Mir war an diesem Abend keine Atempause gegönnt. Obwohl ich mich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte, als ich mich schwankend durch den Flur zur Treppe tastete, sollte ich schon sehr bald wieder in den Strudel der Ereignisse des Jahres 1892 hineingezogen werden.
Das schreckliche Verbrechen, das an Harriet begangen worden war, hatte mich in gleichem Maß entsetzt wie Jennifer. Aber obwohl alles darauf hinwies, daß Victor der Täter war, konnte ich nicht glauben, daß er einer solchen Scheußlichkeit fähig sein sollte. Doch auch John konnte ich nicht verdächtigen. Er mochte schwach und labil sein, skrupellos und schlecht war er nicht. Mir blieb keine Zeit, mich von meinem Entsetzen zu erholen oder länger an dieser Unglücksgeschichte herumzurätseln; ich hatte noch nicht einmal die Treppe erreicht, als ich aus dem Vorderzimmer erneut Geräusche hörte. Die Ereignisse überstürzten sich jetzt.
Ich kehrte zur Tür des Vorderzimmers zurück, lehnte mich an den Pfosten und beobachtete John, der ruhelos im Zimmer hin und her lief. Jennifer, die wieder in dem roten
Samtsessel saß, verfolgte sein Hin und Her mit unglücklichem Blick. Sie hatte ein anderes Kleid an, daran erkannte ich, daß es ein neuer Tag sein mußte.»Muß es denn wirklich sein?«fragte sie mit gequälter Stimme, während John unablässig hin und her lief wie ein wildes Tier im Käfig. Sein Gesicht war finster und hart. Er sah in diesem Moment seinem Bruder Victor ähnlicher denn je.
«Ich habe keine Wahl«, erklärte er.»Es gibt keinen anderen Ausweg. «
«Könntest du dich ihnen nicht einfach stellen? Ließe sich denn nicht irgendeine Einigung erreichen? Mußt du wirklich fliehen wie ein Dieb?«
Er wirbelte wütend herum.»Was soll ich denn tun? Was schlägst du vor? Soll ich vielleicht flennend zu diesen Kerlen laufen und um Gnade betteln? Ach, Jenny, das ist eine geldgierige und erbarmungslose Bande. Denen ist mein Leben völlig gleichgültig. Sie wollen nur ihr Geld.«
«Dann laß Victor — «
«Nein!«donnerte er so aufgebracht, daß es uns beide erschreckte.»Ich nehme keine Almosen von meinem Bruder. Und gerade jetzt möchte ich überhaupt nichts mit ihm zu tun haben.«
«John, du glaubst doch nicht im Ernst — «
«Laß diesen Schurken aus dem Spiel. Nach dem, was er Harriet angetan hat, will ich nie wieder etwas mit ihm zu tun haben. Und was mich angeht, so werde ich verschwinden, weil das für mich die einzige Möglichkeit ist, meine Haut zu retten.«
«Dann gehe ich mit dir.«
«Nein, das wirst du nicht tun, Jenny«, entgegnete er in sanfterem Ton.»Du mußt hierbleiben und auf mich warten. Ich werde in einigen Tagen fort sein, aber ich kann nicht sagen, wohin ich gehen werde. Und ich kann dir auch nicht sagen, wann ich zurückkehren werde. Ich muß mich eine Weile versteckt halten, bis die Wellen sich glätten und ich ein paar Pfund zusammenkratzen kann. Dann komme ich zurück. Du wirst doch auf mich warten, Jenny, Liebste?«Sie sah ratlos zu ihm auf.
John fiel plötzlich vor ihr auf die Knie und umfaßte ihre Hände.»Ich liebe dich, Jenny, auch wenn du mich nicht liebst. Nein, sag nichts, laß mich weitersprechen. Ich habe über manches nachgedacht, und ich weiß jetzt, daß ich an vielem die Schuld trage, weil ich dich so sehr vernachlässigt habe. Und meine Schwester auch. Wenn sie zu mir gekommen wäre, anstatt zu Victor zu gehen…«John schüttelte den Kopf.»Ich will jetzt nicht daran denken. Es ist geschehen und nicht mehr zu ändern. Aber wir, Jenny, wir haben noch eine Chance. Ich werde verreisen, und ich weiß nicht, wie lange ich fortbleiben werde. Aber du wirst sehen, wenn ich zurückkomme, wird alles anders werden zwischen uns. Ich werde als ein andrer zurückkommen, ganz bestimmt. Ich werde diese gemeinen Kredithaie bezahlen und für immer die Finger vom Glücksspiel lassen. Du wirst es sehen, Jenny, meine Liebste.«
«Ach, John«, murmelte sie traurig.»Ich wollte, du müßtest nicht fort.«
«Aber ich muß, es ist nicht zu ändern. Aber mir wird nichts geschehen, weil niemand von meinen Plänen weiß. Ich werde einfach verschwinden. Denk daran, Jenny, es ist ein Geheimnis. Sie dürfen nichts davon erfahren, denn wenn sie etwas ahnen, ist mein Leben in Gefahr. Du verstehst doch, nicht wahr? Im Augenblick bin ich ihnen eine Nasenlänge voraus. Aber wenn diese Leute erfahren sollten, daß ich vorhabe zu verschwinden… ach, ich möchte gar nicht daran denken. Also, es bleibt unter uns, hm?«Ihre Schultern erschlafften. Jennifer schien in sich zusammenzusinken.»Ja, John, es bleibt unter uns.«
Als ich endlich wieder zu mir kam, saß ich unten im Wohnzimmer am Fenster. Durch den Regen zeigte sich das erste schwache Licht des Morgens, doch meine Augen nahmen es kaum auf. Das verstärkte Prasseln des Regens an den Fensterscheiben war es, das mich aus meiner Gedankenverlorenheit riß, und es wunderte mich nicht festzustellen, daß ich schon eine ganze Weile so gesessen haben mußte. Düster erinnerte ich mich, nach unten gegangen und völlig erschöpft auf diesen Stuhl gesunken zu sein. Ich blickte mich um. Nichts Warmes oder Behagliches war jetzt in diesem Zimmer. Es war kalt und grau wie der regnerische Morgen draußen, und ich fühlte mich eins mit ihm. In meiner Seele war kein Licht, nur kalte, graue Asche. Diese Nacht war zu schlimm gewesen. Nicht nur hatte ich das ganze Unglück mitansehen und hören müssen, ich hatte es auch noch fühlen müssen. Alle Gefühle meiner toten Vorfahren, gleich, welcher Natur, schienen sich ohne Abschwächung auf mich zu übertragen. Ich war nicht mehr als ein hilfloses Opfer, Leidenschaften preisgegeben, die längst erloschen waren und doch im Rahmen dieser unerklärlichen Zeitsprünge weiterbrannten. Wie kam es, fragte ich mich, daß ich mich vor der Annäherung der Lebenden sehr wohl abschirmen konnte, daß die Toten jedoch ohne Mühe in mein Innerstes vordringen konnten? Was alles sollte ich noch leiden, ehe ich frei davon wurde? Wenn ich überhaupt je frei davon werden sollte. Und wollte ich denn überhaupt frei sein?
Todmüde stand ich auf und schleppte mich zum Kamin hinüber. Großmutter würde bald herunterkommen und sich wieder aufregen, wenn sie sah, daß der Gasofen nicht ging. Ich stellte ihn an, schaltete ihn auf die niedrigste Stufe und tappte zum Sofa hinüber.
Wollte ich denn überhaupt dieses Haus jemals verlassen und wieder in mein früheres Leben zurückkehren, fragte ich mich. Würde ich es fertigbringen, Jennifers aufopfernder Liebe, der Erregung von Victors Nähe den Rücken zu kehren? Selbst Johns ausweglose Verzweiflung und Harriets Angst und Kummer hatten mich lebendig gemacht, so daß ich mich, zeitweise wenigstens, ganz gefühlt hatte. Bestand darin ihre zauberische Kraft, in ihrer Fähigkeit, mich zum Leben zu erwecken, Gefühle in mir zutage zu fördern, die ich niemals zuvor gekannt hatte? Ich fieberte jetzt den kurzen Episoden aus der Vergangenheit entgegen wie ein Drogensüchtiger seiner Spritze. Solange ich in der Zeit meiner Vorfahren lebte, war ich, was auch immer für Qualen ausgesetzt, wahrhaft lebendig. In den Perioden dazwischen, die mir endlos erschienen, war ich hingegen wie abgestorben. Die Stunden krochen dahin. Ich sah immer wieder auf die Uhr und konnte es nicht glauben, daß mir fünf Minuten so lang wie eine Stunde schienen. Großmutter kam nicht herunter. Als sie um acht Uhr noch immer nicht erschienen war und ich von oben keinerlei Geräusche hörte, beschloß ich, hinaufzugehen und nach ihr zu sehen.
Ich bewegte mich träge und schwerfällig. Ich sah, daß meine Fingernägel blau unterlaufen waren. Es mußte eiskalt sein in diesem
Haus, doch ich fühlte es nicht. Am oberen Ende der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus dem Zimmer meiner Großmutter war kein Laut zu hören.
Jetzt wurde ich unruhig. Von Besorgnis aus meinem Zustand völliger Gleichgültigkeit gerissen, erinnerte ich mich endlich daran, wer ich war und wo, und mir fiel ein, daß Großmutter am vergangenen Tag schlecht ausgesehen hatte. Ich klopfte bei ihr. Nichts rührte sich.»Großmutter?«Keine Antwort.
Ich öffnete die Tür und schaute ins Zimmer. Es war ganz dunkel. Ich blieb einen Moment lauschend stehen und hörte immer noch nichts. Mit wachsender Besorgnis lief ich durch das Zimmer, schlug mich dabei an diversen Möbelstücken an und erreichte schließlich das Fenster. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge auf.
Das Bett war leer.»Was ist denn, Kind?«Ich fuhr zurück.»Großmutter!«
«Ich war im Bad, Andrea, hast du mich nicht gehört?«Ihr plötzliches Erscheinen hatte mich erschreckt.»Nein«, sagte ich.»Ich habe dich nicht gehört. Ich habe dich auch nicht aufstehen hören.«
«Ja, ich war aber auch ganz leise. Ich dachte, du schläfst vielleicht noch, und wollte dich nicht wecken. Wie fühlst du dich denn? Ich sehe, du bist schon angezogen.«
«Ja… Ich — mir geht's gut. Gott, hast du mich eben erschreckt.«
«Du bist schrecklich nervös, Kind. Das gefällt mir gar nicht. Komm, gehen wir runter und machen uns einen heißen Tee. «Als ich wieder unten am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte, gestand ich mir ein, wie recht meine Großmutter hatte. Ich war wirklich nervös.
Mehr als das — meine Nerven waren aufs Höchste angespannt. Aber was hätte ich anderes erwarten können. Ich aß nicht, ich schlief kaum und war Nacht für Nacht der Spielball heftiger Gefühle.
«Wirklich, Kind, ich möchte wissen, was dir fehlt. Du machst mir Sorgen. Und dazu dieser schreckliche Regen, wie sollen wir da einen Arzt ins Haus holen?«
«Ich brauche keinen Arzt, Großmutter. Nur ein bißchen — eine Tasse Tee wird mir guttun. «Ich zwang mich, das süße Gebräu zu schlucken. Aber von meinem Toast brachte keinen Bissen herunter.
«Ist es wieder die Verdauung?«
«Nein!«Lieber Gott, niemals würde ich dieses gräßliche weiße Zeug hinunterbringen.»Meine — Verdauung ist in Ordnung, Großmutter. Es ist nur — es ist nur…«
«Weißt du was, ich geh dir ein Glas Kirschlikör, und dann pack ich dich richtig ein, und du setzt dich ans Feuer. Du brauchst Wärme. Du frierst dich ja zu Tode. Schau dich doch nur an. «Sie neigte sich zu mir und berührte meinen Arm.»Um Gottes willen!«rief sie entsetzt.»Du bist ja so kalt wie eine Leiche!«Ich sah auf meine Arme hinunter.
«Es ist ein Wunder, daß du dir noch keine Lungenentzündung geholt hast. Wie kannst du diese Kälte nur aushaken? Im Radio haben sie gesagt, daß die Temperaturen noch weiter fallen. Hier drinnen hat's keine zehn Grad. Ich hab drei Strickjacken an und friere immer noch. Und du — halbnackt. Ich frag mich wirklich, wie du das aushältst.«
Es ist dieses Haus, dachte ich. Es will mich langsam umbringen. Wir setzten uns ans Feuer, und obwohl ich unter der Hitze litt, blieb ich Großmutter zuliebe brav sitzen. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Und so saßen wir fast den ganzen Tag.
Am frühen Abend fühlte sich Großmutter so weit durchgewärmt, daß sie keine allzu starken Schmerzen mehr hatte, wenn sie sich bewegte. Sie ging in die Küche und machte uns ein kleines Abendessen. Wie ich es hinunterbrachte, weiß ich selbst nicht. Ich kaute und schluckte ganz automatisch, ohne etwas zu schmecken, und behielt es sogar bei mir.
Danach wurde ich schläfrig. Ich hatte schon lange nicht mehr soviel gegessen. Trotz meiner gereizten Nerven und der unablässigen Gedanken, die in meinem Kopf wirbelten, erlag ich schließlich der Hitze.
Als ich erwachte, sah ich als erstes auf die Uhr. Es war neun. Dann sah ich nach Großmutter. Sie schlummerte friedlich in ihrem Sessel. Draußen tobte immer noch der Sturm. Im Zimmer brannte nur eine Stehlampe in der Ecke. Ein diffuses Licht erfüllte den Raum, und es zeigte mir John, der am Kamin stand. Er war nervös, trommelte mit den Fingern auf den Kaminsims, sah immer wieder auf die Uhr. Seine ganze Haltung drückte ungeduldige Erregung aus, und sein Gesicht war angespannt. Als Jennifer fast lautlos ins Zimmer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloß, atmete er erleichtert auf. Sie hatte eine gepackte Reisetasche mitgebracht.
«Danke, Liebes«, sagte John, als er sie ihr abnahm.»Hat dich jemand gehört?«
«Nein. Sie schlafen alle. Vater und Mutter haben sich vor ungefähr einer Stunde zurückgezogen, und Harriet schläft in unserem Bett. Ich lege mich heute nacht aufs Sofa im Salon.«
«Jenny — «
«Ich habe dir meine Granatohrringe eingepackt«, fuhr sie steif fort.»Sie haben fünf Pfund gekostet, da müßtest du eigentlich noch ein oder zwei Guineen für sie bekommen. Du wirst das Geld brauchen.«
«Jennifer. «Zaghaft und unsicher legte er die Arme um sie.»Es schmerzt mich tief, daß ich so plötzlich fort muß. Ich hatte gehofft, ich hätte noch ein paar Tage Zeit und wir könnten auf würdigere Weise voneinander Abschied nehmen. Aber nun hat mein ehrenwerter Bruder mir die Hunde auf den Hals gehetzt, und ich muß gleich fort, wenn ich mit dem Leben davonkommen will.«
Jennifers Gesicht war unbewegt, als ich ihre Wange küßte.»Du wirst mir schrecklich fehlen, Jenny, mehr als ich dir sagen kann. Ich werde oft an dich denken. «Sie sah ihn an wie versteinert.»Hast du keine Tränen für mich?«
«Ich werde auf dich warten, John.«
«Ja, das weiß ich. Jetzt brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß du mit Victor, diesem Schurken, auf und davongehen wirst. Jetzt, da er den Namen der Familie in den Schmutz gezogen hat, erkennst du ihn wohl endlich als den, der er wirklich ist. «Jennifer stand kerzengerade da und sah ihren Mann mit steinerner Miene an. Ich spürte die starre Kälte ihres Herzens. Sie durchdrang mich, wie Harriets Jammer mich durchdrungen hatte, und Fetzen trüber Gedanken erzählten mir vom Schmerz und Entsetzen über Victors vernichtenden Sturz. Der Name Megan O'Hanrahan wehte bitter und schmerzhaft durch unsere Gedanken. Sie war es, die das Gerücht von Harriets Abtreibung ausgestreut und den Ruf Victors, der sie angeblich vorgenommen hatte, ruiniert hatte. Ich erinnerte mich mit Jennifer ihrer flehentlichen Bitten an ihn, die Behauptung zurückzuweisen, und ich erinnerte mich mit Jennifer seines beharrlichen Schweigens. Nicht ein einziges Wort hatte Victor zu seiner Verteidigung vorgebracht, während sich das Gerücht von der Abtreibung wie die Schwarze Pest in Warrington verbreitet hatte. In sehr kurzer Zeit war vom Ansehen Victor Townsends nichts mehr übrig gewesen.
Bilder von Mrs. Townsend stiegen auf, die vor Scham und Demütigung schwer krank geworden war und nun von ihrem Leiden an ihr Bett gefesselt war; Bilder von Mr. Townsend, der jeden Morgen stolz und hocherhobenen Hauptes den Weg zur Arbeit antrat und jeden Abend niedergedrückt wie ein geprügelter Hund heimkehrte.
Er hatte gehört, was hinter seinem Rücken getuschelt wurde, absichtlich so laut, daß er es nicht überhören konnte. Da, seht ihn euch an. Seine Tochter ist nicht mehr als eine gemeine Hure. Sein
ältester Sohn ist ein Engelmacher. Sein jüngster ist ein Trinker und Spieler.
«Du glaubst mir nicht, stimmt's?«
«Nein, ich glaube dir nicht.«
«Aber es ist wahr. Victor ging schnurstracks zu den Buchmachern und sagte ihnen, daß ich vorhabe, aus der Stadt zu verschwinden. Da sind sie natürlich prompt zu mir gekommen, haben mich bedroht und ihr Geld verlangt. Ich mußte sie mit einer Lüge abspeisen. Ich versprach ihnen, sie würden es gleich morgen bekommen. O ja, du kannst es mir glauben, das habe ich Victor zu verdanken. Er wollte mich für seinen eigenen Ruin büßen lassen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß ich davonkommen sollte. Er allein kann es gewesen sein, denn niemand sonst wußte von meinen Plänen. Nur dir und ihm habe ich davon erzählt, und ich glaube doch nicht, daß meine eigene Frau mir die Meute auf den Hals hetzen würde — oder?«Jennifer antwortete nicht. Sie hörte in diesem Moment eine andere Stimme, Victors Stimme. Sie sah sich mit ihm im Salon. Er hatte eben die Hände von den Tasten des Klaviers genommen und sagte:»Er braucht einen Schock. Er muß gezwungen werden-«
Und sie erinnerte sich ihrer eigenen Worte —»Versprich mir, daß du John in Ruhe läßt«- Victors Antwort:»Wenn es dein Wunsch ist, verspreche ich es.«
John lächelte so siegessicher wie ein Kartenspieler, der weiß, daß er die Partie gewinnen wird.»Deine Augen sagen etwas anderes als dein Mund. Ich sehe es in deinem Gesicht, Jenny, daß von deiner Liebe zu Victor nichts übriggeblieben ist. «Doch was er in Wirklichkeit sah, war die tiefe Abscheu, die sie dieser Familie und dieser Stadt entgegenbrachte für das, was sie Victor angetan hatten. Sie hatten ihn verurteilt und verdammt, ohne ihm überhaupt eine Chance zur Verteidigung zu geben. Wenn du jemandem die Schuld an all diesem Unglück geben willst, sagten ihre Augen, dann gib sie Harriet, die sich in diese
Situation gebracht hat und dann alles noch Megan O'Hanrahan erzählen mußte. Was
John Townsend im Gesicht seiner Frau sah, war bittere Ernüchterung.»Du solltest jetzt besser gehen, John.«
«Ja, Liebes, ich gehe. Aber glaub mir, ich komme zurück. Bald schon. Und mit Geld in der Tasche. Du wirst sehen. «Ich entdeckte einen Unterton beinahe freudiger Erregung in seiner Stimme und ein Blitzen von Abenteuerlust in seinen Augen. John Townsend hatte es endlich geschafft, der Fuchtel seines Vaters zu entkommen. Er riskierte dabei vielleicht Kopf und Kragen, und er ging in Schande, aber er tat endlich das, worum er Victor immer beneidet hatte: Er ging fort aus diesem Haus.»Dann wird es uns gutgehen, und wir werden in unserem eigenen Haus leben. Ich engagiere dir ein Dienstmädchen und lasse ein Telefon installieren. Was sagst du dazu, Jenny, Liebes, ein Telefon!«
«Es ist spät John.«
Ohne ein weiteres Wort nahm er die Reisetasche, küßte Jennifer kurz und heftig und eilte aus dem Zimmer. Sie blieb reglos stehen, und wir hörten, wie er leise die Zimmertür hinter sich zuzog und wenig später die Haustür. Als sie gewiß war, daß er fort war, als im Haus Grabesstille eingekehrt und nur noch das feine Ticken der Uhr zu hören war, stieß Jennifer ein herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte zu Boden. Als ihre Hand meinen Fuß berührte, verschwand sie.
Gegen halb zehn erwachte Großmutter aus ihrem Schlummer. Mit Hilfe ihres Stocks stemmte sie sich aus dem Sessel und humpelte hinaus, um nach oben in ihr Zimmer zu gehen. Ich hörte, wie sie im Bad heißes Wasser in die Wärmflaschen laufen ließ und dann in ihr Zimmer tappte. Ich hörte das Quietschen der Sprungfedern, als sie sich in ihr Bett sinken ließ. Danach strich ein wispernder Wind durch das Haus, und es war, als seufzten die Wände. Ich wartete ungeduldig auf meine nächste Begegnung.
Sie erfolgte wenige Minuten später.
Während ich noch über das Unglück nachdachte, das die Familie Townsend damals heimgesucht hatte, hörte ich im Salon Geräusche. Langsam, unsicher ging ich hinüber. Noch vor wenigen Tagen hatte ich nur heitere Szenen miterlebt, ganz normale Familienszenen, in denen sich die Townsends wie jede andere Familie gezeigt hatten. Aber dann war eine Wendung erfolgt. Die Episoden, deren Zeugin ich wurde, waren immer beängstigender geworden. Sie hatten jetzt etwas Makabres, Untertöne von Blut und Schande und Vernichtung. Was würde ich diesmal erleben? Wie weit würde diese Familie in ihrem Hang zur Selbstzerstörung noch gehen?
Harriet war im Salon. Sie lag auf dem großen Sofa, den Kopf in die Arme gedrückt, und schluchzte. Ich blieb an der Tür stehen, nicht ohne Mitgefühl mit diesem Kind, das so ahnungslos in die Welt der Erwachsenen hineingestolpert war. Ich hätte gern gewußt, was für einen Tag man schrieb, in welchem Jahr wir uns befanden. Wieviel Zeit war seit der Abtreibung vergangen? Was war in der Zwischenzeit geschehen? Wo war Victor? Was war nach seinem Sturz aus ihm geworden? Und war Scan O'Hanrahan verschwunden? War John schon zurück, die Taschen voller Geld vielleicht? Oder hatte sich etwas Neues ereignet, das mir jetzt offenbart werden sollte?
«O Gott, o Gott, o Gott«, schluchzte Harriet unaufhörlich.»Es ist alles meine Schuld. Ich hab's ihm gesagt. Ich hab's ihm selbst gesagt. Ich hätte den Mund halten sollen. Ich brauchte es ihm nicht zu sagen.«
Sie marterte sich mit Selbstvorwürfen.
Das Feuer im Kamin war fast ganz heruntergebrannt, und das Zimmer wirkte düster. Harriet lag da, als hätte sie sich in einem heftigen Anfall von Verzweiflung niedergeworfen.»Natürlich ist er jetzt böse und bitter. Ich hätte es ihm nicht sagen sollen. Er ist böse, und darum hat er es getan. Ich kann's ihm nicht einmal übelnehmen. Ich kann nur mir selbst die Schuld geben. Ja, ich bin selbst schuld daran, weil ich so dumm war. So unglaublich dumm.«
Den Rest verstand ich nicht. Sie schluchzte in ihre Arme und brabbelte immer weiter.
Nur ab und zu, wenn sie sich besonders heftig erregte und laut wurde, konnte ich verstehen, was sie sagte.»Ach, hätte ich doch nur den Mund gehalten. Dann hätte er das nicht getan. Jetzt kann ich nie wieder unter Menschen gehen. «Sprach sie immer noch von Scan? Oder meinte sie Victor? Als Harriet sich schließlich aufsetzte und sich die Augen wischte, wich ich entsetzt und erschrocken zurück. Sie sah aus, als hätte man ihr den Kopf geschoren. Sie stand auf und ging zu dem goldgerahmten Spiegel, der über dem Kamin hing. Voller Abscheu musterte sie sich darin.»Du kannst es ihm nicht übelnehmen«, murmelte sie wieder, während sie ihr verschwollenes Gesicht unter dem kurzgeschnittenen Haar betrachtete.»Er ist böse auf dich, und das ist kein Wunder. Er wußte nicht, wie er seinen Zorn und seine Wut sonst an dir auslassen sollte. Du hättest dich gleich umbringen sollen, dann wären jetzt alle froh und glücklich. Ihm wäre die Schande erspart geblieben. Mutter wäre nicht krank geworden, und John wäre nicht davongelaufen. Ja, ja, schau dich nur an! Wer kann ihm einen Vorwurf machen?«
Es war kaum Bitterkeit in ihrer Stimme. Sie sprach eher in einem kindlich flehenden Ton, wie das Opfer, das seinen Folterknecht anbettelt, es zu verschonen.
Sie sah schrecklich aus. Von dem schönen kastanienbraunen Haar, das voll und lockig ihr Gesicht umrahmt hatte und das einzig wirklich Reizvolle an ihr gewesen war, waren nur noch millimeterkurze, ungleichmäßig geschnittene Büschel übrig, die stachlig von ihrem Kopf abstanden. An manchen Stellen war das Haar so kurz, daß die nackte Kopfhaut durchschimmerte. Mit dem verschwollenen Gesicht, den rotgeränderten Augen und dem borstig wirkenden Haar sah Harriet beinahe aus wie der kleine Affe eines Drehorgelmanns.
Ich bedauerte den Vergleich augenblicklich. Ich sah ja, wie gequält und unglücklich sie war, und sie tat mir in der Seele leid. Ich fragte mich, wer sie so grausam zugerichtet hatte und warum.»Ich hab's verdient«, flüstert sie weinend vor dem Spiegel.»Ich hab's verdient. Er hatte alles Recht dazu, nach dem, was ich ihm angetan habe. O Gott — er hatte das Recht dazu. «Nicht fähig, den eigenen Anblick länger zu ertragen, rannte Harriet vom Spiegel zum Sofa zurück, warf sich erneut darauf nieder und begann wieder zu schluchzen.
Ich dachte an das unschuldige und sensible Kind, das sie gewesen war, und hatte nur den Wunsch, sie zu trösten, ihr irgendwie zu helfen. Ohne Überlegung sagte ich:»Harriet, was ist denn geschehen?«Und sie riß den Kopf in die Höhe und starrte mich an.