Kapitel 10

Der Abend wird mir ewig als ein Alptraum im Gedächtnis bleiben. Victor war in der Erwartung heimgekehrt, Jennifer ungebunden vorzufinden, und hatte die Träume mitgebracht, die er um seine Liebe zu ihr gesponnen hatte. Nachdem er von ihrer Heirat mit John erfahren hatte, war es ihm nicht möglich, auch nur eine Nacht in dem Haus zu verbringen, in das er sie als seine Frau zu holen gehofft hatte. Er erklärte darum seinen Geschwistern, er hätte ein Zimmer im Gasthaus Horse's Head gemietet. John, Harriet und Jennifer, die von der brennenden Scham über seine Torheit, von seiner Enttäuschung und seiner Bitterkeit nichts ahnten, glaubten ihm, als er sagte, er müsse gehen und dafür sorgen, daß sein Gepäck vom Bahnhof zum Gasthaus gebracht werde. Sie baten ihn alle drei, damit bis nach dem Abendessen zu warten, doch Victor ließ sich nicht erweichen. Er wolle das letzte Tageslicht nutzen, erklärte er, und die Tatsache, daß es im Moment gerade nicht so stark regne.

Ich allein wußte, daß Victor, der energischen Schritts in den Flur hinausging und sich seinen Umhang über die Schultern warf, in den strömenden Regen hinaus mußte, um sich eine Unterkunft zu besorgen, daß er keine Bleibe hatte, daß kein warmes Zimmer mit einem freundlichen Feuer am Ende eines kurzen Wegs auf ihn wartete. Ich allein wußte, warum er gerade jetzt in den peitschenden Regen hinausstürmen und sich den tobenden Elementen preisgeben mußte. Er war zu zornig und zu aufgewühlt, um noch eine Minute länger in diesem kleinen Zimmer zu sitzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

John erbot sich, ihm einen Wagen zu rufen, aber Victor lehnte ab. Harriet ermahnte ihn, rechtzeitig zum Abendessen zurückzukommen. Jennifer tat gar nichts, stand nur stumm, wie benommen am Kamin, während Victor seinen Hut aufsetzte und zur Haustür ging. Die Hand schon auf dem Knauf, warf er einen letzten Blick zurück, bei dem mir eiskalt wurde. Er war wie eine finstere Vorahnung dessen, was kommen würde.

Im Lauf von vier Jahren hatte Victor Townsend Pessimismus und Mißtrauen gelernt. Seine Erfahrungen hatten ihn zu einem Mann geformt, dem es längst nicht mehr einfiel, den

Silberstreif am Horizont zu suchen, und an diesem Abend hatte er den letzten Schlag empfangen. Um einer Frau willen, die er kaum kannte, hatte er in blinder Leidenschaft alles aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war. Und nun stand er mit leeren Händen da. Nichts war ihm geblieben als bitterer Selbstvorwurf.

Nachdem Victor gegangen war, verließen mich auch die anderen, und ich war wieder allein in dem kalten, dunklen Haus. Tausend Gedanken bestürmten mich, während ich über das tragische Schicksal meines Urgroßvaters nachdachte. Am meisten jedoch beschäftigte mich die Frage, wie es kam, daß Victor eine so starke Wirkung auf mich ausübte und daß ich innerlich so verbunden mit ihm war.

Während ich Victor nach seinem Eintritt ins Zimmer betrachtet, ihn mit den Augen verzehrt hatte wie er Jennifer, hatte ich gespürt, wie in mir sich etwas regte, und ich meine das nicht im übertragenen Sinn. Ich spürte tatsächlich eine Bewegung in meinem Körper, tief unten in der reichen, geheimen Gegend, in der, nehme ich an, wahre Leidenschaft geboren wird. Dort und nicht in meinem Herzen wurde ich zuerst von diesem rätselhaften, unerreichbaren Mann ergriffen; dort erwachte zum erstenmal etwas, das wohl immer schon dort geschlummert hatte, dessen Existenz ich nur bisher nicht wahrgenommen hatte. Erst nachdem dieser Urfunke entzündet worden war, sprach auch mein Herz wie in zärtlicher, gefühlvoller Antwort.

Ich hatte dort gestanden und Victor angesehen, der mir so nahe gewesen war, daß ich nur die Hand hätte zu heben brauchen, um ihn zu berühren, und hatte begonnen, ihn zu lieben. Es war ein Phänomen, das ich nicht begreifen konnte. Ich mochte fragen und forschen soviel ich wollte, ich kam der Erklärung nicht näher. Wie konnte ich körperliche, sinnliche Liebe zu einem Mann empfinden, der nahezu hundert Jahre tot war? Kam es daher, daß er für mich in jenen Momenten, da das Zeitfenster sich auftat, ein lebender, atmender Mensch war, so real wie Edouard oder William?

Wieso war ich so tief ergriffen von ihm und fühlte mich mit solcher Macht zu ihm hingezogen? Lag es daran, daß ich auf eine nicht zu erklärende Weise gezwungen wurde, alles zu fühlen, was er fühlte, seine geheimsten Freuden und Leiden mit ihm zu teilen? Es konnte keine Antworten geben, denn diese Fragen selbst entsprangen ja einer Situation, die außerhalb der Bereiche von Logik und Verstand lagen. So wenig sich diese Blicke in die Vergangenheit mit den Mitteln menschlicher Vernunft erklären ließen, so wenig erklärbar war meine gefühlsmäßige Verschmelzung mit Victor. Ich hatte die Ausflüge in die Vergangenheit akzeptiert und eingesehen, daß ich sie weder verstehen noch verhindern konnte. Ebenso würde ich jetzt diese Liebe akzeptieren müssen. Aber das fiel mir schwer. Diese starke Gemütsbewegung machte mir angst. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich je Ähnliches empfunden hatte, und fand nichts.

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in dieser kalten, stillen Stunde kurz vor Morgengrauen der erschreckenden Wahrheit ins Gesicht: Ich hatte nie geliebt. Nicht einmal Doug hatte ich geliebt.

Ich lag im dunklen Wohnzimmer im Haus meiner Großmutter, allein mit mir selbst und der Erinnerung an das, was sich hier vor fast einem Jahrhundert zugetragen hatte, und blickte zum ersten Mal in mich hinein. Einfach war es nicht, da ich den Blick nach innen bisher stets mit Erfolg vermieden hatte. Ich hatte mich in einem Leben bequemer Freundschaften, seichter Zerstreuungen und oberflächlicher Gefühle eingerichtet. Ich hatte viele Freunde und Liebhaber gehabt, aber nur einer dieser Männer hatte einen Eindruck hinterlassen — Doug, dem ich so unrecht getan hatte. Die anderen verschmolzen in meiner Erinnerung zu einer grauen gesichtslosen Masse. Immer war ich vor den tiefen Gefühlen davongelaufen und hatte die Verantwortung einer verbindlichen Beziehung gescheut, und jetzt sah ich mich mit Ereignissen und Gefühlen konfrontiert, über die ich keine Kontrolle hatte. Das war das Schlüsselwort! Kontrolle. In der Vergangenheit hatte ich stets alles unter Kontrolle gehabt. Ich hatte die Regeln aufgestellt, nach denen gespielt wurde. Sie dienten der

Abwehr und dem Schutz vor Schmerz und Verletzung. Aber sie hatten auch keine himmelhochjauchzende Freude oder Begeisterung zugelassen. In dem Bemühen, mir Schmerz zu ersparen, hatte ich mich auch der Freuden beraubt. Aber ich hatte diesen Preis angemessen gefunden.

Diesmal jedoch war ich nicht in Kontrolle. Ich war dem Taumel meiner Gefühle ausgesetzt, ohne etwas dagegen tun zu können. Wie glatt und ruhig mein Leben gewesen war, wie vorhersehbar und leicht zu überblicken. Und wie leer!

Ich fing wieder an zu weinen. Ich weinte um Victor und ich weinte um mich selbst und das, was ich versäumt hatte. Ein Leben auf Sparflamme. Ungefährlich und unendlich langweilig. Welch eine Ironie, dachte ich unter Tränen, daß es Toter bedurft hatte, mich zum Leben zu erwecken. Was ist denn ein Mensch ohne Gefühle? Was bleibt denn nach Abzug von Liebe und Haß und Eifersucht und dem ganzen Reichtum der Emotionen, die die Lebendigkeit eines Menschen ausmachen? Eine leere Hülle. Und genau das war ich gewesen, als ich zum ersten Mal das Haus meiner Großmutter betreten hatte — eine leere Hülle. Ich hatte einzig für mich gelebt, in einer so eng abgesteckten Welt, daß für andere kaum Raum darin gewesen war. Selbst jene Freundschaften, die ich gepflegt und so hoch geschätzt hatte, hatten mir nichts abverlangt.

Während draußen ein grauer Tag heraufdämmerte, wandten meine Gedanken sich meinem Bruder Richard zu, der, in der Kindheit mein engster Freund und Vertrauter, mir heute ein Fremder war. Ich hatte zugelassen, daß Zeit und räumliche Entfernung eine tiefe Kluft zwischen uns aufgerissen hatten. Hin und wieder ein flüchtiger Gedanke, zu Weihnachten eine Karte, einmal im Jahr vielleicht ein Brief — das war alles, was von der innigen Beziehung zwischen meinem Bruder und mir geblieben war. Wie anders waren wir als Victor und Harriet!

Ich sah Harriet vor mir, wie sie über Victors Umzug nach London geweint, mit welchem Jubel sie seine Rückkehr begrüßt hatte, und Erinnerungen überfluteten mich plötzlich, als wäre ein Damm gebrochen. Richard und ich als Kinder: Stets hatte er mich beschützt und verteidigt, mich Neues gelehrt, mich stundenlang mit abenteuerlichen und geheimnisvollen Geschichten unterhalten. Ich lag da und ließ mich von den lange verschütteten Erinnerungen, die Wehmut und Bedauern mitbrachten, in die Welt meiner Kindheit zurücktragen.

Der Weihnachtsmorgen, wenn wir unsere Geschenke geöffnet hatten. Richard, der Unerschrockene, der eine Spinne tötete, die sich in mein Bett verirrt hatte; der mir bei meinen Hausaufgaben half; der sein letzten Stück Schokolade mit mir teilte. Er war mein Held gewesen. Ich war so stolz auf ihn gewesen wie Harriet auf ihren Bruder Victor. Und was war davon geblieben? Wieso hatte ich diese alltäglichen kleinen Begebenheiten vergessen, an die ich mich nun plötzlich mit soviel Liebe und Wehmut erinnerte?

Es verlangte mich danach, mit ihm zu sprechen so wie damals, als ich im vorletzten Jahr der Highschool gewesen war und Richard zur Luftwaffe eingezogen worden war. Wir hatten den ganzen Abend in meinem Zimmer auf meinem Bett gesessen und geredet. Richard hatte mir erklärt, daß er fort müsse und ich von nun an ohne ihn zurechtkommen müsse. Er hatte damals sehr erwachsen auf mich gewirkt. Er hatte versucht, mir eine Vorstellung davon zu geben, was mich in der Zukunft erwartete, und mich vor den Stolpersteinen gewarnt. Er hatte Worte gebraucht, die mir fremd waren, Bilder gezeichnet, die ich nicht recht verstand. Später, als ich erwachsen geworden und Richard nach Australien gegangen war, hatte ich erkannt, daß er mir in allem die Wahrheit gesagt hatte und seine Ratschläge und Hinweise wohlüberlegt gewesen waren.

Mir wurde klar, daß Richard mich niemals verlassen hatte, sondern immer an meiner Seite gestanden hatte, selbst in jenen Zeiten, als ich mich völlig alleingelassen gefühlt hatte. Seine Liebe hatte mich immer begleitet, geradeso wie die Worte, die er mir mitgegeben hatte. Ich jedoch hatte ihm die Schuld an meiner Einsamkeit gegeben, hatte es ihm übelgenommen, daß er fortgegangen war, und hatte mich innerlich von ihm distanziert. Ich hatte es ihm zum Vorwurf gemacht, daß er nicht bei mir geblieben war und mein Leben für mich gelebt hatte. Wie unfair!

Ich ließ es mir von Großmutter nicht ausreden, mit Elsie und Ed ins Krankenhaus zu fahren. Ich spürte, daß das Haus mich nicht zurückhalten würde. Ich wollte meinen Großvater unbedingt sehen und versuchen, eine Möglichkeit zu finden, ihm mitzuteilen, was ich über seinen Vater wußte. Ich konnte meinen Großvater nicht sterben lassen, ohne ihn darüber aufzuklären, daß er seinen Vater völlig falsch gesehen hatte, sein Leben lang einer schrecklichen Lüge aufgesessen war. Er mußte wissen, daß Victor Townsend ein nobler und charaktervoller Mann gewesen war, der unsere Liebe verdiente.

So sah ich es am Nachmittag meines siebten Tages im Haus meiner Großmutter, als ich noch unter der Wirkung des letzten >Besuchs< stand. Später erst wurde ich Zeugin von Ereignissen, die die Schauergeschichten, mit denen mein Großvater gelebt hatte, zu bestätigen schienen, mein Vertrauen erschütterten und quälende Zweifel in mir weckten. Ich sollte bald erfahren, daß der Victor Townsend, den ich bisher kennengelernt hatte, nicht derselbe Mann war, dem ich später begegnete. Bald sollte sich alles verändern.

Bald sollte das Grauen, das in dem Haus in der George Street wohnte, sich zeigen.

Mein Großvater schlief während unseres ganzen Besuchs. Während Elsie und Ed wie immer auf ihn einredeten und so taten, als könne er sie hören und jeden Moment reagieren, überlegte ich, wie ich mich ihm mitteilen sollte. Vielleicht war es ja doch so, daß er hörte und verstand. Zumindest konnte ich versuchen, mit ihm zu sprechen. Aber nicht im Beisein von Elsie und Ed. Was ich meinem Großvater zu sagen hatte, mußte ich ihm allein sagen. Die Frage war nur, wie ich meine Verwandten loswerden sollte. Durchsichtig und ausgezehrt lag er in den Kissen, Victors Sohn, der sich sein Leben lang seines Vaters geschämt, ihn gehaßt und sein Erbe gefürchtet hatte. Das mußte ich ändern.

Aber es ergab sich keine Gelegenheit. Als die Besuchszeit um war, klappte Ed die Stühle wieder zusammen und stellte sie zu dem Stapel in der Ecke, während Elsie schon an der Tür stand und sich mit einer Schwester unterhielt. Ich blickte auf meinen Großvater hinunter und überlegte verzweifelt, wie ich einen Moment des Alleinseins mit ihm herbeiführen könnte.

Als wir ein paar Minuten später durch den langen Korridor gingen, blieb ich plötzlich stehen.»Ich habe meine Handschuhe liegenlassen«, rief ich.»Ich lauf nur schnell zurück und hol sie. «Und schon machte ich kehrt.

«Ed kann sie dir doch holen, Kind. Komm, wir setzen uns schon in den Wagen.«

«Ach wo! Geht ihr nur voraus und heizt das Auto für mich an. «Ich rannte los, ehe sie weiteren Protest erheben konnte. Im Saal zurück, ging ich zuerst zum Fenster. Elsie stieg gerade in den Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Ich kehrte zum Bett meines Großvaters zurück. Es war ungewöhnlich ruhig im Saal. Die meisten Besucher waren gegangen, Schwestern und Pfleger gönnten sich eine Pause, ehe sie mit der Essensverteilung begannen.

Ich setzte mich auf die Bettkante und suchte nach den richtigen Worten. Unsicher neigte ich mich zu meinem Großvater hinunter und flüsterte, den Mund dicht an seinem Ohr:»Großvater, ich bin's, Andrea. Kannst du mich hören? Ich bin extra aus Los Angeles zu dir gekommen. Großvater, kannst du mich hören?«

Ich blickte auf seine Brust. Der Rhythmus seines Atems änderte sich nicht. In seinem Gesicht regte sich nichts, die Lider lagen wie leblos über seinen Augen. Dennoch fuhr ich zu sprechen fort.

«Großvater, du hast dich in deinem Vater getäuscht. Er war nicht der schlechte Mensch, für den du ihn dein Leben lang gehalten hast. Das waren Lügen. Victor Townsend war ein guter Mensch. Großvater…«

Ich konnte nicht weitersprechen. Hastig sah ich mich im Saal um und ging nochmals zum Fenster. Elsie stieg gerade aus dem Wagen.

Ich lief zu meinem Großvater zurück.»Großvater, hoffentlich kannst du mich hören. Ich sage dir die Wahrheit. Ich weiß die Wahrheit über deinen Vater. Er war kein Mensch, dessen man sich schämen muß. Bitte, Großvater, hör mich! Victor Townsend war ein guter, liebevoller Mensch, der anderen helfen wollte. Großvater — «

Als ich draußen im Korridor die kräftige Stimme meiner Tante hörte, rutschte ich hastig vom Bett auf den Boden und tat so, als suchte ich eifrig meine Handschuhe.»Andrea«, sagte Elsie und kam um das Bett herum.»Ach, hier sind sie endlich!«rief ich und hielt die Handschuhe hoch, die ich aus meiner Tasche genommen hatte.»Sie sind mir wahrscheinlich vom Schoß gerutscht und unters Bett gefallen. Na, wenigstens sind sie wieder da.«

«Vielleicht sollte ich sie dir an eine lange Schnur nähen, die du um den Hals tragen kannst. Dann verlierst du sie nicht so leicht.«

Lachend hakte ich mich bei ihr ein.»Wenn mein Kopf nicht festgewachsen wäre…«, sagte ich, und wir gingen hinaus. Ich wollte noch einen letzten Blick auf meinen Großvater werfen, aber die zufallende Tür versperrte mir die Sicht.

«Was macht dein Bauch heute?«fragte Großmutter, als wir später beim Abendessen saßen.

Es gab dicke Schinkenbrötchen und warme Milch, und wir sahen beide in den Garten hinaus, wo die ersten Regentropfen fielen. Ich fieberte schon meiner nächsten Begegnung mit den Townsends entgegen und hatte Mühe, mich auf ein Gespräch mit Großmutter zu konzentrieren. Mein Verlangen, in die Vergangenheit zu schauen und am Leben der Townsends teilzuhaben, wurde immer stärker, während die reale Welt zunehmend an Wichtigkeit verlor. Ich wollte John und Harriet, Victor und Jennifer sehen. Selbst wenn ich niemals zu ihnen gehören konnte, selbst wenn ich immer an der Peripherie ihrer Welt bleiben mußte — das war es, was ich wollte, nicht das reale Leben. Meine lebenden Verwandten waren mir nur ein Hemmnis. Solange sie da waren, erschienen die Toten nicht. Erst wenn Großmutter zu Bett ging oder in ihrem Sessel einnickte, würde ich die Townsends wiedersehen, und ich wünschte, ich könnte mich irgendwie von Großmutters lästiger Anwesenheit befreien.

«Was macht dein Bauch?«fragte Großmutter wieder.»Hm?«Ich trank den letzten Schluck Milch und wandte den Blick vom Fenster.»Oh, alles in Ordnung, Großmutter.«

«Möchtest du noch einen Löffel von der Medizin?«

«Nein! Oh — nein, danke. Sie hat schon gewirkt. «Medizin — Medizin — dieses klebrige weiße Zeug. Wann hatte ich es genommen? War das erst gestern abend gewesen? Waren erst vierundzwanzig Stunden vergangen, seit ich mich aus einer leeren Hülle in ein lebendiges Wesen verwandelt hatte? Eine Frau, die fühlte und liebte. Ja, ich liebte Victor Townsend. Und ich begehrte ihn.

Dieser Gedanke, der mich ganz plötzlich ansprang, erstaunte mich. Aber ja, es war wahr. Ich liebte diesen Mann nicht nur, ich begehrte ihn auch. Ich brauchte nur an ihn zu denken, seine Nähe, sein Gesicht, seinen Körper, und ich hatte das Gefühl, dahinzuschmelzen. Aber ich würde ihn niemals berühren können. Obwohl er mir in Fleisch und Blut erschien, konnte ich ihn so, wie ich ihn kennen wollte, nur in Träumen und Phantasien kennen.

Ich ertappte mich bei der Vorstellung, wie es wäre, von ihm geküßt zu werden…

Einen Moment stockte mir der Atem. Ich setzte die Teetasse, die ich eben zum Mund führen wollte, wieder ab und starrte meine Großmutter an, als wäre sie es, die diese Vorstellung geäußert hätte.

Ich liebte meinen eigenen Urgroßvater! Verrückt! Er war seit mindestens achtzig Jahren tot. Er existierte nicht. Der Mann, den ich sah, wenn ich Victor Townsend anzusehen glaubte, war ein Trugbild, hervorgerufen durch einen unerklärlichen Zusammenprall der Zeiten. Im Grund liebte ich eine Fotografie oder einen Mann, den meine Phantasie mir vorgaukelte. Und an Phantasien fehlte es mir nicht. Den ganzen Tag hatte ich an Victor gedacht. Vielerlei Gedanken hatte ich mir über ihn gemacht, aber am brennendsten beschäftigte mich immer wieder die Frage, wie es sein mußte, von einem so feurigen Mann geliebt zu werden.

Ich führte die Tasse zum Mund und trank den süßen Tee. Warum nur gab Großmutter immer soviel Zucker in den Tee? Er verdarb das ganze Aroma.

Ich konnte der Wahrheit nicht ausweichen. Ich liebte meinen eigenen Urgroßvater. Und es war eine Liebe, die nie Erfüllung finden würde. Ich konnte nicht hoffen, daß er mich je sehen oder berühren würde. Der Victor Townswend, den ich sah, und der, welcher mich in meiner Phantasie in den Armen hielt, hatten nur eines gemeinsam: Sie waren beide tot.

«Sind deine Beine jetzt ein bißchen besser? Soll ich sie dir noch mal einreihen? Mit Creme.«

Ich starrte meine Großmutter an. Sie hatte keine Ahnung, was mich so intensiv beschäftigte, warum ich den ganzen Tag so schweigsam gewesen war. Am liebsten hätte ich ihr in diesem Moment alles erzählt; was ich meinem Großvater gesagt hatte, daß Victor Townsend ein guter Mensch gewesen war, daß ich ihn gesehen hatte, daß er in irgendeiner Form noch immer unter diesem Dach existierte. Aber ich konnte es nicht. Großmutter hätte mich nicht verstanden. Und vielleicht hätte ich Victor auf immer verloren, wenn ich ihr von ihm gesprochen hätte. Daran wollte ich am liebsten gar nicht denken. An das Ende. Das letzte Kapitel der Geschichte. Ich wünschte mir, die Begegnungen mit Victor würden ewig weitergehen, geradeso wie er und Jennifer nun ewig lebten und fort und fort jene Abende des Jahres 1890 erlebten. Niemals wollte ich dieses Haus verlassen, niemals nach Los Angeles zurückkehren, weil ich dann den Schatz verlieren würde, den ich hier gefunden hatte.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich lebendig.»Sie tun noch ziemlich weh, Großmutter.«

«Dann komm, Kind, ich creme sie dir ein.«

Wir gingen zu unseren Sesseln vor dem Kamin, und ich wünschte, ich könnte das Gasfeuer herunterdrehen. Aus irgendeinem Grund wurde mein Körper immer empfindlicher gegen Wärme und schien der Kälte zu bedürfen, die mich anfangs so abgeschreckt hatte. Als Großmutter am Morgen ins Zimmer gekommen war und mich angekleidet auf dem Sofa hatte liegen sehen, hatte sie ärgerlich gerufen:»Das Gas ist ja schon wieder aus! Es ist eiskalt hier. Andrea, frierst du denn nicht?«

Ich hatte tatsächlich nicht gefroren, obwohl ich nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet gewesen und die Temperatur im Haus nicht über zehn Grad gewesen war. Später, als sie den Gasofen voll aufgedreht hatte, war ich vor Hitze fast umgekommen. Während ich jetzt vor den niedrigen Flammen saß und mit hochgeschobenen Hosenbeinen darauf wartete, von Großmutter eingesalbt zu werden, fühlte ich mich wie erstickt von der Wärme und wünschte nur, ich könnte den verflixten Heizofen ausmachen. Während Großmutter vorsichtig und behutsam die Creme auf meine roten Beine auftrug, sah ich zum Fenster hinaus. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein Gewitter war aufgezogen. Regen prasselte an die Fenster, Blitze erhellten flüchtig die Finsternis mit geisterhaftem Licht, Donnerschläge krachten wie Böllerschüsse.

Ich genoß die Stimmung und starrte fasziniert zum Fenster hinaus. Als meine Großmutter eine Weile später erklärte, sie wolle hinaufgehen und sich hinlegen, weil ihr die Arthritis bei diesem feuchten Wetter so sehr zu schaffen mache, konnte ich kaum meine Erleichterung und freudige Erregung verbergen. Bald würde ich Victor wiedersehen.

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