem Trauerschwarz festhielt. Die erste große Liebe von Cathrins Vater, wie Grischa Thilos erste Liebe gewesen war. Dennoch hatten Thilo und Katya zueinander gefunden und sich nie wieder losgelassen. Auch wenn ihr gemeinsamer Weg alles andere als geradlinig verlaufen war.
»Warum bist du trotz allem bei Thilo geblieben?«, wollte Cathrin wissen. »Wegen der Firma?«
»Die Firma«, wiederholte Katya nachdenklich. »Unser guter Ruf. Weil du dann da warst und uns beide brauchtest. Einzeln oder zusammengenommen sicher alles gute Gründe. Und doch hätte mich nichts davon abgehalten, meine Sachen zu packen und zu gehen, wenn ich es gewollt hätte.«
»Wolltest du das je?«
Katya nickte.
»Ein Mal war ich so weit, ja. Ich wollte alles hinter mir lassen und irgendwo neu anfangen. Mit einem anderen Mann. Ich hatte sogar schon die notwendigen Vorbereitungen getroffen, mir meine Anteile auszahlen zu lassen.«
»Und dann?«
Katyas Blick verlor sich im Feuer. »Dann kam es doch nicht dazu.«
»Wie du das sagst, klingt es, als wäre die Firma ein Dämon, der einem alle irdischen Wünsche erfüllt, aber einen dafür lebenslang in Ketten hält.«
Das Lächeln ihrer Tante fiel spöttisch aus.
»So kann es einem vorkommen. Wen sie einmal verschlingt, den gibt sie nicht so leicht wieder frei.«
Mit einem langgezogenen Ausatmen ließ Cathrin den Kopf an der Sessellehne ruhen.
Es könnte so leicht sein. Niemand würde von ihr erwarten, dass sie sich als Gerrits Frau hinter den Herd zurückzog, das hatte er selbst so gesagt, das hatte Betje als seine Mutter ihm vorgelebt. Hoch erhobenen Hauptes könnte Cathrin den täglichen Kleinkrieg mit Ludger hinter sich lassen und all ihr Wissen, ihre Ideen und Energie in den Feinkosthandel stecken.
Nur war es nicht das, was Cathrin wollte. Cathrin wollte Petersen & Voronin, nichts anderes.
Womöglich sogar mehr, als sie Gerrit wollte.
Katya schenkte Cathrin und sich selbst nach. Behutsam stellte sie die Teekanne wieder ab.
»Christian würde es nie aussprechen, vielleicht ist er sich dessen noch nicht einmal bewusst … Aber genau deshalb ist er dagegen, dass du unsere Nachfolge antrittst. Weil er dich davor bewahren will, dich von den Geschäften auffressen zu lassen und dabei dein eigenes Glück zu verpassen.«
Überlaut drang das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu Cathrin durch. Sogar das Rauschen des Regens draußen war plötzlich von hektischer Dringlichkeit.
Worauf warten wir denn noch?, hatte Gerrit gefragt. Es sind doch schon fast drei Jahre.
Cathrin wusste nicht, worauf sie noch wartete. Als reichlich spätes Mädchen wurde sie inzwischen betrachtet, mit achtundzwanzig Jahren. In den Augen von Nachbarn und Bekannten war eine Heirat oder wenigstens das Anzeichen einer Verlobung überfällig, neue Kunden und Lieferanten im Kontor schlingerten bei ihr hilfesuchend zwischen Fräulein und Frau. Und immer häufiger hing die unausgesprochene Frage nach einem unsichtbaren Makel in der Luft. Nach einem Defekt.
Während Gerrit mit sechsundzwanzig Jahren gerade ins allerbeste Mannesalter kam, ihn jedes weitere Jahr als Junggeselle nur noch begehrenswerter machte. Das sah sie jedes Mal in den Augen der Frauen und jungen Mädchen, wenn sie einen Abstecher nach Altona in den Laden machte oder an Gerrits Seite über den Jungfernstieg flanierte, mit ihm im Alsterpavillon saß, sie zusammen durch den Botanischen Garten spazierten oder den Sonntag im Zoologischen Garten mit seinem Meerwasseraquarium verbrachten.
»Hattest du je das Gefühl«, fragte Cathrin zaghaft, »die Zeit wäre dein Feind?«
In Katyas Augen blitzte es auf. »Fast mein ganzes Leben. Als Mädchen konnte ich es nicht erwarten, eine Frau zu werden. Die Liebe wollte ich erleben und war doch so lange noch zu jung dafür. Und als ich endlich alt genug war, legte mir die Zeit einen Stein nach dem anderen in den Weg. Mit verpassten Chancen, falschen Augenblicken, ihrem widersprüchlichen Verlauf.«
Einige Herzschläge sann sie nach. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme dunkler als sonst.
»Nie jedoch habe ich die Zeit als unerbittlicher empfunden als damals, als ich vergeblich darauf wartete, dass mir ein Mann ein eigenes Kind schenken würde. Mit jedem Jahr, das verstrich. Mit jedem Monat. Ich habe lange gebraucht, um mich damit auszusöhnen.«
Dass ihre fruchtbaren Jahre gezählt sein würden, wusste Cathrin. Und trotzdem war ihr der Gedanke an ein Haus voller kleiner Cathrins und Gerrits so fern wie Mars und Venus.
»Ich hatte dennoch großes Glück in meinem Leben«, hörte sie ihre Tante leise sagen. »Meine Ehe mit Thilo machte einen Teil dieses Glücks aus. Mein Seelengefährte war er, mit niemandem sonst hätte ich lieber all diese Jahre verbracht. Und der Preis, den es dafür zu zahlen galt, war nicht zu hoch.«
Cathrin dachte an Grischa, der seine Lieben so leichtherzig und unbekümmert auskostete wie alles andere im Leben, während Thilo seiner heimlichen Leidenschaft nur im Verborgenen nachgegeben hatte, mit Katyas Segen.
Cathrin erinnerte sich noch gut daran, wie gelöst und mit einem stillen Glück in den Augen Thilo von seinen Reisen nach Paris und Venedig und Rom zurückkehrte und Katya danach umso mehr auf Händen trug. Damals für Cathrin ein Ausdruck ihrer tiefen Verbundenheit, eines wechselseitigen Vertrauens, machte ihr diese Erinnerung im Rückblick das Herz schwer.
»Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte«, murmelte Cathrin.
»So etwas kann man im Voraus auch nicht wissen. Aber irgendwann weiß man es«, erwiderte Katya sibyllinisch. »Deshalb habe ich dir davon erzählt.«
Der Regen rauschte draußen weicher herab, kaum zu unterscheiden vom Wind, der durch die Bäume strich, oder dem Fließen der Elbe.
Cathrins Gedanken wanderten zu Jakob. Ausgerechnet.
Ihr Cousin, der ihr im Kontor und den Lagerräumen die längste Zeit wie ein junger Hund an den Fersen gehangen hatte, sogar noch diesen Winter im Eis. Die unverhohlene Bewunderung, mit der er zu ihr aufsah, hätte ihr schmeicheln müssen, stattdessen war sie ihr lästig gewesen, ein permanentes Jucken zwischen den Schulterblättern. Jakob war doch noch ein halber Bursche, gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Rivale noch dazu, das hatte Cathrin keineswegs vergessen. In ihm den kleinen Bruder zu sehen, den sie nie gehabt hatte, war ihr Weg gewesen, sich auf halbwegs freundschaftlichen Fuß mit ihm zu stellen.
Dann hatte sie ihn zur Seite gestoßen, um ihn vor den herabstürzenden Eisnadeln zu bewahren, und war mit ihm zu Boden gegangen. Ein Moment des Schocks, für sie beide. Jäh war Cathrin bewusst geworden, wie sehr dieser Bursche bereits ein Mann war; überdeutlich hatte sie es fühlen können. Eine plötzliche Hitze war unter den dicken Schichten aus Leder, Wolle und Pelz zwischen ihnen aufgeschossen, und Flämmchen waren über Cathrins Rückgrat getanzt. Tief hatten Jakobs Augen blicken lassen, in ein raues und ungezügeltes Begehren hinein.
Cathrins Wangen glühten immer wieder auf, wenn sie daran zurückdachte, und sie wickelte sich tiefer in das Schultertuch, das Katya ihr geliehen hatte.
»Das bedeutet es für mich, eine Ehe einzugehen«, fuhr Katya fort. »Das Versprechen hochzuhalten, das man einander gegeben hat. Den anderen nicht fallen zu lassen, ungeachtet seiner Fehler und Schwächen. Sich immer wieder neu füreinander zu entscheiden und sich nicht beirren zu lassen, wenn sich die Gefühle verändern mit den Jahren. Kein Mensch kann einem anderen alles sein, weißt du. Wie manche Sehnsüchte im Leben ein unerfüllbarer Traum bleiben.«
Das Lächeln, das sich auf Katyas Gesicht abzeichnete, erhellte den abendlich dämmrigen Raum.
»Wähle deinen künftigen Ehemann mit Bedacht, Cathrin. Nicht jede große Liebe, jede feurige Leidenschaft taugt für eine gute Ehe. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann.«
Lass es uns wenigstens offiziell machen, hatte Gerrit gedrängt. Wir gehen gleich hoch und sagen es ihnen. Es ahnen ohnehin schon alle, dass wir zusammen sind.
Worte, die in Cathrin nachhallten wie der Knall einer zugeschlagenen Tür.
»Weiß Christian davon?«, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen. »Von Thilos anderem Leben?«
Katya schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Thilo wusste auch nicht alles über deinen Vater. Wir haben alle eine geheime Seite, die wir niemandem zeigen.«
Cathrin nickte. Nicht klüger und auch nicht weiser nach diesen langen Stunden, nur erschöpft und verschwindend klein angesichts der weitreichenden Entscheidung, die sie zu treffen hatte.
Bittend streckte sie die Hand nach ihrer Tante aus.
»Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?«