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Männer stiefelten die Treppen hinauf und wieder hinunter, ihre gewichtigen Stimmen aufgelockert von derjenigen Helgas, ein munter sprudelnder Bergbach. Strahlend wie die Sumpfdotterblumen auf den feuchten Wiesen, war sie ein Gewinn für das Gästehaus, das sie nach und nach von ihrer Schwiegermutter übernommen hatte.

Mitte siebzig war Silja Guðmundsdóttir jetzt, ihr Flechtkranz schneeweiß, das nordländische Gesicht wie aus gealtertem Papier. Seit einem Sturz auf der Treppe vorletztes Jahr bereitete ihr das Gehen Mühe, aber noch weigerte sie sich, auf die Hilfe eines Stocks zurückzugreifen.

Siljas kühlblaue Augen ruhten auf Katya, die den Brotteig walkte. Astrid, die Jüngste von Magnus und Helga, krähte vergnügt in ihrem Hochstuhl und klapperte mit einem Löffel gegen das Holz. In Erwartung ihres Frühstücksbreis, der die Küche mit dem Duft von warmer Milch und gequollenem Getreide füllte.

Seit Katya in ihrem Trauerschwarz über die Schwelle getreten war, hatten sie und Silja fast nur über Alltägliches gesprochen. Selbst seit Langem Witwe, wusste Silja aus eigener Erfahrung, wie schal jedes noch so gut gemeinte und ehrlich empfundene Trostwort schmeckte. Mehr als jeder andere konnte sie nachfühlen, was Katya gerade am meisten brauchte. Eine Gleichmäßigkeit der Tage, die ihre wunde Seele weich bettete. Die Art von Arbeit, die ihre Hände beschäftigt hielt und den Verstand betäubte, indem sie gleich wieder von vorn begann, sobald sie vollendet schien.

Es schmerzte Silja, Katya so zu sehen. Thilo war ein guter Mann gewesen, die beiden einander aufrichtig zugetan, das war immer spürbar, wenn sie mit der kleinen Cathrin den späten Sommer hier verbrachten. Sicher hatte er seine Fehler gehabt, eines jener stillen Wasser mit verborgenen Unterströmungen und Strudeln. Aber es ging doch keine Seele auf Erden umher, die nicht wenigstens einen kleinen Fleck aufwies, heimliche Begierden und verstohlene Gedanken kannte.

Beide hätten sie es anders verdient gehabt, Katya ebenso wie Thilo, aber darum scherte der Tod sich nicht. Er kam, wann es ihm beliebte, wahllos und willkürlich und meist zu früh.

Verbissen bearbeitete Katya den Teig, als könnte sie damit dem Schicksal einen anderen Verlauf abringen. Siljas welke, aber noch immer kräftige Hand ergriff Katyas mehlbestäubte Finger.

»Das reicht«, beschloss Silja. »Du musst ihn gehen lassen.«

Stumm schüttelte Katya den Kopf. Eine Träne rollte ihre Wange hinab und salzte den Teigklumpen.

Mit sanfter Gewalt zog Silja sie an sich. Einige Herzschläge lang überließ sich Katya ihrer Schwäche, das Gesicht an Siljas Schulter vergraben. Dann drückte Silja ihr einen Kuss auf den Scheitel und schob sie zur Küche hinaus.

»Lass dir den Wind um die Nase wehen. Das hilft.«


Hinter dem Haus tollte Magnus mit Frida und Lasse durchs Gras. Ein wildes Spiel, in dem sich Magnus’ Lachen mit dem vergnügten Kreischen seiner beiden Großen mischte. In ein paar Tagen würde er wieder in See stechen, bis dahin gehörte jede freie Stunde seiner Familie.

Zwischen den hiesigen Nachfahren von Germanen, Wikingern und Nordnormannen nahmen sich Magnus’ dunkle Farben, seine kräftigen Züge fremdländisch aus. Das russische Erbe Grischas, das Magnus genauso stolz auf seinen breiten Schultern trug wie die isländische Herkunft Siljas in seinen hellen Fuchsaugen. Kein Ozean war ihm zu groß, zu wild gewesen; jetzt, mit knapp vierzig, genügten ihm die Meere und Wasserwege des Nordens. Tief verwurzelt, wie er in diesem Fjordland war, in Helga und den Kindern.

Katya schlug den Weg am Wasser entlang ein. Hier war es leichter, ohne Thilo zu sein. Trotzdem wachte sie auch hier mehrmals in der Nacht auf, in jeder Faser ein schmerzendes Sehnen nach Thilos schlafschweren Atemzügen. Nach seinem Geruch wie Heu und Stroh und wie sonnenbeschienener Fels. Danach, sich an seine vertraut starke Gestalt zu schmiegen, die das Alter aufgeweicht hatte, besonders um die Hüften herum, sein Haar zuletzt so weiß wie das Fell eines Polarfuchses.

Eine gute Ehe war es gewesen. Nicht immer einfach, aber sicher besser als die meisten anderen. Auch wenn es im Lauf der Jahre andere Männer gegeben hatte, für sie beide. Kleine Fluchten, aus denen sie treu zueinander zurückkehrten, ohne Bedauern, ohne Reue.

Jetzt jedoch schien das leise Glück jener dreißig Jahre wie geborgt. Ein Kredit des Lebens, unwissentlich überzogen. Eine Schuld, die nicht mehr zu tilgen war und Katyas Schritte beschwerte.

Nicht nur deshalb dauerte es länger, bis sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte und zwischen den umzäunten Viehweiden hindurch bergauf stapfte. Nach Hamburger Maßstäben war Tromsø noch immer eine kleine Stadt, und doch scharte die neu gebaute domkirke inzwischen weitaus mehr Dächer um sich als das Kirchlein, das früher dort gestanden hatte.

Mit großen Augen bestaunten die Bauern und Hirten, die es aus dem Landesinneren hierher verschlug, die raffinierte Küche der Stadt, die elegante Mode auf den Straßen, die reichen Auslagen der Läden und den Lichterglanz. Und wenn sie in ihre karge Heimat zurückkehrten, erzählten sie jedem, sie seien in Paris gewesen, dem Paris des Nordens.

Dabei spielte der Walfang, dem Tromsø seinen anfänglichen Wohlstand verdankt hatte, keine große Rolle mehr. Die Meere waren erschöpft, leer gefischt in der Gier nach Brennstoff und dem Fischbein, das die Korsetts und Krinolinen der Damen stützte. Jetzt waren die Reifen der ausladenden Röcke aus Federstahl, und die Zukunft gehörte dem Petroleum, das die Häuser heller und vor allem billiger erleuchtete als die Tranlampen zuvor.

Mit dem Pelz der Robben und den Stoßzähnen der Walrösser aus den Polarmeeren ließ sich jedoch weiter gutes Geld machen. Mehr noch mit den feinen Waren aus dem Süden, die in einer kleiner gewordenen Welt Sehnsüchte weckten und zugleicht stillten. Nicht zuletzt verdiente Tromsø an jenen unerschrockenen Männern, die von hier aus weiter und weiter in den Norden vorstießen, um die Grenzen der bekannten Welt auszuloten. Katya hätte sich gewünscht, dass Johann Silberberg das noch miterlebt hätte, vielleicht sogar einer von ihnen gewesen wäre.

Je weiter Katya den Hügel hinaufstieg, das Schultertuch fest um sich gewickelt, desto kräftiger zerrte der Wind an ihr und ließ die Tränen freier fließen.

Die Zeit war ein unerbittlicher Schnitter, aber bei keinem hatte sie grausamer zugeschlagen als bei Thilo. Niemand hatte einen solchen Tod weniger verdient als dieser sanftmütige Riese, dem andere immer mehr am Herzen lagen als sein eigenes Wohlergehen.

Mit akribischer Gründlichkeit hatte er dafür gesorgt, dass sein letzter Wille nicht das kleinste Schlupfloch aufwies. Hieb- und stichfest waren auch die Dokumente, in denen Katyas Rechte als Bürgerin wie Geschäftsfrau festgeschrieben standen. Keine Selbstverständlichkeit in einer Stadt wie Hamburg, so weit kannte sie sich aus. Nichts in seinen Papieren war in Unordnung gewesen, als er zum letzten Mal zur Tür hinausging, nichts unerledigt geblieben.

Vorausschauend und gewissenhaft war er immer gewesen, und doch schien es im Rückblick, als hätte er geahnt, dass er einen vorzeitigen Tod finden würde.

Atemlos gelangte Katya oben auf dem Hügel an, dem höchsten Punkt der Insel. Am Rand des Birkenwäldchens war der Boden morastig, mehrmals glitt Katya aus und kam ins Straucheln, alle paar Schritte blieb sie mit einer ihrer Schnürstiefeletten stecken.

Nach der Schneeschmelze waren die kleinen Weiher hier oben so ausgedehnt, dass sie fast ineinanderflossen. Noch in diesem Jahr würden sie alle zu einem einzigen See aufgestaut, hatte Silja erzählt, um den Wasserdurst der stetig wachsenden Stadt zu stillen.

Vierzig Jahre war es her, dass Katya hier auf einem zugefrorenen Weiher gestanden hatte. Kein Kind mehr, aber auch noch nicht ganz ein junges Mädchen, als sie Johann Silberberg anvertraute, dass sie das Schwingen des Eises unter ihren Stiefelsohlen fühlen konnte. Wie ein gesund schlagendes Herz, biegsam und gleichmäßig und stark. Mit seinem Wissen über das Eis hatte Johann Silberberg die Welt zu ihr gebracht. Über den Karten von Land und Meer, die er vor ihr ausbreitete, hatten Katyas gerade aufkeimende Träume klare Konturen bekommen, eine greifbare Form.

Tief sog Katya die torfsaure Luft ein, den harschen Hauch von frischem Schnee. Liegen bleiben würde er nicht mehr. War der Jahreslauf einmal so weit vorangeschritten, gab es kein Zurück in die traumverlorene Stille des Winters, noch nicht einmal so dicht am Polarkreis. Umso hartnäckiger schienen sich die letzten Schneereste in den Schrunden der Berghänge festzuklammern. Nicht mehr als ein kleiner Aufschub würde ihnen gewährt sein, bevor die kräftige Sonne des Frühlings auch sie auflöste.

Auf einer Welt, in der es dich nicht gibt, möchte auch ich nicht sein, hatte Thilo damals gesagt, als er die Brandwunden und Schrammen versorgte, die sie aus dem Feuer mitgebracht hatte, während hinter ihnen Hamburg noch immer lichterloh brannte.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, verstand sie ihn. Einer Welt überdrüssig, die im Lauf eines Menschenlebens so viel an Segen schenkte und im Gegenzug so vieles wieder nahm.

Katyas Blick wanderte nach Norden. Einst das Ziel all ihrer Sehnsüchte, wusste sie jetzt, dass sie den nördlichsten Norden nie erreichen würde. Vielleicht würde es niemandem sonst gelingen, nicht zu ihren Lebzeiten. Je mehr man über den Nordpol mutmaßte, forschte und verstand, umso mehr entzog er sich des Menschen Verstand und Willen. Ein mythischer Ort, der nur noch größere Begehrlichkeiten weckte.

Und doch gab es ihn. Eine Eiskruste, die die Welt im Gleichgewicht hielt. Die Achse, um die sich der Erdball drehte. Der Fixpunkt, nach dem sich alles irdische Maß ausrichtete.

Nirgendwo auf Erden konnte man der Ewigkeit so nahe sein. Vielleicht war es das, was sie alle wie magnetisch dort hinzog. Das Wissen, dass der Nordpol ein Ort jenseits der Zeit war.

Deshalb war Katya nach Tromsø gekommen. Um die Zeit, die noch blieb, mit Silja zu verbringen, die zunehmend fragil wurde; selbst ihr Geruch nach Sahne und Wacholder war gealtert, harzig geradezu.

Unaufhaltsam rann ihnen das Leben durch die Finger wie Schmelzwasser, umso schneller, je älter sie wurden. Am Ende waren sie alle nicht mehr als Schneeflocken, die der Wind verwehte und die mit der Zeit einfach vergingen.

Katya verkroch sich tiefer in ihr Schultertuch und richtete sich nach Süden aus. Gen Hamburg, weit, weit hinter den schroffen Berghängen, verschwiegenen Fjorden und der rauen See.

Sie fragte sich, ob Grischa es genauso empfand. Ob er, der große Träumer, der Glücksjäger und Abenteurer, der immer wusste, woher der Wind wehte, noch die Kraft hatte, von einem neuen Morgen zu träumen.

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