Kapitel 4

«Ja, das waren schlimme Zeiten. Also, hör zu — sie waren drei Kinder, Victor, der Älteste, dann John und die Jüngste war Harriet. 1880 übersiedelte der alte Townsend mit seiner Familie von London nach Warrington, und sie zogen in dieses Haus. Er war ein guter Mann, Roberts Großvater. Ein guter Christ und ein strenger Vater. Er war hier in Warrington sehr angesehen. Wie er zu einem Sohn wie Victor kam…«

Großmutter schüttelte den Kopf. Ich wollte sie nicht drängen, bemühte mich um Geduld, aber die Neugier ließ sich nicht zurückdrängen.

«Was hat Victor getan, Nana?«Sie hob den Kopf.»Getan?«

«Ja. Ich meine, beruflich.«

«Ach so…«Großmutter legte die Hand an die Stirn.»Laß mich überlegen. Ich weiß gar nicht recht. Nein, ich weiß es nicht. Vielleicht weiß es dein Großvater, aber ich glaube, er hat es mir nie erzählt. John, der jüngere Bruder, arbeitete im Stahlwerk. Ich glaube in der Verwaltung.«

«War er auch verheiratet?«

Großmutter warf mir einen erstaunten Blick zu.»Wie meinst du das — auch? Natürlich war John verheiratet. Er war mit Jennifer verheiratet. Ich hab dir doch ihr Bild gezeigt.«

«Aber ich dachte, sie wäre Victors Frau gewesen.«

«Nein, nein. Jennifer war mit John verheiratet. Victor war nie verheiratet.«

«Aber du hast gesagt, sie wäre meine Urgroßmutter.«

«Andrea. «Die Stimme meiner Großmutter klang bedrückt.»Jennifer heiratete John Townsend und zog in dieses Haus. Aber eines Nachts — «Sie senkte den Blick.»Eines Nachts kam Victor nach Hause, und er — er überfiel Jennifer und zwang sie.«

Das Ticken der Uhr klang mir plötzlich überlaut. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden oder Minuten vergingen, ehe ich den Blick wieder auf Großmutter richtete, aber als ich es tat, spürte ich sogar ein wenig Teilnahme. Großmutter sah so unglücklich aus.»Verstehst du jetzt, Andrea?«fragte sie leise.»Dein Großvater wurde bei einer Vergewaltigung gezeugt.«

«Großmutter — «

«John — Jennifers Mann und Victors Bruder — ertrug es nicht, als er erfuhr, daß Jennifer schwanger war, und verließ sie. Beide Brüder verschwanden. Jennifer blieb allein zurück. Sie mußte ganz allein ihr Kind zur Welt bringen. Weder von John noch von Victor hörte sie je wieder. Ihre Schwiegermutter, die Mutter von Victor und John, zog das Kind groß, und nach dem, was dein Großvater mir erzählt hat, muß sie nicht ganz richtig gewesen sein, wenn du verstehst, was ich meine.«

«Und was war mit der Schwester, Harriet? Was wurde aus Jennifer selbst?«

«Was aus Harriet wurde, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß an den Umständen ihres Todes etwas sehr Sonderbares oder Geheimnisvolles war. Und Jennifer starb, ehe dein Großvater aus den Windeln war. An gebrochenem Herzen, heißt es.«

«Ich verstehe…«

«Ja, aber noch lange nicht alles. Das Schlimmste ahnst du noch nicht einmal.«

Die Leidenschaft im Ton meiner Großmutter überraschte mich. Ihr Blick war voller Feuer, und sie gestikulierte heftig, als sie weitersprach.»Du hast keine Ahnung, wie dein Großvater sein Leben lang gelitten hat, nachdem er erfahren hatte, was für ein Mensch sein Vater gewesen war. Es machte ihn zu einem ewig gequälten Menschen. Immer hing dieser schreckliche Schatten über ihm, das Wissen, daß sein Vater ein grausamer und sadistischer Mensch gewesen war. Er hatte nicht eine einzige glückliche Erinnerung, war nie von jemandem geliebt worden, bis er mit mir zusammentraf. Ach, Andrea, wie oft hab ich ihn im Schlaf aufschreien hören, wenn er Alpträume hatte; wie oft hab ich ihn in diesem Sessel sitzen und weinen sehen über das furchtbare Erbe, das er mitbekommen hatte.«

Die Augen meiner Großmutter wurden feucht. Ihre Lippen zitterten.»Du wirst denken, ach was, das alles ist ewig her. Aber soll ich dir sagen, was dein Großvater glaubt? Er glaubt, daß Victor Townsend verrückt war. Und sein Leben lang hat er mit der Furcht gelebt, daß die Krankheit bei einem seiner Kinder wieder auftreten würde. Als ich Elsie erwartete, war dein Großvater wie ein Besessener. Er hatte Todesangst, das Kind könnte Victors Krankheit mitbekommen haben. Dann kam deine Mutter und danach William. Und alle drei entwickelten sich zu normalen gesunden Menschen. Aber dann begann dein Großvater zu fürchten, Victors schreckliches Erbe könnte sich bei einem seiner Enkelkinder zeigen. Er lebte in der ständigen Angst, Victor könnte in einem von euch wieder lebendig werden. Das ist das wahre Unglück, Andrea — was die Vergangenheit aus deinem Großvater gemacht hat! Und ich war bis jetzt der einzige Mensch, der davon wußte. Nun weißt du es auch. Dabei wollte ich, du hättest unbelastet bleiben können.«

Sie fing an zu weinen.

«Es war grauenvoll für deinen Großvater«, fuhr sie fort,»zu wissen, daß er nicht aus Liebe, sondern aus einem Gewaltakt entstanden war. Er sagte oft zu mir, seine Mutter müsse ihn gehaßt haben, da sein Anblick sie ja stets an Victors Grausamkeit hätte erinnern müssen. Er meinte, darum sei sie vielleicht gestorben, als er noch ein Säugling war; weil sie es nicht ertragen konnte, ihn zu sehen.«

«Großmutter — «

«Ja, Victor Townsend war ein böser und gemeiner Mensch. Er quälte die Menschen in diesem Haus. Und das ist der Grund, warum ich am liebsten kein Wort über ihn verlieren würde. Ich schäme mich genauso wie dein Großvater, mit ihm verwandt zu sein. Genauso, wie du dich schämen solltest.«

Ich sprang aus meinem Sessel und ging zum Fenster. Es war düster geworden, am Himmel war kein Fleckchen Blau mehr zu sehen, und die Spatzen waren fortgeflogen. Aus dunklen Wolken strömte Regen herab und schlug prasselnd gegen die Fensterscheiben.

Diese Fremden, die meine Verwandten waren, hatten Herzlichkeit und Zuneigung von mir erwartet, die ich nicht geben konnte. Jetzt erwarteten sie Verachtung und Abscheu gegen einen meiner Vorfahren von mir, nur weil er in ihrer aller Augen nichts anderes verdiente. Aber auch diese Gefühle konnte ich nicht aufbringen. Das einzige, was ich empfand, war Mitleid mit meinen Großeltern.

Ich drehte mich um und starrte die alte Frau an, die zusammengesunken in ihrem Sessel saß. Merkwürdig. Aus irgendeinem Grund konnte ich diesen Mann, von dem sie mir soviel Schlimmes erzählt, der den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle gemacht hatte, nicht hassen. Warum nicht, fragte ich mich. Meine Großmutter wischte sich die Augen und stand auf. Sie hatte sich rasch wieder gefaßt.»Weinen hat keinen Sinn«, sagte sie.»Das weiß ich aus allzu langer Erfahrung. Weinen ändert nichts. Aber ich möchte nie wieder über dieses Thema sprechen, Andrea. Ich habe dir genug gesagt, zuviel vielleicht. Aber jetzt kennst du wenigstens die Wahrheit.«

Eigentlich hätte ich das akzeptieren müssen, aber es blieb ein nagender Zweifel. Weiß ich sie wirklich? fragte ich mich.

Diesmal erlebte ich die Fahrt zum Krankenhaus anders. Diesmal wußte ich etwas über den Mann, den ich besuchen wollte. Gestern hatte ich einen Sterbenden besucht, der mir fremd war. Heute würde ich den Sohn Victor Townsends besuchen. Das ließ alles in einem anderen Licht erscheinen.

Elsie, mit einer Schachtel Pralinen auf dem Schoß, die ihrem Vater zugedacht war, plauderte unaufhörlich über das Wetter, und Edouard gab hin und wieder seine bestätigenden Kommentare. Ich hockte auf dem Rücksitz und hörte nicht zu. Meine Gedanken kreisten einzig um das lange Gespräch mit meiner Großmutter. Ich betrat das Krankenhaus mit gemischten Gefühlen. Einerseits hätte ich mit meinen Verwandten und ihrer Geschichte am liebsten überhaupt nichts zu tun gehabt und wünschte mich nur nach Hause. Andererseits jedoch fühlte ich mich magisch angezogen von dem Rätsel um die Ereignisse in dem Haus in der George Street und von dem alten Mann, dessen Leben sie bestimmt hatten. Gestern noch hatte er mir nichts bedeutet; heute wußte ich vielleicht mehr über ihn als seine eigenen Kinder. Aus diesem Grund fühlte ich mich ihm in gewisser Weise verbunden; das Wissen über Victor Townsend war das Band zwischen uns.

Wir saßen wie am Tag zuvor auf den hölzernen Klappstühlen rund um das Bett. Mein Großvater war wach und lag hoch in den Kissen. Aber wenn auch seine Augen geöffnet waren, hatte ich doch den Eindruck, daß er uns gar nicht sah. Sein Blick war stumpf und leer.

«Hallo, Dad«, sagte Elsie, während sie die Pralinenschachtel aus der Cellophanhülle schälte.»Schau, ich hab dir Pralinen mitgebracht.“

Mein Großvater verzog die Lippen, als wollte er lächeln.»Möchtest du eine?«fragte sie neckend.

Mein Großvater reagierte nicht. Der Mund blieb verzogen, und ich war mir nicht mehr sicher, ob er wirklich lächelte oder ob dies vielleicht eine Grimasse des Schmerzes war. Elsie schob ihm eine Praline in den eingefallenen Mund, und er begann sofort zu saugen. Letzendlich sind wir wohl alle auf die elementaren Instinkte reduziert, mit denen wir geboren werden.

Es war, als hätte der Kreis sich geschlossen, als wäre mein Großvater wieder zum Säugling geworden.

«Sieh mal, wen wir mitgebracht haben. «Elsies Stimme schallte durch den ganzen Saal.»Andrea! Sie ist extra aus Amerika gekommen. Du hast sie gestern verpaßt, weil du geschlafen hast, als wir hier waren.«

Sein leerer Blick blieb weiter auf Elsie gerichtet, aber dann, als wäre die Neuigkeit plötzlich zu ihm durchgedrungen, wandte er mir sein Gesicht zu. Er lächelte mich an, während er an seiner Praline lutschte, aber dann verfinsterten sich seine Züge schlagartig, und er hörte auf zu suckeln. Mir lief es eiskalt über den Rücken.

Der Ausdruck auf dem Gesicht meines Großvaters war erschreckend. Wer hätte es für möglich gehalten, daß ein so freundliches, infantiles Gesicht solchen Zorn zeigen konnte. Oder war es vielleicht Haß?

«Du bist heute anscheinend nicht gut aufgelegt, Dad«, bemerkte Elsie und griff in die Pralinenschachtel, um ihm noch ein Stück in den Mund zu schieben.

Mit einer so schnellen Bewegung jedoch, daß keiner von uns sie kommen sah, schlug mein Großvater Elsies Hand weg.»Aber Dad!«

Sein Gesicht blieb bitterböse, und die wolkigen Augen, die nichts zu sehen schienen, hielten mich fest.

«Was ist nur in ihn gefahren?«fragte Elsie.»So hab ich ihn noch nie erlebt.«

«Er hält Andrea wahrscheinlich für jemand anderen«, meinte Ed, hob die Praline vom Boden auf, wischte sie ab und schob sie selbst in den Mund.

Ich saß wie erstarrt und versuchte, dem feindseligen Blick meines Großvaters standzuhalten. Erst nach einigen Sekunden gelang es mir, meine Bestürzung abzuschütteln und zu sagen:»Hallo Großvater, du weißt doch, daß ich es bin, nicht wahr? Andrea!«Einen Moment noch blieb der finstere Ausdruck, dann löste er sich, und das Gesicht meines Großvaters entspannte sich wieder.»Ruth?«Stieß er mit zitterndem Kinn und gespitzten Lippen mühsam hervor.»Ach Gott!«rief Elsie.»Er hält dich für deine Mutter. «Dann beugte sie sich über das Bett und sagte laut:»Nicht Ruth, Dad. Das ist Andrea. Deine Enkelin.«

Das Lächeln kehrte zurück.»Ruth! Du bist also wiedergekommen?«

«Dad — «

«Laß doch, Tante Elsie. Für ihn ist Andrea sicher immer noch zwei Jahre alt. Laß ihn doch in dem Glauben, daß ich seine Tochter bin. Schau, wie er lächelt.«

Ich ließ mir nichts davon merken, wie sehr mir diese Szene ans Herz ging. Ich konnte es selbst nicht fassen, daß dieser Mann so starke Gefühle in mir weckte. Ich blickte in sein altes, verbrauchtes Gesicht und dachte an das schreckliche Stigma, mit dem er hatte leben müssen, das Wissen über die Umstände seiner Zeugung und die Angst, daß das böse Erbe Victor Townsends in einem seiner Kinder oder Enkelkinder wiederkehren würde.»Alles ist gut, Großvater«, sagte ich beschwichtigend und tätschelte ihm die Hand.»Es ist alles gut.«

Onkel William wohnte in einem Teil von Warrington namens Padgate. Sein hübsches, modernes Haus stand in einem gepflegten Garten und hatte natürlich, das war das beste, Zentralheizung.

Er selbst, ein großer, kräftiger Mann, korpulent und rotgesichtig, empfing mich mit stürmischer Herzlichkeit. Ohne viel Federlesens nahm er mich in die Arme, küßte mich auf beide Wangen und redete beinahe ebenso viel wie Elsie. May, seine Frau, stämmig wie er, war schlicht gekleidet und trug das graue Haar kurz, weil das am praktischsten war, wie sie sagte. Einfache Menschen, bescheiden und ohne große Ansprüche.

«Andrea! Wie schön!«rief May, als ich in die Küche bugsiert wurde, wo sie am Herd stand.»Du bist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

Wir lachten alle, schälten uns dann aus unseren warmen Sachen und setzten uns ins Wohnzimmer, das weit moderner eingerichtet war als das meiner Großmutter.

«Wie war Dad heute?«fragte William mit vollem Mund, während wir bei Tee und Kuchen saßen.

«Er hat aufgesessen und richtig mit uns geredet, stimmt's, Ed? Und dazu hat er fast eine ganze Schachtel Pralinen vertilgt.«

«Na also! Ich wette, in ein paar Wochen ist er wieder zu Hause. Er brauchte nur ein bißchen Ruhe und Pflege. «William schob ein Törtchen in den Mund, und ich dachte, was für ein gemütlicher, Wohlbehagen ausstrahlender Mann er sei, der Bruder meiner Mutter.

Eine Weile drehte sich das Gespräch um meinen Großvater, dann kam die Fußoperation meiner Mutter an die Reihe, und schließlich wandte man sich, es war unvermeidlich, der Vergangenheit zu. Während William und Elsie in Erinnerungen an die Zeit mit meiner Mutter schwelgten, griff Edouard zur Times, May ging wieder in die Küche, und ich begnügte mich damit, zuzuhören und zu beobachten.

Es war sehr warm in Williams Haus, ganz anders als bei meiner Großmutter. Hier konnte man aus dem Zimmer gehen, ohne im Flur einen Kälteschock zu bekommen. Ich streifte meine Schuhe ab, zog die Beine hoch und machte es mir in meinem Sessel bequem.

Während ich mit halbem Ohr den Gesprächen lauschte, begannen meine Gedanken zu wandern. Ich versuchte nicht, sie zu kontrollieren, sondern ließ sie und die Bilder, die sie mitbrachten, frei durch mich hindurchziehen. Ich sah das Haus in der George Street und dachte flüchtig, wie harmlos es erschien, wenn ich fern von ihm war, wie albern die unheimliche Stimmung, die mich jedes Mal befiel, wenn ich über seine Schwelle trat. Ich dachte über den schlimmen Traum der vergangenen Nacht nach, wie real Angst und Entsetzen da gewesen waren und wie fern und unwirklich sie jetzt schienen. Ich erinnerte mich an den Jungen, der mich durchs Fenster angestarrt hatte, sah wieder sein unverhohlen neugieriges Gesicht vor mir. Zuletzt dachte ich an meinen Großvater und durchlebte noch einmal die erschreckenden Sekunden, als er mich mit finsterem Blick angestarrt hatte. Und ich fragte mich, was er gesehen hatte, als er mich angeblickt hatte.»Andrea!«

«Ja?«

«Sie hat vor sich hin geduselt. Sie ist wohl todmüde.«

«Nein, ich habe nicht — «

«Es ist richtig schön, dich wieder hier zu haben«, sagte William.»Es ist schade, daß deine Mutter nicht auch kommen konnte, aber wenigstens bist du da. Hoffentlich bleibst du noch eine Weile. Läßt sich das mit deiner Arbeit vereinbaren?«Ich versuchte, mir den Börsenmakler vorzustellen, für den ich arbeitete, aber ich konnte mir sein Gesicht nicht ins Gedächtnis rufen.»Ich hatte noch vier Wochen Urlaub, aber wie lange ich hier bleibe, weiß ich noch nicht. «Ich dachte an Doug, aber auch sein Gesicht blieb merkwürdigerweise im Dunkeln. Etwas später setzten wir uns alle zum Essen in die Küche. Zum Kalbsbraten mit Gemüse tischte William einen spanischen Rotwein auf und hielt dann eine kurze Rede zu meinem Empfang.»Und am Wochenende«, rief Elsie, als er zum Schluß gekommen war,»fahren wir alle zu Albert nach Morecambe Bay. Wir müssen doch das Kleine bewundern.«

Sie unterhielten sich ausgiebig über das geplante Familientreffen am kommenden Sonntag, erzählten mir von Albert und Christine, meinem Vetter und meiner Cousine, die ich dort kennenlernen würde, und waren sich einig darin, daß es Großmutter, die kaum je das Haus verließ, guttun würde, wieder einmal hinauszukommen. Und ich dachte dabei, daß es bestimmt auch mir guttun würde, eine Weile der bedrückenden Atmosphäre des Hauses in der George Street zu entkommen.

William wandte sich mir zu und sagte:»Na, Andrea, wie gefällt dir das Leben in Mutters Iglu?«Alle lachten.»Kannst du ihr nicht einen elektrischen Heizofen rüberbringen,

William?«fragte May.»Andrea muß sich doch in dem vorderen Schlafzimmer zu Tode frieren.«

«Nein«, sagte ich und war selbst überrascht.»Ich meine, mir fehlt nichts. Wirklich nicht. Mit meiner Wärmflasche und den dicken Decken fühle ich mich ganz wohl. Wirklich!«

Was redete ich da! Das stimmte doch überhaupt nicht. Ich fühlte mich gräßlich in dem Zimmer und fror wie ein Schneider. Ein elektrischer Heizofen wäre ein wahres Gottesgeschenk gewesen.

Und doch — ich versuchte mir klarzuwerden, warum ich etwas dagegen hatte… der Heizofen gehörte einfach nicht ins Zimmer, das war alles…

«Schläfst du wenigstens gut, Kind?«erkundigte sich May mit mütterlicher Besorgnis.

«O ja. Ich schlafe ausgezeichnet.«

«Das Zimmer war immer schon ekelhaft kalt«, bemerkte William, während er sich noch eine Ladung Kartoffeln nahm.»Aber der Rest des Hauses ist auch nicht viel besser. Trotzdem hab ich mich nie beschwert. Als ihr ausgezogen wart, du und Ruth«, sagte er zu Elsie,»hab ich das vordere Zimmer bekommen, und ich hab mir fast den Hintern abgefroren, aber beklagt hab ich mich nie. Ihr wart immer schon zwei richtige Zimperliesen.«

Ich lächelte, als William mich ansah.

«Zimperliesen, hm?«sagte er zwinkernd.

Ich lachte nur.»Es ist auszuhalten. Wirklich. Die Kälte, meine ich, Es ist ja schließlich auch ein altes Haus, nicht wahr? Kein Wunder, daß man da nachts merkwürdige Dinge hört. Das ist eigentlich der einzige — «

«Was sagst du da? Merkwürdige Dinge? Wovon redest du?«

«Ach, du weißt schon. «Ich spielte mit meiner Gabel.»Mitten in der Nacht wacht man von irgendwelchen komischen Geräuschen auf. Ist dir das nie passiert?«

Er zog die Brauen hoch.»Ich kann mich nicht erinnern. In dem Haus gibt's keine Geräusche. Dazu ist es zu solide gebaut. Ganz im Gegensatz zu den Bruchbuden, die sie heute hochziehen. Vor hundert Jahren hat man noch für die Ewigkeit gebaut. Nein, mich haben nachts nie Geräusche geweckt. Hier, in unserem Haus, da knarrt und knackt es immer irgendwo, nicht wahr, May?«

«Aber ich meine«, fuhr ich hastig fort,»hast du dir nie Gedanken über das Haus gemacht? Hast du nie seltsame Geräusche gehört oder vielleicht — vielleicht etwas Merkwürdiges gesehen? Ich meine, irgend etwas Unerklärliches. «Er starrte mich verständnislos an.

«Was willst du damit sagen, Andrea?«fragte Elsie, während sie sich Wein einschenkte.»Daß es im Haus spukt?«Wieder lachten sie alle — William, Elsie, May. Ed lächelte nur und aß weiter.

«Nein, das meinte ich nicht«, erwiderte ich, obwohl ich genau das gemeint hatte.»Es hätte mich nur interessiert, ob — «

«Hast du denn etwas gesehen, Andrea?«fragte May.»Nein, nein, natürlich nicht. Aber in Los Angeles, wißt ihr, wenn da ein Haus hundert Jahre alt ist, dann — na ja, dann gibt es immer irgendwelche Geschichten über es. Schauermärchen manchmal.«

«Nein, hier ist das nicht so«, sagte William, nahm sich das letzte Stück Braten, leerte die Soße aus der Schale auf seinen Teller und stellte die Schale krachend wieder weg.»Dazu gibt's hier viel zu viele alte Häuser. Wenn da jedes sein eigenes Gespenst hätte — du lieber Schreck! Wenn du Spukgeschichten nach Amerika mitnehmen willst, mußt du nach Penketh fahren. Hier in der Gegend können wir mit so was nicht dienen. Wir haben keine Zeit für Gespenster.«

Elsie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah mich über den Tisch hinweg an.»Enttäuscht, Andrea?«

«Ach wo! Keine Spur. Ich war nur neugierig.«

«Die Amerikaner haben komische Vorstellungen von England, hm?«meinte William.»Als lebten wir alle in Gruselhäusern. Tut mir leid, Kind, keine Geister weit und breit. Denen ist es hier viel zu kalt. «Er lachte dröhnend, und ich wünschte, ich hätte das Thema nicht aufs Tapet gebracht.

«An unserem alten Haus ist nichts Geheimnisvolles, nicht wahr, Elsie?«sagte er, wieder ernst werdend.»Ich bin 1922 in dem Haus geboren und habe fast bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr dort gelebt. Nicht ein einziges Mal habe ich was Ungewöhnliches gesehen oder gehört. Es war immer ein angenehm ruhiges Haus. Gut gebaut. Solide. Nicht wie diese windigen Dinger von heute. Christine spart schon eifrig, um sich irgendwann mal eines von diesen alten Häusern draußen in…«

Ich zog mich aus dem Gespräch zurück. Schweigend stocherte ich in meinem Essen. Ich war irritiert und enttäuscht. Ich hatte gehofft, meine unheimlichen Erlebnisse in dem alten Haus wären nichts Neues, und meine Verwandten könnten von ähnlichen Begebenheiten erzählen. Aber sie hatten nichts zu erzählen. Gar nichts.

Nach dem Essen, bevor William und May zum gewohnten Besuch im Krankenhaus aufbrachen, beschloß ich, meine Mutter anzurufen. Meine Verwandten waren sofort begeistert von der Idee und drängten sich begierig um mich, sobald das angemeldete Gespräch durchkam. Es war mir unmöglich, ein privates Wort mit meiner Mutter zu sprechen.

Jeder wollte einmal an den Apparat, um ihr guten Tag zu sagen, und als wir schließlich den Hörer auflegten, hatte ich nichts Wesentliches mit meiner Mutter gesprochen. Ich fühlte mich betrogen. So vieles hatte ich ihr sagen, so vieles hatte ich sie fragen wollen, aber ich war nur eben dazu gekommen, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ein wenig von meinem Großvater und dem Alltag bei meiner Großmutter zu berichten und ihr dann zu sagen, daß hier vier Leute Schlange stehen, um mit ihr zu sprechen.

William und May setzten mich auf der Fahrt zum Krankenhaus in der George Street ab. Sie kamen noch einen Moment mit ins Haus, um sich zu vergewissern, daß Großmutter sich wohl fühlte, und ihr zu erzählen, wie nett das Familienessen gewesen war, wie schade, daß sie nicht dabei gewesen war. Und während sie schwatzten, machte ich mir Vorwürfe, daß ich mich, kaum waren wir durch die Tür getreten, wieder von der Atmosphäre des Hauses hatte einfangen lassen. Ich sollte mehr um das Befinden meines Großvaters besorgt sein, hielt ich mir vor, anstatt mich auf diese morbide Weise von dem Haus besetzen zu lassen. Um neun, als wir beide wieder vor dem Kamin saßen, in dem das Gasfeuer brannte, schaltete Großmutter das Radio ein, um sich die von ihr so geliebte >Stunde schottischer Musik< anzuhören. Ungefähr fünf Minuten, nachdem die Dudelsäcke zu wimmern angefangen hatten, ging es wieder los.

Wir lehnten beide bequem in unseren Sesseln und hörten schweigend der Musik zu, als mir auffiel, daß die Uhr zu ticken aufgehört hatte.

Ich starrte sie an wie hypnotisiert.

Wie aus weiter Ferne vernahm ich dann die Klänge eines schlecht gestimmten Klaviers — wieder war es die Melodie von >Für Elise<, diesmal jedoch wurde sie von geübterer Hand gespielt als zwei Abende zuvor.

Ich drehte den Kopf und sah meine Großmutter an. Sie lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel und summte leise das Lied der Dudelsäcke mit. Der Moment schien eine Ewigkeit anzudauern, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen und wir in einem Raum zwischen zwei Wirklichkeiten gefangen. Ich starrte meine Großmutter ungläubig an. Wie war es möglich, daß sie das Klavierspiel nicht hörte!

Mir wurde heiß im Gesicht. Das Zimmer schien immer enger zu werden. Ich bekam Angst, als mir klar wurde, was geschah.»Großmutter!«Sie öffnete die Augen nicht.

Das Klavierspiel wurde lauter. Es war jetzt sehr nah und umgab mich von allen Seiten. Das Pfeifen der Dudelsäcke rückte immer weiter in den Hintergrund.

«Großmutter…«

Endlich blickte sie auf.»Was ist denn, Kind?«In dem Moment, als sie die Augen öffnete, brach das Klavierspiel ab. Ich sah zur Uhr hinauf. Sie tickte wieder.»Ich bin wahnsinnig müde, Großmutter. «Ich rieb mir mit beiden Händen das Gesicht.»Macht es dir was aus, wenn ich zu Bett gehe?«

«Aber gar nicht. Wie gedankenlos von mir, dich wachzuhalten. «Sie griff nach ihrem Stock und wollte aufstehen.»Bleib sitzen, Großmutter. Du brauchst nicht aufzustehen.«

«Na hör mal? Ich werd doch nicht hier unten sitzen bleiben, wenn du schlafen willst.«

«Wieso — «

«Dein Nachthemd und dein Morgenrock liegen schon unter dem Kissen. Ich wollte nicht, daß du erst wieder durchs kalte Treppenhaus nach oben mußt.«

Verwirrt blickte ich zum Sofa hinüber und sah, daß Kissen und Decken schon bereit lagen. Jetzt verstand ich, was sie meinte.»Ich soll heute nacht hier unten schlafen?«

«Aber sicher. Du hast es hier so schön warm gehabt und so gut geschlafen, warum sollst du da wieder in das kalte Zimmer hinauf?«

«Ach, aber — «Ich wollte nicht hier unten schlafen, ich verstand es selbst nicht. Ich wollte wieder hinauf ins Vorderzimmer. Ich hätte mich fragen sollen, was hinter diesem widersinnigen Wunsch, oben zu schlafen, steckte, aber ich tat es nicht, sondern versuchte nur stockend, meiner Großmutter eine Erklärung zu geben.»Das war gestern nacht was anderes«, sagte ich.»Da hatte ich einen Alptraum. Das passiert heute nacht bestimmt nicht wieder. Wirklich, Großmutter, ich fühl mich wohl da oben — «

«Gib dir keine Mühe, Kind. Ich weiß, es ist meine Schuld. Ich hab dir ständig vorgejammert, wie teuer das Gas ist und wie sparsam wir mit Gas und Strom umgehen müssen, und jetzt kannst du es nicht einmal genießen, hier unten in der Wärme zu schlafen. Aber ich sage dir, kümmre dich nicht um mein Genörgel. Wir lassen die Gasheizung an, solange du hier bist, und basta. Gute Nacht, Kind.«

Damit tappte sie auf ihren Stock gestützt aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Ich ließ mich aufs Sofa fallen. Was war das nun wieder gewesen? Warum hatte ich ihrem gutgemeinten Vorschlag widersprochen, obwohl ich ihr bei klarer Überlegung beipflichten mußte, daß hier unten der behaglichste Schlafplatz für mich war? Irgend etwas, eine Kraft, die etwas Verborgenes in mir ansprach, zog mich nach oben. Es war beinahe so gewesen, als wollte diese Kraft mich zwingen, gegen meinen Willen zu handeln.

Ich hob den Kopf und sah mich im Zimmer um. Ein ganz gewöhnliches Zimmer, vertraut schon und gemütlich. Warum konnte ich mich dann nicht entspannen? Zwei Tage war ich jetzt hier, da mußte ich die Zeitverschiebung doch verarbeitet, mich an meine neue Umgebung gewöhnt haben. Aber das unheimliche Gefühl, das mich beim ersten Betreten des Hauses überfallen hatte, war nicht, wie ich erwartet hätte, abgeflaut; im Gegenteil, es war stärker geworden.

Und das Klavierspiel. Es war klar, daß meine Großmutter es nicht gehört hatte. Wieso nicht? Woher war es gekommen? Konnte nur ich es hören? Aber wieso? Wie kam es, daß keiner meiner Verwandten je etwas Ungewöhnliches in diesem Haus erlebt hatte? Warum nur ich allein? Hatte ich diese seltsamen Geschehnisse vielleicht durch mein Kommen ausgelöst? Hatte ich etwas an mir, das die Geister dieses Hauses um ihre Ruhe brachte? Mit einem Ruck hob ich den Kopf zur Zimmerdecke. Was war das für ein Geräusch? Ohne den Blick von der Decke zu wenden, stand ich langsam auf und lauschte angestrengt in die Stille. Es klang, als weinte eine Frau.»Großmutter?«flüsterte ich.

Ich vergaß mein eigenes Dilemma und rannte, tief besorgt um meine Großmutter, aus dem Zimmer in den finsteren Flur.

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