Kapitel 11

Ich saß auf dem Sofa und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Regens, als mir plötzlich bewußt wurde, daß die Uhr auf dem Kaminsims nicht mehr tickte. Es war gerade Mitternacht. Und schon begann das Zimmer um mich herum, sich zu verändern. Es ging sachte und allmählich vor sich, wie die Überblendung von einer Filmszene in eine andere, und es wurde kühler im Raum. Das bunte Blumenmuster der beiden Sessel begann sich zu verwischen, dann zeigte sich der warme Schimmer grünen Samts, und ich hatte die Sessel vor mir, die im Jahr 1890 genau an diesem Platz gestanden hatten — fast neu, die Bezüge kaum abgenutzt, die Polsterung noch fest und stabil.

In einem der Sessel saß Harriet. Sie schien wieder einen ihrer geheimen Briefe zu schreiben. Die Feder flog schnell über das Papier, das sie auf ihrem Schoß hielt. Wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, blickte sie immer wieder zur Uhr, hob ab und zu lauschend den Kopf, als hätte sie draußen etwas gehört, und schrieb dann hastig weiter.

Ich hätte gern gewußt, wer der Empfänger dieser Briefe war, warum Harriet sie in solcher Hast schrieb, warum sie Angst hatte, beim Schreiben ertappt zu werden. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihr über die Schulter geblickt, aber das wagte ich nicht. Ich fürchtete, eine Bewegung von mir könnte diesen zerbrechlichen Moment auslöschen. Darum blieb ich reglos auf dem Sofa sitzen und begnügte mich damit, Harriet zu betrachten. Es war still im Zimmer, nur das Kratzen der Feder auf dem Papier war zu hören und von draußen, jenseits der geschlossenen Vorhänge, das Rauschen des Regens. Im offenen Kamin verglühten die letzten Reste des abendlichen Feuers. Ein Blick auf die viktorianische Uhr auf dem Kaminsims zeigte mir, daß es auch in Harriets Zeit Mitternacht war. Es war anzunehmen, daß der Rest der Familie bereits zu Bett gegangen war. Harriets Eltern schliefen wahrscheinlich im hinteren Schlafzimmer, John und seine junge Frau hatten vermutlich das Vorderzimmer bezogen. Das hieß, daß Harriet sich mit einem Provisorium entweder in diesem Zimmer oder im Salon begnügen mußte, bis das junge Paar in sein eigenes Heim umzog. Es würde, dachte ich, gewiß nicht mehr lang dauern, bis John und Jennifer ihren eigenen Hausstand gründeten. Als mir einfiel, daß zu dieser Vermutung eigentlich kein Anlaß bestand, da John und Jennifer ja noch hier lebten, wurde mir klar, daß ich irgendwie Harriets Gedanken empfangen mußte. Vielleicht schrieb sie darüber gerade in ihrem Brief, beschwerte sich vielleicht über diesen Zustand — so jedenfalls war der Eindruck, den ich erhielt. Ich konnte zwar nicht gerade ihre Gedanken lesen, doch ihre Stimmung teilte sich mir deutlich mit. Genauso war es mir ja schon mit Victor und seinem Vater und später auch mit Jennifer ergangen.

Ich beobachtete Harriet gespannt, und während ihre Feder noch wie gejagt über das Papier flog, begann sie langsam vor meinen Augen zu verblassen, bis sie und die grünen Samtsessel verschwunden waren und wieder die alten ausgesessenen Sessel mit den geblümten Schonbezügen vor mir standen. Ich war enttäuscht über die Kürze der Szene und noch enttäuschter, Victor nicht gesehen zu haben. Aber er lebte ja nun nicht mehr in diesem Haus und besuchte es vermutlich nur selten. Aber wo war er? Hatte er sich irgendwo eine Wohnung genommen oder ein Zimmer, oder lebte er immer noch im Gasthaus Horse's Head? Nichts an Harriets kurzem Auftritt hatte mir einen Hinweis darauf gegeben, wieviel Zeit seit Victors Heimkehr verstrichen war. Ich hatte keine Ahnung, was sich inzwischen ereignet hatte, ob er sich überhaupt noch in Warrington aufhielt. Noch eine andere Frage beschäftigte mich. Wozu war Harriet mir soeben gezeigt worden? Welchen Sinn hatte es, wenn überhaupt einen, mich Zeugin dieser flüchtigen Szene werden zu lassen? Ich kam nicht dazu, gründlicher über diese Frage nachzudenken; im nächsten Augenblick hörte ich einen schrecklichen Schrei. Ich sprang auf. Der Schrei hatte mich so überrascht, daß ich nicht wußte, aus welcher Richtung er gekommen war. Dann polterte es laut, als wäre ein Möbelstück umgestürzt. Ich sah zur Zimmerdecke hinauf. Die Geräusche kamen von oben. Ich hörte Füßescharren und Stampfen, als würde da oben ein Kampf ausgetragen. Es krachte und polterte, und wieder schallte ein Schrei durch das Haus.

Der Schrei einer Frau. Ohne weitere Überlegung stürzte ich aus dem Wohnzimmer in den Flur. Ich blickte in die Schwärze des Treppenschachts hinauf und horchte angespannt.

Wieder drangen von oben die Geräusche eines Handgemenges zu mir herunter. Ich hörte das gedämpfte Klatschen eines Schlags, danach wieder ein Krachen. Und wieder schrie die Frau auf, mit einer Stimme, die schrill war vor Angst.

Ich verlor keine Zeit. Obwohl ich nicht die Hand vor den Augen sehen konnte, rannte ich stolpernd die Treppe hinauf. Zweimal fiel ich, die letzten paar Stufen kroch ich auf allen vieren hinauf. Oben angekommen, richtete ich mich auf und lehnte mich keuchend an die Wand.

Die Finsternis und die Stille waren bedrohlich. Ich tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, fand ihn und drückte ihn herunter. Aber es geschah nichts. Es blieb stockfinster. Wie eine Besessene fummelte ich am Schalter herum und suchte gleichzeitig mit fassungslosem Blick an der dunklen Decke nach der Lampe. Ich sah nichts, und das Licht ging nicht an. Ich war von undurchdringlicher Schwärze umgeben, die mir angst machte, so daß ich mich schutzsuchend an die Wand drückte. Während ich so stand, zu geängstigt, um einen Schritt vorwärts zu wagen, hörte ich wieder die Geräusche eines Kampfes, lauter jetzt. Irgendwo am Ende des Flurs, vielleicht im vorderen Schlafzimmer, rangen ein Mann und eine Frau miteinander — dumpfe Schläge, Poltern, eine wütende Männerstimme, und immer wieder die Schreie und das Wimmern der Frau.

Die Finsternis war so dicht, daß ich das Gefühl hatte, am Eingang einer unermeßlich großen Höhle zu stehen. Obwohl mir vor Angst eiskalt war, trieb es mich jetzt vorwärts. Ich mußte sehen, was sich dort hinten abspielte. Ein fremder Wille ergriff Besitz von mir und lenkte meine Schritte. Wie eine Schlafwandlerin tappte ich durch den finsteren Flur, den schrecklichen Geräuschen entgegen. Dicht vor der Tür zum Vorderzimmer blieb ich stehen und hob den Arm. Meine Hand berührte das harte, kalte Holz der Tür. Die Stimmen aus dem Zimmer waren jetzt deutlich vernehmbar.»Nein, bitte nicht«, wimmerte Harriet.»Bitte, es tut mir leid… tu's nicht…«

Ich drückte die Augen zu und preßte beide Hände auf die Ohren, aber sie konnten mich vor der erregten Stimme des Mannes nicht schützen.»Du heiratest keinen Papisten!«donnerte er.»Du wirst es nicht wagen, gegen meinen Willen zu handeln. «Angstvoll und verwirrt sah ich mich in der Dunkelheit um und versuchte zu begreifen, was vorging. Harriets Stimme konnte ich klar erkennen, doch die Männerstimme konnte ich nicht identifizieren. Sie konnte Harriets Vater gehören. Oder John. Oder — Victor.

«Aber ich liebe ihn«, stieß Harriet weinend hervor. Wieder klatschte ein Schlag, wieder schrie Harriet auf. Die Spannung war kaum zu ertragen, und dennoch konnte ich mich nicht vom Fleck rühren. Es war, als wäre ich dazu verdammt, ihren Streit mitanzuhören, ohne eingreifen zu können.»Du wirst diesen Sean O'Hanrahan nicht wiedersehen, und damit Schluß. Wir haben dir den Umgang mit diesen Leuten verboten. Wehe, ich erwische dich noch einmal dabei, daß du diesem Burschen Briefe schreibst! Bei Gott, du wirst wünschen, du wärst tot!«

Ich hörte ein Geräusch, als würde etwas über den Boden geschleift. Ich hörte schwere Schritte und das Keuchen heftiger Anstrengung. Harriet wimmerte und weinte zum Gotterbarmen. Aber ich hörte keine Schläge mehr, kein Poltern, keine Schreie. Dann wurde es einen Moment ganz still. Danach klappte eine Tür zu, ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloß. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Vorderzimmer unter meiner Hand, und kalter Wind blies mir ins Gesicht. Das Zimmer war wie damals, als ich Harriet schluchzend auf dem Bett hatte liegen sehen, von einem gespenstischen Licht erfüllt. Diesmal jedoch strahlte das Licht nicht auf das Bett, sondern auf den Kleiderschrank, einem Leitlicht in dunkler Nacht gleich. Ich blickte mit weit aufgerissenen Augen in das Licht, von einem Grauen erfaßt, das ich nun schon kannte. Ich wollte nicht in das Zimmer hineingehen. Ich wollte nur kehrtmachen und davonlaufen, die Treppe hinunterstürzen und schreiend in die

Nacht fliehen. Die lauernden Schatten im Zimmer, der grabeskühle Luftzug — das alles hatte etwas Unirdisches. Auf der anderen Seite der Tür wartete das Grauen, und ich wurde hineingezogen. Wie in einer Trance und dennoch hellwach ging ich Schritt für Schritt zum Kleiderschrank, und als ich vor ihm stehenblieb, sah ich, wie neu er war, wie glänzend poliert das Holz, wie klar erkennbar seine Maserung. Es war der Kl ei der schrank einer längst vergangenen Zeit, und in ihm hingen nicht, das wußte ich, meine alten Blue Jeans und T-Shirts, sondern das grausige Werk eines Tyrannen, der lang unter der Erde lag.

Ich hatte keine Macht über meine Hand, als diese sich zur Schranktür bewegte. Mein ganzer Körper war in Schweiß gebadet, der mir eiskalt über die Haut rann. Mein Atem war flach und hechelnd; ich spürte das Flattern meines Herzens. Solches Grauen hatte ich nie erlebt. In diesem Kleiderschrank wartete etwas auf mich. Aus irgendeinem Grund senkte ich den Blick zu meinen Füßen und gewahrte auf dem leuchtenden Teppich des Jahres 1891 einige hellrote Tropfen frischen Bluts. In einem dünnen Rinnsal führten sie zum Schrank, und der letzte Tropfen haftete an seinem Sockel, wie im letzten Moment gefallen, bevor die Tür zugeschlagen worden war.

Hatte man Harriet in diesen Schrank eingesperrt? Oder war es nicht Harriet, die in diesem Schrank saß, sondern jemand anderer? Oder — etwas anderes?

Der unheimliche Sog des Schranks, den ich schon in meiner ersten Nacht in diesem Zimmer gespürt hatte, ließ nicht nach. Ich zitterte am ganzen Körper, ich hatte völlig die Herrschaft über mich selbst verloren. Ich mußte den Arm heben und die Schranktür öffnen. Ich mußte sehen, was sich darin verbarg. Und während meine Hand sich gegen meinen Willen hob — als stünde ich unter dem Zwang einer fremden Macht —, während Übelkeit in mir aufstieg und mich fast erstickte, dachte ich gleichzeitig, ich werde gezwungen, dieses Ding zu befreien. Obwohl meine Hand unkontrollierbar zitterte, gelang es mir, den Schlüssel zu umfassen, der in dem kleinen Messingschloß steckte, und ich sah, wie weiß meine Finger waren, die ihn fest umspannten. Dann drehte meine Hand, so sehr ich mich dagegen zu wehren versuchte, langsam den Schlüssel nach rechts, bis ich ein metallisches Knacken hörte. Langsam schwang die Schranktür auf.

Mir war so schwach und übel, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Eine kalte, feuchte Hand berührte mein Gesicht und spürte dort den kalten Schweiß. Meine Hand, die jemand anderem zu gehören, die völlig körperlos zu sein schien, strich mir über Stirn und Nacken. Der Schrank mit der sich Zentimeter um Zentimeter öffnenden Tür begann vor meinem Blicken zu schwanken und drohte zu kippen; der Boden unter meinen Füßen hob und senkte sich in Wellenbewegungen, und das geisterhafte Licht begann jetzt zu verblassen.

Noch während die fransigen Ränder der Dunkelheit näherrückten, um mich einzuhüllen, gewahrte ich hinter der Schranktür etwas Weißes, dann fiel die Finsternis wie ein schwarzer Sack über meine Augen.

Als ich zu mir kam, lag ich im Vorderzimmer auf dem Boden. Am Kopf hatte ich eine schmerzende Beule. Benommen öffnete ich die Augen und sah, daß die Lampe im Flur brannte. Sie verströmte genug Licht, um das Zimmer aus dem Dunkel zu heben. Seitlich von mir stand groß und massig der alte Kleiderschrank. Eine Tür war offen. Ich konnte meine Jeans und T-Shirts erkennen, die auf den Bügeln hingen. Der Teppich unter mir war alt und fadenscheinig und roch muffig.

Ich wußte nicht, wie lange ich hier gelegen hatte, aber als ich mich aufrichtete, merkte ich, daß meine Glieder völlig steif waren. Mit schmerzendem Kopf und schmerzendem Rücken schleppte ich mich aus dem Zimmer in den Flur. An der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus Großmutters Zimmer kam kein Laut. Ich war froh, daß ich sie nicht geweckt hatte. Ich ließ das obere Licht brennen und kroch langsam die Treppe hinunter. Mit großer Erleichterung rettete ich mich in die helle Vertrautheit des Wohnzimmers.

Ich wußte, wo im Büffet Großmutter ihre Kopfschmerztabletten aufbewahrte, und holte mir drei heraus. In der Küche ließ ich mir ein Glas Wasser einlaufen, nahm die

Tabletten und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ich sperrte die Küchentür wieder ab, schob die Polsterrolle vor die Ritze und setzte mich auf die Couch. Der Uhr zufolge hatte mein nächtliches Abenteuer drei Stunden gedauert. Das hieß, daß ich mindestens zwei davon bewußtlos gewesen war.

Und was war eigentlich geschehen? Ich versuchte, mich des Dialogs zu erinnern, wenn man es als solchen bezeichnen konnte, den ich im Vorderzimmer gehört hatte. Einer der Männer der Townsend-Familie hatte Harriet auf brutale Weise terrorisiert. Und warum? Weil sie einen Mann liebte, der der Familie nicht paßte?

Ich neigte mich vornüber und legte meinen Kopf in meine Hände. Wie grausam, einen Menschen zu lieben, dessen Liebe einem für immer verwehrt bleiben mußte! Sie tat mir entsetzlich leid. Sachte wiegte ich mich hin und her, während draußen der Regen gegen die Scheiben trommelte, und beklagte Harriets Schicksal. So ein unschuldiges Ding, dachte ich, so kindlich und naiv. Was würde aus ihr werden? Was wartete noch an Schmerz und Unglück auf sie? Erst Victor und jetzt Harriet. War es möglich, daß in der Tat Schreckliches sich in diesem Haus zugetragen hatte, daß Großmutter recht hatte? War dies vielleicht der Beginn des Schreckens, ein Vorgeschmack gewissermaßen auf das, was noch kommen würde?

Ich streckte mich vorsichtig auf dem Sofa aus, den Kopf auf die Seite gelagert und starrte in die Dunkelheit. Es war genau wie in der vergangenen Nacht: Gedankenströme stürzten auf mich ein, und Schlaf blieb mir verwehrt. Das Haus in der George Street hatte mich in seiner Gewalt und würde mich erst loslassen, wenn es mit mir fertig war. Ihm hilflos ausgeliefert, lag ich auf dem Sofa in qualvoller Erwartung der nächsten Erscheinung aus der Vergangenheit.

Irgendwann mußte ich dennoch eingeschlafen sein. Am Morgen weckte mich meine Großmutter, die ins Zimmer kam, die Vorhänge aufzog und sich laut über den strömenden Regen aufregte. Wie am vergangenen Morgen war ich im Nachthemd, und meine Sachen lagen ordentlich gefaltet auf einem Stuhl.»Du scheinst sehr gut geschlafen zu haben, Kind«, bemerkte Großmutter mit müder Stimme.»Ich hab jedenfalls die ganze Nacht keinen Mucks von dir gehört, obwohl ich vor Schmerzen kaum ein Auge zugetan hab. Bei diesem verflixten Regen setzt mir die Arthritis immer teuflisch zu.«

Ich setzte mich langsam auf. Die Beule an meinem Hinterkopf pochte schmerzhaft.

«Sind deine Beine ein bißchen besser?«Großmutter ging im Zimmer umher, als wollte sie es für den Tag wecken. Sie zog die Vorhänge auf, öffnete die Küchentür, legte die Sets auf den kleinen Eßtisch und sah schließlich nach dem Heizofen.»Er ist ja schon wieder aus!«rief sie entrüstet.»Was ist denn nur los mit dem verdammten Ding? Ich muß den Gasmann holen, der soll sich den Ofen mal ansehen. Das ist noch nie passiert, daß er immer wieder ausgeht.«

Ohne etwas zu sagen, nahm ich meine Sachen und ging zur Tür. Als ich sie aufzog, um hinauszugehen, hörte ich meine Großmutter sagen:»Der Besuch im Krankenhaus fällt heute aus. Der Regen spült einen ja von der Straße.«

Zu benommen, um etwas zu entgegnen, trat ich in den Flur und stieg die Treppe hinauf. Im Badezimmer, wo es so kalt war, daß meine Lippen, wie ich im Spiegel sah, sich blau verfärbten, wusch ich mich von oben bis unten mit eisigem Wasser und frottierte mich langsam trocken. Die Kälte machte mir überhaupt nichts mehr aus. Ich hatte mich an sie gewöhnt.

Als ich im Bad fertig war, blieb ich draußen vor der Tür stehen und blickte durch den dämmrigen Flur zur Tür des vorderen Schlafzimmers. Erinnerungen an das Grauen der Nacht überfielen mich, und ich schlang fröstelnd beide Arme fest um meinen Oberkörper.

Auf bleiernen Füßen tappte ich durch den Korridor nach hinten. Von unten, wie aus unerreichbarer Ferne, hörte ich Großmutter vergnügt vor sich hin trällern. Sie lebte in einer anderen Zeit. Vor der Tür des Schlafzimmers angekommen, blieb ich stehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und mein Mund war trocken. Den Blick auf die Tür gerichtet, lauschte ich angespannt. Auf der anderen Seite war alles still. Schließlich drehte ich entschlossen den Türknauf und stieß die Tür auf.

Das Zimmer zeigte sich mir in beruhigender Alltäglichkeit. Trotz des starken Regens fiel durch das Fenster hinter den halbgeöffneten Vorhängen genug graues Morgenlicht herein, um es in nüchterner Klarheit auszuleuchten. Da lag mein Koffer, da standen das Bett und der kleine Nachttisch, unter meinen Füßen lag der fadenscheinige Teppich, und da war der schäbige alte Kleiderschrank. Zu ihm ging ich hin und blieb vor der offenen Tür stehen.

Meine Blue Jeans hingen da und meine T-Shirts. Auf dem Boden lagen ein paar Flusen, Zeugnis dafür, daß der Schrank jahrelang leergestanden hatte. Und das war alles. Kein Hinweis darauf, was eines späten Abends im Jahr 1891 in diesen Schrank eingesperrt worden war und wie lange es dort eingeschlossen geblieben war. Ich hatte es plötzlich eilig, aus dem Zimmer hinauszukommen, die Gesellschaft meiner Großmutter zu suchen. Ich warf meine Sachen kurzerhand aufs Bett, lief hinaus und schlug krachend die Tür hinter mir zu.

Als ich unten ankam, sah ich, daß die Tür zum alten Salon offenstand. Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte auf die offene Tür. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Und in welchem Jahr befinden wir uns jetzt? fragte ich mich in angstvoller Verwirrung.

Unschlüssigkeit lahmte mich. Ich sehnte mich nach der vertrauten, schäbigen Gemütlichkeit des Wohnzimmers, aber ich wußte, wenn im Salon die Vergangenheit wieder zum Leben erwacht war, mußte ich mich ihr stellen. Ich hörte ein Geräusch und erschrak fast zu Tode. Dann aber holte ich tief Atem und ging zögernd ein paar Schritte in den dunklen Salon hinein. Irgend jemand — oder etwas — bewegte sich hier drinnen. Wieder blieb ich stehen, versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, und sah, vage und undeutlich, eine Gestalt. Alle meine Sinne aufs äußerste angespannt, versuchte ich, die Atmosphäre um mich herum aufzunehmen, um erkennen zu können, in welcher Zeit ich mich befand.

Ein weißes Gesicht tauchte plötzlich vor mir auf. Ich schrie unterdrückt auf und wich einen Schritt zurück.

«Viel zu kalt hier drinnen für dich, Kind«, sagte meine Großmutter, schob mich vor sich her aus dem Zimmer und machte die Tür zu.»Geh lieber ins Wohnzimmer, wo es warm ist. Komm.«

«Was hast du da drinnen getan, Großmutter?«Gekrümmt humpelte sie vor mir her.»Ach, ich hab nur ein bißchen aufgeräumt. Komm, der Tee ist fertig.«

Während Großmutter in der Küche verschwand, setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz am kleinen Eßtisch, den sie schon für uns gedeckt hatte. Da standen eine große Kanne mit dampfendem Tee, eine Schale Butter, mehrere Gläser Marmelade, die Zuckerdose und ein Krug warme Milch. Schon beim Anblick all dieser Dinge wurde mir übel. Hastig drehte ich den Kopf zum Fenster.

Der kleine Hintergarten war im strömenden Regen kaum zu erkennen. Die Backsteinmauer mit der verrosteten Pforte war nur eine verschwommene Kulisse vor den Gießbächen, die an den Fensterscheiben herunterrannen. Nur undeutlich konnte ich die dürren Rosenbüsche sehen, die sich im peitschenden Wind neigten. Eine abschreckende, kalte Welt war das dort draußen.»So, Kind, hier sind die Brötchen. Noch richtig schön warm. «Der schwere Geruch der Buttermilchbrötchen war mir widerlich. Hastig wandte ich mich wieder ab. Ich konnte an diesem Morgen nichts essen. Selbst der Tee lockte mich nicht.»Was ist los, Kind? Fühlst du dich nicht wohl?«

«Du hast wahrscheinlich doch recht gehabt, Großmutter, ich habe anscheinend die Grippe erwischt. Ich fühle mich ziemlich flau. «Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt, wieder in den Regen hinaus. Was um alles in der Welt, war gestern nacht in dem Schrank gewesen?

«Ja, du bist auch sehr blaß. Trink wenigstens deinen Tee, Kind. Der tut dir bestimmt gut. «Sie drückte mir die Tasse in die Hand.»Komm, Kind, trink.«

Ich trank ihr zuliebe ein wenig Tee, aber es kostete mich Anstrengung, ihn hinunterzuwürgen. Mein Magen rebellierte bei dem Gedanken an Essen oder Trinken. Und während ich zum Fenster hinausstarrte in den Regen, dachte ich, so regnet es auch in meiner Seele.

Schweigend saßen wir uns gegenüber. Großmutter bestrich sich ein Brötchen mit Butter und aß es bedächtig. Ich lauschte dem Ticken der Uhr und dem unerträglich langsamen Verstreichen der Zeit.

Ein Klopfen an der Haustür schreckte mich auf. Großmutter stand mühsam auf und humpelte aus dem Zimmer. Ich hörte die Stimmen Elsies und Eds.

«Mistwetter!«schimpfte Elsie, als sie hereinkam und sich schüttelte wie ein Hund. Nachdem sie sich aus ihren dicken Sachen geschält und die Gummistiefel ausgezogen hatte, stellte sie sich mit dem Rücken vor den Kamin und lupfte ihren Rock.»Hallo, Andrea«, sagte sie zu mir.»Wie geht's dir denn heute morgen?«

«Hallo, Elsie — «

«Herrgott noch mal, bist du blaß! Hast du nicht gut geschlafen? Ist es dir hier nachts zu kalt? Schau dich doch an, du hast ja kaum was auf dem Leib.«

Ich blickte auf mein T-Shirt hinunter, dann zu Elsie hinüber, die über ihrem Rolli noch einen dicken Wollpullover trug. Dennoch fror sie und rieb sich fröstelnd die Hände.»Nein, mir ist nicht kalt.«

«Der Heizofen geht dauernd aus«, bemerkte Großmutter, die hinter Ed ins Zimmer kam.»Ich muß den Gasmann kommen lassen. Hier, trinkt eine Tasse Tee. Ich hab genug da. Ach, Andrea, du hast deinen ja kaum angerührt.«

«Das ist schon die zweite Tasse, Großmutter«, log ich.»Ich hab mir noch mal eingeschenkt, als du rausgegangen bist. «Sie tätschelte mir die Hand.»Das ist gut.«

«Sie sieht wirklich nicht gut aus, Mama«, bemerkte Elsie, als sie sich zu uns an den Tisch setzte, während Ed, nachdem er sich Tee eingeschenkt hatte, zum Kamin hinüberging. Ich beobachtete ihn verstohlen. Ich hatte Angst, er würde das Gas höher drehen.»Ach, aber mir geht's wirklich ganz gut. Kann ich heute mit euch ins Krankenhaus fahren?«

«Bestimmt nicht. Wir wissen selbst noch nicht, ob wir überhaupt hinfahren. Dieser Regen ist schrecklich! — Kann ich ein Brötchen haben, Mama? Danke. Die Straßen sind wie leergefegt. Der Regen prasselt nur so. Schaut doch.«

Großmutter und ich wandten uns zum Fenster.»Ich komm mir vor wie in einem Goldfischglas«, erklärte Großmutter.»Wie sieht's denn mit morgen aus? Glaubst du, wir können fahren?«

«Wenn das so weitergeht, wird's vielleicht nichts werden. «Ich hob fragend den Kopf.»Fahren? Wohin denn?«

«Na, zu Albert. Du weißt doch.«

«Ist morgen Sonntag?«

«Logischerweise, da heute Samstag ist.«

Das hieß, daß ich schon eine volle Woche hier war. Eine ganze Woche war vergangen, und mir war es kaum bewußt geworden. Einerseits kam es mir vor, als wäre ich gerade erst angekommen, andererseits, als wäre ich schon seit Jahren hier.»Ann kommt extra aus Amsterdam. Sie möchte Andrea so gern kennenlernen.«

Großmutter stand auf und ging zum Büffet, um das gerahmte Foto ihrer drei anderen Enkel zu holen — Albert, Christine und Ann. Sie setzte sich wieder zu uns und hielt mir die Aufnahme hin.»Das war vor zwei Jahren«, sagte sie,»als…«Ich blendete ihre Stimme aus, und das Bild verschwamm vor meinem Blick. Diese Menschen interessierten mich nicht. Ich hatte nichts mit ihnen gemeinsam, verspürte keinerlei Verlangen, sie kennenzulernen. Die anderen waren es, meine Vorfahren, zu denen ich mir Kontakt wünschte.

Abgerissene Worte drangen zu mir durch, während Großmutter und Elsie auf mich einredeten. Etwas von einem Häuschen an der Irischen See; von breiten Stranden; von Piers mit Restaurants und Tanzlokalen; von abendlicher Festbeleuchtung. Ich sah die beiden an und fragte mich, wie ich einen ganzen Tag in ihrer Gesellschaft aushaken sollte, wie ich es fertigbringen sollte, dieses Haus zu verlassen, an die Westküste zu fahren, um einen Haufen Leute kennenzulernen, die mich nicht interessierten, wie ich mit ihnen schwatzen und essen und so tun sollte, als amüsiere ich mich blendend.

«Ach, übrigens, Mama, ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht. Ein schönes Stück Fisch, Kartoffeln und einen Kopf Kohl. Damit du was im Haus hast. - Hm, sonst noch was? Ach, du lieber Gott, beinahe hätte ich's vergessen!«rief Elsie und schlug sich mit der Hand auf die Stirn.»Ruth hat heute morgen angerufen. «Ich drehte mich herum.»Meine Mutter?«

«Ja. Ganz überraschend. Es war in aller Herrgottsfrühe. Ihr Fuß verheilt gut, und sie möchte wissen, wie es Andrea geht und — «

«Und?«fragte Großmutter.

«Na ja, sie wollte wissen, wann Andrea wieder nach Hause kommt.«

«Nach Hause?«wiederholte ich schwach.

«Aber so was!«rief meine Großmutter.»Sie hat ja noch nicht mal die ganze Familie kennengelernt. Und ihr Großvater hat auch kaum was von ihr mitbekommen. Und jetzt geht's ihr gerade gar nicht gut. «Sie wandte sich mir zu.»Was meinst du denn, Kind?«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich kann noch nicht abreisen, Großmutter. «

«Natürlich nicht«, stimmte sie liebevoll zu.»Da bist du über den ganzen Ozean geflogen und sollst schon nach einer Woche wieder heim? Unsinn. Das wäre ja gar kein richtiger Besuch. Du hast ja noch nicht mal das Haus gesehen, wo du nach deiner Geburt gewohnt und die ersten zwei Jahre deines Lebens verbracht hast. Und deinen Großvater hast du auch noch gar nicht richtig kennengelernt, hm? Nein, du mußt schon noch ein Weilchen bleiben, Kind.«

Es wurde plötzlich sehr heiß im Zimmer, und ich hatte Mühe zu atmen. Auf dem Flug von Los Angeles hierher hatte ich kaum an etwas anderes gedacht als an meine baldige Heimkehr in die Staaten. Und in den ersten Tagen meines Aufenthalts in dem entsetzlich kalten Haus hatte ich beinahe unablässig den Tag herbeigesehnt, an dem ich nach Los Angeles zurückkehren würde. Aber jetzt… jetzt war alles anders. Ich wollte nicht weg. Ich konnte nicht weg.

«Was hast du meiner Mutter gesagt?«fragte ich Elsie.»Ich hab ihr erzählt, daß wir morgen zu Albert fahren wollen, damit du alle kennenlernen kannst. Das fand sie natürlich schön. Und dann hab ich ihr Vaters Zustand beschrieben, und daß er dich immer mit deiner Mutter verwechselt. Aber die Schwester hat gesagt, daß er bald wieder zu Bewußtsein kommen wird. Er wacht schon jetzt oft auf, aber meistens erst spät am Abend. Und wenn er wieder ganz da ist, dann kannst du richtig mit ihm reden. Ach, ich weiß noch, wie er dich immer auf seinem Knie hat reiten lassen, Andrea, aber daran kannst du dich natürlich nicht mehr erinnern…«

Meine Gedanken schweiften ab, und ich war froh, als Ed aufstand und sagte:»Ich glaube, wir sollten jetzt fahren, Elsie. Aus dem Besuch im Krankenhaus wird heute leider nichts werden. Der Regen und der Sturm würden uns in unserem kleinen Auto von der Straße fegen. Wir können wahrscheinlich froh sein, wenn wir gut nach Hause kommen.«

«Recht hast du. Ich hab deine Mutter von dir gegrüßt, Andrea, und ihr gesagt, daß es dir gutgeht. «Elsie schlüpfte in ihre Gummistiefel und packte sich in ihre warmen Sachen.»Bleib sitzen, Mama. Andrea kann hinter uns absperren. «Ich brachte Elsie und Ed hinaus. An der Tür warf Elsie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß Großmutter sie nicht hören konnte, und sagte mit gesenkter Stimme:»Es ist dieses verdammte Haus, nicht?«

«Was?«sagte ich erschrocken.

«Es ist so widerlich kalt. Der läppische kleine Gasofen reicht dir doch bestimmt nicht, hm? Du kannst nachts wahrscheinlich vor Kälte nicht schlafen. Man braucht dich ja nur anzusehen. Du bist weiß wie die Wand. Willst du nicht für den Rest deines Besuchs zu uns ziehen?«

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück.»Nein! Nein, Elsie, ich kann Großmutter doch nicht einfach allein lassen. Sie hat ja keinen Menschen. «Wie verlogen ich war! Vor ein paar Tagen noch hätte ich das Angebot ohne Überlegung angenommen. Zentralheizung, Farbfernsehen, helle Lichter und überall dicke Teppiche. Jetzt entsetzte mich der Gedanke, das Haus verlassen zu müssen. Aber nicht meiner Großmutter wegen.»Andrea hat recht«, pflichtete Ed mir bei.»Deine Mutter fühlt sich einsam ohne ihren Mann. Andrea tut ihr gut.«

«Ja, sicher, aber schau dir das Kind doch an. Ihr tut es hier offensichtlich gar nicht gut.«

«Vielen Dank, Elsie, aber ich möchte wirklich lieber bleiben.«

«Na gut. Aber wenn du's dir anders überlegst, dann brauchst du es uns nur zu sagen. Du bist jederzeit willkommen. Und wenn der Regen bis heute abend nachläßt, kommen wir vorbei und nehmen dich mit ins Krankenhaus. In Ordnung?«

«Ja, danke.«

Als Ed die Tür öffnete und der regennasse Wind ins Haus fuhr, sagte Elsie hastig:»Ob wir morgen zu Albert fahren, müssen wir noch sehen. Bis dann.«

Ich hatte Mühe, die Tür hinter ihnen zu schließen. Sobald ich sie abgesperrt hatte, schob ich die Polsterrolle wieder an ihren Platz und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Einige Zeit später, ich war in meinem Sessel eingeschlafen, hatte ich den ersten erotischen Traum.

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