Ich ertastete die Tür zum Salon und blieb stehen. Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich, daß die Wohnzimmertür nur noch einen Spalt offenstand — hatte ich sie nicht ganz offen gelassen? — und wie durch eine optische Täuschung weit entfernt schien. Eine ungewöhnliche Trockenheit lag mir in Mund und Kehle, und mein Rücken war schweißnaß.
Ich legte die Hand auf den eiskalten Türknauf. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und die Angst lahmte mich fast, aber ich konnte nicht zurück. Ich mußte das Album finden.
Ich kann mich nicht erinnern, den Knopf gedreht, die Tür aufgestoßen zu haben, doch im nächsten Moment stand sie offen. Vor mir sah ich nichts als undurchdringliches Dunkel. Es roch nach Staub und Verfall. Die Luft war muffig wie in einem feuchten Keller oder in einer Gruft, in der es nur Tod und ewiges Vergessen gab.
Ehe ich eintrat, warf ich noch einmal einen Blick zurück zum Wohnzimmer. Die Tür war jetzt ganz geschlossen. Kein Lichtschimmer drang nach außen. Das hätte mich eigentlich erschrecken müssen, denn ich hatte die Tür ja weit offen gelassen, aber ich hatte jetzt für nichts anderes mehr Sinn als das Album. Und mein Körper schien allen eigenen Willens beraubt. Dieselbe unsichtbare Macht, die mich trieb, das Album zu suchen, zog mich jetzt in den alten Salon.
Als ich plötzlich das Klappern meiner aufeinanderschlagenden Zähne hörte, erschrak ich. Aber dann erkannte ich den Ursprung des Geräuschs und tappte vorwärts, anstatt zurückzuweichen. Der Raum, in dem ich mich befand, hatte keine Ecken, keine Wände, keine Grenze. Er dehnte sich ins Unendliche, in die ewigen Regionen von Nacht und Nichts und Hoffnungslosigkeit. Was auch immer hier hauste, es war unglücklich.
Ohne zu überlegen, hob ich den Arm und streifte den Lichtschalter. Es kam mir vor wie ein Wunder, daß die Glühbirne an der Decke aufflammte. Ihr Licht zeigte mir einen seit vielen Jahren unbewohnten und vernachlässigten Raum. Weiße Laken lagen staubbedeckt über schweren Möbelstücken, von denen nur die Füße zu sehen waren. Der kahle Holzfußboden war zerkratzt, der Kamin mit Brettern vernagelt, die Vorhänge am Fenster waren brüchig. Zu meiner Linken stand unter dicken Staubschichten ein altmodisches Rollpult.
Ich näherte mich ihm vorsichtig, voller Sorge, daß meine Anwesenheit das Gleichgewicht des Raums stören könnte. Ich hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl das Fenster verhüllt war und keine Bilder an den Wänden hingen. Hirngespinste, sagte ich mir wieder einmal, umfaßte entschlossen die Kante des Rolldeckels und versuchte, ihn hochzuschieben. Es gelang mir nur mit großer Anstrengung und selbst dann nur teilweise. Der verborgene Mechanismus des Rolldeckels klapperte und ratterte laut, seine staubverklebten Leisten knarrten und quietschten unter meinen Händen. Auf halbem Weg klemmte er und war keinen Zentimeter weiter zu bewegen. Ich neigte mich hinunter, um unter den herabhängenden Deckel zu spähen, und sah einen Schreibtisch voll alter Papiere, Hefte, Kästchen und anderem Kram. Die kleinen Fächer waren fast alle leer, nur in einigen steckten gelbe Briefumschläge. Ein Fotoalbum sah ich nicht.
Aber es waren ja auch noch Schubladen da. Eine, die die ganze Breite des Pults einnahm, und drei schmalere auf der einen Seite des Möbels. Die erste reagierte überhaupt nicht, als ich zog. Die zweite öffnete sich problemlos, aber sie war leer. Die dritte war voll alten Geschenkpapiers und bunter Bänder. Doch in der letzten Schublade lag endlich das Album.
Als ich aus dem Salon trat, sah ich die Wohnzimmertür wieder weit offen, aber ich war zu aufgeregt über meinen Fund, um dieser erstaunlichen Tatsache mehr als einen flüchtigen Gedanken zu schenken. Wieder einmal hatte mir die Phantasie einen Streich gespielt, und zweifellos war auch das Bedrohliche, das ich im Salon zu spüren geglaubt hatte, nichts weiter als Einbildung gewesen. Ich schaltete das Licht im Salon aus und eilte ins Wohnzimmer. Erst als ich die Tür fest hinter mir geschlossen hatte, wurde mir bewußt, wie besessen ich von dem Verlangen gewesen war, dieses Album zu finden, das ich jetzt an die Brust gedrückt hielt. Ich fühlte mich plötzlich völlig erschöpft. In diesem Buch war die Geschichte der Townsends niedergelegt. In diesem Buch würde ich meine Antwort finden.
Nachdem ich es mir im Sessel am Feuer bequem gemacht und meine Beine auf dem Sitzpolster ausgestreckt hatte, schlug ich langsam, als handle es sich um ein feierliches Ritual, das Buch auf. Moder und Feuchtigkeit hatten die ersten Seiten untrennbar miteinander verklebt und Papier und Fotografien in eine säuerlich riechende Masse verwandelt. Die Seiten zerbröckelten mir unter der Hand. Ich war enttäuscht und bestürzt. Wie viele der Bilder mochten zerstört sein, wieviel von der Geschichte der Townsends unwiederbringlich verloren sein? Sehr vorsichtig blätterte ich weiter und stellte zu meiner Freude fest, daß das Album ansonsten recht gut erhalten war. Verblichene, von Knicken durchzogene ovale Porträts zeigten mir die Gesichter noch älterer Townsends: Frauen in Krinolinen und mit Biedermeierfrisuren; Männer in steifen Stehkragen, das Haar nach romantischer Art schwungvoll in die Stirn gebürstet. Ich war jetzt noch tiefer in der Vergangenheit, blickte hier vielleicht in die Gesichter von Victors Großeltern, Fremden, in deren Zügen nichts Vertrautes zu erkennen war. Ich starrte in diese ausdruckslosen Gesichter, in diese hohlen Augen und versuchte, hinter die Fassade zu blicken, um vielleicht etwas von der Persönlichkeit dieser Menschen zu spüren, die ja auch zu meinen Vorfahren zählten. Und dann sah ich es. So vertieft war ich in die Betrachtung der Bilder meiner fernen
Vorfahren gewesen, daß ich einen Moment lang mein Ziel ganz aus den Augen verloren hatte. Als ich auf das Bild stieß, versetzte mir das einen solchen Schock, daß ich einen Moment lang zu atmen vergaß.
Da waren sie. Mr. und Mrs. Townsend hinten mit dem Plakat von >Wylde's Großem Globus< über den Köpfen, John und Harriet vorn. Da war das voluminöse Kleid der Mutter, der elegante Schnauzbart des Vaters; Johns sanftes Gesicht mit der Andeutung eines Lächelns; Harri et mit einer widerspenstig herabhängenden Locke über dem Ohr.
Unter dem Foto stand in klaren Schriftzügen, die wie gestochen wirkten, Juli iSycx.
Wie war das möglich?
Achtlos ließ ich das Album von meinem Schoß auf den Boden gleiten. Hinter meinen Augen begann es zu pochen, und das Pochen wurde zu einem dumpf klopfenden Schmerz ähnlich dem, mit dem ich am Morgen erwacht war. Doch schlimmer als die Kopfschmerzen war für mich die Vergeblichkeit meiner Fragen. Wie war das möglich?
Ich hatte keine Erklärung, ich wußte nur, daß es in der Tat möglich war. Die Fotografie in diesem Album war genau die, welche ich Mr. Cameron vor nur einer Stunde hatte aufnehmen sehen. Da war Harriet mit ihrer widerspenstigen Locke und dem dunklen, weiten Rock, in dessen linker Tasche ein geheimer Brief versteckt war.
Das Foto war Zeugnis eines kurzen Augenblicks im Leben dieser längst verstorbenen Menschen; Abbildung einer Szene, die tief in der Vergangenheit lag. Und doch hatte ich diesen Moment miterlebt, diese flüchtige Szene so beobachtet, wie sie wirklich gewesen war — real, lebendig, bestimmt von Menschen aus Fleisch und Blut.
Ich hatte den beißenden Geruch des verbrannten Magnesiums wahrgenommen!
Dafür mußte es doch einen Grund geben. Die Townsends folgten dem Lauf der Zeit auf dem Weg zu ihrem unausweichlichen Schicksal, wie uns das allen aufgegeben ist, und aus irgendeinem Grund mußte ich ihnen dabei zusehen. Würden sich denn die Szenen, die sich vor meinen Augen entfalteten, letztendlich zu einer Geschichte gestalten?
Wenn dem so war, würde ich dann gezwungen sein, die schrecklichen Geschehnisse mitzuerleben, die sich bald in diesem Haus ereignen sollten — diese unsäglichen Scheußlichkeiten, die den Townsends ihr Haus in der George Street zur Hölle gemacht hatten?
Mit jeder unlösbaren Frage wurden meine Kopfschmerzen stärker. Ich massierte mir die Schläfen, aber ich konnte nicht zur Ruhe kommen.
Was für eine Lösung gab es für mich? Wenn es keine Antworten gab, keine Gründe dafür, warum oder wozu mir das widerfuhr, wäre es dann nicht die einfachste Lösung, das Haus meiner Großmutter zu verlassen und nicht wieder zurückzukommen? Tief im Innersten wußte ich die Antwort. Erst an diesem Nachmittag, als ich aus dem Haus gegangen war, um einen Spaziergang zu machen, hatte ich sein Widerstreben gespürt, mich gehen zu lassen. Ich hatte es als Einbildung von mir abgetan. Aber jetzt wußte ich die Wahrheit. Ich konnte das Haus in der George Street nicht verlassen. Es würde mich nicht gehen lassen.
Ich spürte Großmutters Hand auf meiner Schulter und starrte sie verwirrt an. Ich hatte keine Ahnung, wann sie ins Zimmer gekommen war, verstand nicht, wieso ich sie nicht gehört hatte.»Es ist bald Mittag«, sagte sie mit Besorgnis in der Stimme.»Ich war den ganzen Morgen sehr leise, um dich nicht zu wecken, aber du hast plötzlich angefangen zu stöhnen. Du siehst gar nicht gut aus, Kind. Andrea, kannst du mich hören?«Ich drehte den Kopf hin und her, verzog das Gesicht vor Schmerzen und nahm wie durch Dunstschleier wahr, daß ich im Nachthemd war und unter den Decken auf dem Sofa lag. Es war unerträglich heiß im Zimmer.
«Ja, Großmutter, ich höre dich. Es ist nichts. Ich habe nur wieder solche Kopfschmerzen. «Ich griff mir mit der Hand an die Stirn. Ich fühlte mich wie betäubt.
«Armes Kind. Das ist bestimmt die Feuchtigkeit. Ich hol dir noch mal eine Tablette. Und ins Krankenhaus fährst du mir heute nicht!«
«Ach, aber Großmutter…«Ich stützte mich auf die Ellbogen und richtete mich auf.»Ich möchte aber fahren.«
«Kommt nicht in Frage. «Großmutter wandte sich ab und humpelte durch das Zimmer zum Fenster hinter dem kleinen Eßtisch. Mit einem Ruck zog sie die Vorhänge auf.»Da! Sieh dir das an.«
Verdutzt starrte ich auf das Fenster. Es sah aus wie mit weißer Farbe zugeschmiert.»Was ist das?«
«Nebel. Mit freundlichen Grüßen aus Glasgow. Dort hatten sie ihn gestern — ich hab's im Radio gehört. Und jetzt ist er zu uns runtergezogen. Wir sitzen mitten in der dicksten Suppe, Kind. Da bleibt man am besten zu Hause.«
«Nebel…«
«Der kommt jedes Jahr, so sicher wie das Amen in der Kirche. Erst kriegen sie ihn in Glasgow, dann zieht er zu uns runter. So, ich mach dir jetzt einen schönen heißen Tee, den kannst du gebrauchen, und was Gutes zu essen. Du bist diese Feuchtigkeit hier einfach nicht gewöhnt. Und oben im Norden braut sich ein Sturm zusammen. Drum ist die Luft so drückend. «Nachdem ich drei von Großmutters Tabletten geschluckt hatte, nahm ich meine Sachen und ging hinauf ins kalte Badezimmer. Ich ließ mir ein heißes Bad einlaufen und stürzte mich, völlig durchgefroren, mit Wonne hinein, sobald die Wanne zur Hälfte gefüllt war. Während ich mich im dampfenden Wasser aalte, dachte ich weiter über die Geschehnisse der vergangenen Nacht nach.
Ein neuer Gedanke kam mir, und ich bedachte ihn sehr gründlich. Obwohl ich das Gefühl hatte — eine Art nebelhafter Ahnung —, daß das Haus mich nicht fortlassen wollte, fragte ich mich, was geschehen würde, wenn ich es versuchen sollte.
Die Besuche bei meinem Großvater gestattete es mir; sie schienen irgendwie in den größeren Plan hineinzugehören. Aber ich erinnerte mich einer inneren Rastlosigkeit, als ich in Williams Haus gewesen war — einer nagenden Ungeduld, hierher zurückzukehren —, und der Sog, den es auf mich ausgeübt hatte, als ich zu meinem Spaziergang auf dem Newfeld Heath aufgebrochen war, war unverkennbar gewesen.
Was aber würde geschehen, überlegte ich, während ich das heiße Bad genoß, wenn ich all meine Kraft und Entschlossenheit zusammennahm und versuchte, mich zu lösen? Würde es mich ziehen lassen?
Aber wie wollte es mich denn überhaupt aufhalten? Unsinnige Spintisierereien, schalt ich mich, während ich mich in der Kälte des Badezimmers trockenfrottierte. Wie albern, mich als Gefangene dieses Hauses zu sehen. Selbstverständlich konnte ich gehen. Jederzeit. Wann immer ich wollte. Es wäre nur lieblos gewesen, Großmutter nach so kurzer Zeit und ausgerechnet jetzt wieder allein zu lassen. Und ich konnte nicht nach gerade vier Tagen schon wieder nach Los Angeles zurückkehren. Es gehörte sich einfach, daß ich noch eine Weile blieb, Großmutter Gesellschaft leistete, meinen Großvater besuchte und die alten Verwandtschaftsbande neu knüpfte. Ich würde gehen, wenn ich dazu bereit war.
Das Essen war gut, aber ich hatte keinen Appetit. Dennoch zwang ich mich, Großmutter zuliebe wenigstens ein wenig zu essen. Sie musterte mich immer wieder mit besorgtem Blick.»Ist dein Haar schon trocken, Kind?«
Ich schob einen Finger unter das Frottiertuch, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte.»Scheint so, ja.«
«Setz dich doch ans Gas, bis es richtig trocken ist. Nicht daß du mir eine Erkältung bekommst. Elsie und Ed kommen heute sicher nicht. Bei solchem Nebel gehen sie nie aus dem Haus. «Ich sah wieder zum Fenster. Alles war Grau in Grau. Der kleine Garten, die Backsteinmauer, die rostige Pforte und die dürren Rosenbüsche waren verschwunden. Noch nie hatte ich so dicken Nebel erlebt. Es war, als wäre das Haus von einem Wattemeer umhüllt.
«Wann geht er denn wieder weg?«
«Heute abend wahrscheinlich. Komm jetzt, setz dich ans Feuer.«
Mit trägen Bewegungen bürstete ich mir am Gasfeuer das Haar. Lieber hätte ich mich weiter weg gesetzt, es war mir sowieso schon zu warm im Zimmer. Aber Großmutter war um mein Wohlbefinden besorgt, und da ich gerade aus der Wanne gestiegen war, mußte ich ihr recht geben. Ich starrte in die bläulichen Gasflammen, während ich bürstete, und hing meinen Gedanken nach, die sich um die vier Menschen drehten, die ich am vergangenen Abend hier beobachtet hatte.
Als ich Großmutter in der Küche das Geschirr spülen hörte — sie wollte nichts davon wissen, daß ich ihr half —, nahm ich das Familienalbum und schlug es auf. Unglaublich, daß ich die Entstehung dieses Familienfotos miterlebt haben sollte! Ein verrückter Gedanke, daß dieses Bild, vergilbt und brüchig jetzt, seit Jahrzehnten in diesem Album steckte und ich doch erst vor wenigen Stunden seine Entstehung beobachtet hatte.
Was war die Zeit für ein seltsames Ding. Die Wirbel und Strudel des gewaltigen Flusses Zeit waren mir ein Rätsel. Ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben:»Die Zeit vergeht, meinst du? Aber nein! Die Zeit bleibt, und wir vergehen. «War das die Erklärung? Daß nicht die Zeit in Bewegung ist, sondern vielmehr wir durch sie hindurchfliegen, während sie stillsteht?
Und wenn einem von uns es gelingen sollte, nur einen Moment stillzustehen, konnte er dann zurückblicken…»Wo hast du das denn aufgestöbert?«Ich fuhr in die Höhe.»Was?«
Großmutter ließ sich schwerfällig in den Sessel sinken und stützte sich dabei bis zur letzten Sekunde auf ihren Stock. Existierte sie jetzt, in diesem Moment, vielleicht als junge
Frau in einem anderen Zeitabschnitt? Oder konnten wir nur zu den Toten zurückblicken? War es möglich, das Fenster zu unserer eigenen Vergangenheit zu finden und uns zu betrachten, wie wir gewesen waren, als wir jung waren?» Ich habe es im Salon gefunden.«
«Im Salon?«
Und wenn ich zusehen konnte, wie sich die Leben von Harriet, John und Victor entwickelten, würde ich dann auch die Geburt meines eigenen Großvaters miterleben?
«Du glaubst hoffentlich nicht, daß ich in deinem Haus herumschnüffeln wollte, Großmutter, aber du hast neulich Abend von dem Album gesprochen, und ich war so neugierig. Ich habe mir gedacht, daß es vielleicht im Salon liegt — «
«Es ist das Familienalbum der Townsends. Ich habe es mir seit Ewigkeiten nicht mehr angesehen. Seit der Geburt meiner Kinder nicht mehr. Zeig mal.«
Ich reichte ihr das Buch, und meine Gedanken wanderten weiter. Würde ich wahrhaftig meinen Großvater als kleines Kind sehen, oder gestatteten diese Blicke in die Vergangenheit nur die zu sehen, die schon tot waren?
Ich beobachtete Großmutters alte Hände, die Seite um Seite umblätterten. Brüchige Ränder und Ecken bröckelten unter ihren Fingern ab. Bei der Gruppenaufnahme im Wohnzimmer hielt sie einen Moment inne, betrachtete sie aufmerksam durch die Brillengläser und dann über ihre Ränder hinweg. Sie blätterte weiter, besah sich die anderen Fotografien, auf denen sie, wie sie sagte, kaum jemanden kannte.
«Von deinen Urgroßeltern ist kein Foto dabei«, bemerkte sie, als sie mir das Album zurückreichte.»Keines von Victor und keines von Jennifer.«
«Ja, ich weiß. «Ich legte das Album auf meinen Schoß.»Es wundert mich.«
«Das wundert dich? Aber hör mal, nach dem, was er ihr angetan hat und wie unglücklich es sie gemacht hat! Aber Schluß damit. Ich mag nicht über die Townsends reden. Ich will nicht Erinnerungen aufwühlen, die deinen Großvater sein Leben lang gequält haben. «
Ich sagte nichts. Was, dachte ich, würde Großmutter tun, wenn sie wüßte, daß jene Ereignisse, die zu den quälenden Erinnerungen ihres Mannes gehörten, sich eben in diesen Tagen noch einmal in ihrer ganzen Lebendigkeit und bitteren Realität in diesem Haus abspielten?
Gromutter nickte über ihrem Strickzeug ein. Ich hielt ein Buch in den Händen, das sie mir in der Hoffnung gegeben hatte, daß ich lesen würde, doch ich hatte es nicht einmal aufgeschlagen. Auch ich nämlich begann, die einschläfernde Wirkung des Nachmittags zu spüren. Der dichte Nebel vor dem Fenster, die drückende Wärme im Zimmer, das schwere Essen, das wir genossen hatten, und die Aufregung der vergangenen Nacht — das alles wirkte jetzt zusammen. Ich merkte, wie ich müde wurde, ließ den Kopf nach rückwärts an das Polster sinken und schloß die Augen.
Das sanfte, gleichmäßig Ticken der Uhr lullte mich ein. Als es aufhörte, erschrak ich nicht. Ich hob nur den Kopf und öffnete die Augen.
Victor Townsend war gekommen.
Ich sah zu meiner Großmutter hinüber. Das Kinn war ihr auf die Brust gesunken, ihre Lippen blähten sich und erschlafften im Rhythmus ihrer Atemzüge. Mein Blick kehrte zu Victor zurück, und wieder war ich beeindruckt von seiner imposanten Gestalt und seiner männlichen Schönheit. Wie war es möglich, daß er mir so lebendig und real erschien? Wie konnte diese Erscheinung aus der Vergangenheit soviel Substanz und Körperhaftigkeit besitzen, als wäre sie ein lebendiger, atmender Mensch? Ich registrierte jedes Detail: die dichten dunklen Wimpern seiner schwerlidrigen Augen; die breiten, geraden Schultern; den straffen Rücken und das volle, ungebärdige dunkle Haar. Lange sah ich in das markante Gesicht, das mir von Traurigkeit und Niedergeschlagenheit zu sprechen schien.
Victor lehnte am Kaminsims und blickte grüblerisch ins Feuer. Er schien bedrückt von seinen Gedanken, beunruhigt von dem, was er in den Flammen sah. Am liebsten hätte ich ihn angesprochen und gefragt, was ihn bekümmere.
Und angenommen, ich spreche ihn tatsächlich an? fragte ich mich plötzlich. Würde er mir antworten?
Ich bekam keine Gelegenheit, die Probe darauf zu machen. Im selben Moment nämlich hob Victor den Kopf und blickte zu einem Punkt im Zimmer, der sich hinter mir befand. Ich spürte einen kalten Luftzug, hörte das Klappen der Tür, die hinter mir geschlossen wurde. Es war jemand hereingekommen. Ich blieb starr und steif in meinem Sessel vor Angst, daß eine Bewegung von mir die Szene stören, mich dieses Augenblicks mit Victor Townsend berauben könnte. Als sein Vater in Erscheinung trat und dicht neben mir stehenblieb, hielt ich den Atem an. Ernst und schweigend sahen die beiden Männer einander an. Jeder schien genau abzuwägen, was er sagen wollte, und beide Gesichter zeigten Traurigkeit.
Victor sprach schließlich als erster.»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Vater, und dich um deinen Segen zu bitten. «Der ältere Townsend stand gespannt, die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt, wie um sich heftiger Gemütsbewegung zu erwehren. Ich blickte zu ihm auf, verwundert, daß er so dicht neben mir stand und mich doch nicht wahrnahm. Sein Gesicht war starr, die Lippen blutleer. Ich sah wieder den Sohn an. Sein Blick hing an den Lippen seines
Vaters, seine ganze Haltung drückte hoffnungsvolle Erwartung aus. Was ging hinter diesen dunklen Augen vor? Trug er einen ebenso erbitterten Kampf mit sich aus wie sein Vater? Mir erschienen sie beide wie verbissene Streiter, die in einen Machtkampf verstrickt waren, der nie hätte sein müssen. Wenn nur einer von ihnen seinen Stolz besiegt hätte, wenn nur einer von ihnen -
«Du wagst es, mich um meinen Segen zu bitten, obwohl du gegen meine Wünsche gehandelt hast?«Die Stimme des Vaters war heiser und gepreßt.
Doch Victor blieb hart. Während er seinen Vater ruhig und unverwandt ansah, fühlte ich mich plötzlich von einer Flut heftiger und starker Gefühle überschwemmt. Diese Leidenschaft, die sowohl von Victor als auch von seinem Vater ausging, erfüllte den ganzen Raum und senkte sich wie eine schwere Wolke über mich. Wellen von Liebe und Verehrung, von Enttäuschung und Zurückweisung überfluteten mich. Diese beiden stolzen Männer, die beide an den Qualen ihrer Liebe zum anderen litten, füllten mich mit ihrem schmerzlichen Konflikt. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihnen gesagt, daß ihr Eigensinn kindisch war, daß ihre gegenseitige Zuneigung das einzige war, was zählte, daß sie diesen Schmerz nicht ertragen müßten, wenn nur einer von ihnen einen Moment lang seinen Stolz vergessen könnte. Aber ich konnte mich nicht einmischen, denn das, was hier geschah, war schon geschehen. Ich war Zeugin eines Ereignisses, das nahezu hundert Jahre zuvor stattgefunden hatte. Ich konnte es nicht ändern. Ich durfte beobachten, aber ich durfte nicht eingreifen.
«Es tut mir leid, daß du mich nicht verstehst, Vater«, sagte Victor, und seine Stimme verriet, daß er nicht mehr auf Verständnis hoffte.»Ich möchte ans Königliche Krankenhaus, um dort zu unterrichten und zu forschen, wie Mr. Lister das tat, denn ich bin der Überzeugung, daß ich an dieser Stelle gebraucht werde und daß das meine Berufung ist.«
«Gebraucht wirst du hier!«rief der ältere Townsend.»Hier, bei deiner Familie, in deinem Zuhause. Aber du willst nach Schottland und fremde Leben retten, wenn deine eigenen Leute dich brauchen.«
«Es gibt Ärzte genug in Warrington, Vater, und wenn ich mein Diplom bekomme, werde ich direkt — «
«Meinetwegen kannst du direkt zum Teufel gehen! Jemand, der sich keinen Deut um das Wohl seiner eigenen Familie schert, kann nicht mein Sohn sein! John ist geblieben und ist uns ein Segen des Herrn. Er allein gehorchte den Wünschen seines Vaters.«
«Ich muß mein eigenes Leben leben, Vater«, erwiderte Victor mit großer Selbstbeherrschung.
«Ja, und um das zu tun, mußt du deiner Familie den Rücken kehren. Ich war von Anfang an dagegen, daß du so ein Quacksalber wirst. Aber nun, wo du es doch durchgesetzt hast, solltest du wenigstens nach Hause kommen und bei denen bleiben, die dich lieben. Aber ich werde dich nicht bitten. O nein! Ich werde dich nicht bitten, und ich werde mich auch nicht weiter mit dir herumstreiten. Du wirst dich eines Tages dafür verantworten müssen, was du getan hast — Leichen aufschneiden und deine Nase in Dinge stecken — «
«Dann leb wohl, Vater. «Victor bot seinem Vater die Hand. Sein Gesicht war bleich und wirkte im flackernden Feuerschein sehr hart.
Der ältere Townsend schien einen Moment unschlüssig, hin und her gerissen zwischen Liebe und Stolz, dann machte er ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer.
Victor stand da wie versteinert, den Arm noch ausgestreckt, um dem Vater die Hand zu reichen, das Gesicht sehr bleich. Als er schließlich verschwand, und das lodernde Feuer wieder dem Gasgerät gewichen war, schlug ich überwältigt die Hände vor das Gesicht.
«Ja?«sagte Großmutter plötzlich und fuhr aus dem Schlaf.»Ja, was ist?«
Ich wandte mich von ihr ab und wischte mir die Augen.»Oh, ich muß eingeschlafen sein. Lieber Gott, wie spät es schon ist! Ich kann doch nicht hier rumsitzen und dösen, da krieg ich ja die ganze Nacht kein Auge zu. Ach du lieber Schreck, ich hab mein Strickzeug fallenlassen, und die ganze Wolle hat sich verheddert. «
Ich drängte die Tränen zurück und tröstete mich mit dem Gedanken, daß Victors Leiden an der Zurückweisung des Vaters, den er so geliebt hatte, längst vorbei war. Mit einem etwas mühsamen Lächeln wandte ich mich meiner Großmutter zu.»Wie ist das Buch?«fragte sie.
«Gut. «Meine Stimme war unsicher.»Ich glaube, ich bin auch eingenickt.«
Ich sah auf die Uhr. Nur eine Minute war vergangen über der Konfrontation Victors mit seinem Vater. Ich lauschte dem vertrauten Ticken, und die Uhr schien mir zu flüstern» vergangen, vergangen, vergangen«. Ich erkannte, daß während meiner Begegnungen mit der Vergangenheit die Zeit der Gegenwart keine Gültigkeit hatte. Da ich jetzt wußte, daß das Aussetzen der Uhr zugleich das Signal zum Eintritt in die Vergangenheit war, wurde mir klar, daß dies gewissermaßen die Brücke zwischen den beiden Zeitaltern war. Die Uhr war eine Art Schaltwerk, das den Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollzog. Aber die Zeit der Gegenwart schien stillzustehen. Sie bewegte sich träge fort, während die Vergangenheit vor meinen Augen ihren normalen Gang nahm. Oder war ich es, die stillstand und im Stillstehen den Verlauf der Ereignisse von gestern wahrnahm? Es spielte keine Rolle. Es war ein Rätsel, das nicht zu lösen war. Was auch immer in diesem Haus vorging, was auch immer das für ein Plan war, in den ich eingebunden worden war, er mußte seinen Lauf nehmen, ohne Rücksicht auf das Warum, das Wie und das Wozu.