Kapitel 6

Der Abend war endlos. Ich wurde von einer Ungeduld gequält, die ich mir nicht erklären konnte. Es war, als hätte sich alles Erleben des Tages in mir gestaut und drängte zu einer Explosion, die ich fürchtete. Den ganzen Tag hatte mich die schattenhafte Erinnerung an den Traum von dem alten Kleiderschrank verfolgt; der Zwischenfall mit dem Brandy, den ich gern als trivial und bedeutungslos abgetan hätte, war mir immer wieder durch den Kopf gegangen, nagende Erinnerung, daß ich einen Moment lang zwischen die Zeiten geraten war. Und dann hatte ich auch noch hören müssen, daß mein Großvater Abend für Abend mit seinem Vater sprach. Diese Neuigkeit hatte vielleicht den beunruhigendsten Eindruck hinterlassen.

Während ich jetzt am Kamin saß und dem Klappern der Stricknadeln in den Händen meiner Großmutter zuhörte, rief ich mir das Gespräch im Wagen auf der Heimfahrt ins Gedächtnis.»Da scheint Dad sich tatsächlich eine Person ausgedacht zu haben, die ihn regelmäßig abends besucht«, hatte Elsie zu Ed und mir gesagt.»Wie die Kinder, die sich einen unsichtbaren Spielgefährten erfinden.«

«Ich glaube nicht, daß die Person erfunden ist, Tante Elsie«, hatte ich widersprochen.

«Wieso? Wie meinst du das?«

«Ich glaube, Großvater hat vielleicht die Vorstellung, daß sein Vater ihn besucht.«

«Sein Vater?«Elsie riß die Augen auf.»Du lieber Gott! Ich glaube, du hast recht, Andrea. Hieß Dads Vater nicht Victor? Victor Townsend, natürlich, ich erinnere mich. «Sie drehte sich nach mir um.»Aber Dad hat seinen Vater nie gekannt, Andrea. Soviel ich weiß, ließ er seine Frau sitzen und verschwand, ehe Dad geboren wurde.«

Ich zuckte nur die Achseln. Der kleine Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster, und ich starrte zum Fenster hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.»Vielleicht hat er ihm einen Körper und ein Gesicht gegeben, um mit ihm sprechen zu können«, sagte ich. Meine Vermutung überzeugte Elsie, doch, mich überzeugte sie nicht. Eingedenk meiner seltsamen

Erlebnisse in den vergangenen drei Tagen konnte ich den Gedanken, daß mein Großvater seinen Vater vielleicht wirklich gesehen hatte, nicht von der Hand weisen.

Das war das Beunruhigende. So einfach war es heute morgen auf dem Newfeld Heath gewesen, über meine >Träume< zu lachen, das Melodram der vergangenen Nacht als Hirngespinst abzutun, Ausgeburt einer durch Zeitverschiebung und Kulturschock überreizten Phantasie, daß der Gedanke, meine ersten Ahnungen könnten vielleicht doch richtig gewesen sein, ich könnte tatsächlich einen Blick in die Vergangenheit getan haben, nun um so alarmierender war.

Nach dem Abendessen hatte Großmutter ihr Strickzeug herausgeholt, und ich hatte mich mit Block und Kugelschreiber ans Gasfeuer gesetzt, um nach Hause zu schreiben. Aber ich hatte mich nicht konzentrieren können; unaufhörlich kreisten meine Gedanken um das Geheimnis dieses alten Hauses und um die Frage, ob in dieser Nacht wieder etwas geschehen würde. Gegen neun war ich so rastlos, daß ich kaum noch ruhig sitzen konnte.»Weißt du nicht ein paar lustige Geschichten, Andrea?«fragte Großmutter unerwartet.

Ich sah von meinem leeren Block auf.»Wie meinst du das?«

«Na, du weißt schon, etwas zum Lachen. Witze. «Sie hob den Kopf und sah mich über die Ränder ihrer Brillengläser an, ohne zu stricken aufzuhören.»Weißt du nicht ein paar gute Witze?«

«Ach so — hm…«Ich überlegte.»So auf Anhieb fällt mir nichts ein…«

«So geht's mir auch immer. Ich kann mir wirklich keinen Witz merken. Kaum höre ich ihn, schon hab ich ihn vergessen. «Sie senkte den Blick wieder auf ihr Strickzeug.»Dein Onkel William, der konnte immer herrlich Witze erzählen, schon als kleiner Junge. Er muß das von meiner Familie haben. Ich glaub, bei den Townsends war's mit dem Humor nicht so weit her. Wie soll man auch lachen, wenn man ständig unglücklich ist?«Meine Gedanken wären gern ihre eigenen Wege gegangen, und es kostete mich Anstrengung, Großmutter und der Gegenwart meine Aufmerksamkeit zu geben. Sie sprach langsam, im Takt mit dem gleichmäßigen Klappern ihrer Nadeln. Ihre Hände bewegten sich flink, hielten nur gelegentlich inne, wenn sie etwas mehr Wolle vom Knäuel zog.

«Deine Mutter schrieb mir oft, dein Bruder hätte den Humor der Dobsons mitbekommen. So Familienähnlichkeiten sind schon was Eigenartiges, nicht? Du brauchst dich nur selber anzuschauen, Andrea. Du bist deinem Großvater fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Natürlich kannst du das jetzt nicht mehr erkennen, weil er so alt ist. Aber als er ein junger Mann war… Also, ich hab gleich gesehen, daß du ihm nachgerätst. Dem Aussehen nach bist du eine richtige Townsend.«

Während sie sprach, sah ich zur Uhr auf dem Kaminsims. Sie tickte nicht mehr. Ich saß wie erstarrt, die Finger so fest in die Armlehnen des Sessels gedrückt, daß sie mir wehtaten.»Ein Glück, daß du nur das Aussehen von den Townsends geerbt hast«, fuhr Großmutter fort.

Ihre Stimme klang plötzlich gedämpft, wie durch Watte. Obwohl ich mich an die Sessellehnen klammerte, spürte ich, wie das Zimmer schwankte und sich um mich zu drehen begann. Großmutter verschwamm vor meinem Blick. Ihre Stimme wurde immer schwächer, und bald konnte ich nur noch die Bewegungen ihrer Lippen sehen, ohne zu hören, was sie sprach. Ein kalter Lufthauch wehte ins Zimmer, Schatten tanzten an den Wänden. Ich starrte ungläubig meine Großmutter an, die ruhig in ihrem Sessel saß und schwatzte und strickte, während das ganze Zimmer in wilder Bewegung war und immer kälter wurde.

Der kalte Wind blies heftiger. Ich sah jetzt unbestimmte Gestalten aus den Wänden hervortreten. Sie umkreisten mich, kamen und gingen wie die Figuren eines Karussells. Sie wurden groß und schrumpften wieder, sie drängten zu mir und zogen sich wieder zurück, und die ganze Zeit drehte sich das Wohnzimmer schwankend um mich wie in einem verrückten Tanz. Ich sah mich im Sog eines gewaltigen Strudels, der mich immer tiefer in sich hineinzog. Der Schweiß brach mir aus allen Poren, Schwindel und Übelkeit überwältigten mich. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an den Sessel, und dennoch fiel ich taumelnd immer tiefer, hinunter in den Abgrund. Die dunklen Gestalten drängten sich dichter um mich, umringten wie wartend meinen Sessel, während die Gefühle von Schwindel und Übelkeit immer stärker wurden. Ich wollte sprechen, nach meiner Großmutter rufen, aber sie war jetzt weit weg von mir — eine winzige Frauengestalt, die am anderen Ende dieses ungeheuer großen Raums in einem winzigen Sessel saß und strickte. Ich wußte, daß sie mich nicht hören würde.

Als die Schatten schließlich so nahe waren, daß ich glaubte, sie würden mich berührten, verschmolzen sie alle zu undurchdringlicher Schwärze, die sich wie ein erstickendes Tuch über mich legte.

Als ich die Augen öffnete, sah ich als erstes, daß das Zimmer ruhig geworden war. Der wilde Tanz hatte aufgehört. Blinzelnd sah ich mich um. Alles war so wie immer, nichts hatte sich verändert. Mir gegenüber saß meine Großmutter, strickend und schwatzend. Neben uns war das Gasfeuer im offenen Kamin. Und auf dem Sims tickte die Uhr. Es war gerade fünf Minuten nach neun.»Habt ihr auch etwas davon mitbekommen?«fragte meine Großmutter, ohne aufzublicken.

«Ich — wovon?«Ich wischte mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Mein T-Shirt war feucht.

«Von den Jubiläumsfeierlichkeiten für die Königin. Haben sie die bei euch im Fernsehen gezeigt?«Großmutter sah auf.»Es würde mich interessieren, was du — Andrea, was ist denn? Geht's dir nicht gut?«

«Doch, doch… Ich hab — ich war nur eingeschlafen. Darum habe ich dich nicht gehört.«

«Das macht doch nichts, Kind. Wir haben morgen noch Zeit genug zum Schwatzen. Es ist sowieso Zeit, schlafen zu gehen. «Verzweifelt sah ich zu, wie sie schwerfällig aufstand. Ich wollte ihr sagen, was mir geschehen war, wollte mich samt meinen Ängsten ihr anvertrauen. Aber meine Zunge gehorchte mir nicht. Ich konnte nur dasitzen und sie stumm anstarren. Sie packte ihr Strickzeug weg, hängte den Beutel über die Sessellehne und kam zu mir, um mir einen Kuß auf die Wange zu geben.»Es ist schön, daß du da bist«, sagte sie leise.»Gott segne dich dafür, daß du gekommen bist.«

«Gute Nacht, Großmutter«, sagte ich schwach.

«Gute Nacht, Kind. Du weißt, wie du das Gas höher drehen kannst, falls du frieren solltest?«

«Ja. «Ich stand auf und ging mit ihr bis zur Tür. Als sie draußen war, schloß ich die Tür fest hinter ihr und lehnte mich erschöpft dagegen, das Gesicht an das kalte Holz gedrückt. Ich konnte nicht begreifen, was mir da eben geschehen war; was diesen beängstigenden Aufruhr verursacht hatte. Es war, als wäre ich in einen Zusammenprall der Zeiten geraten, als hätten sie zurückkommen wollen und wären, vielleicht durch die Anwesenheit meiner Großmutter, daran gehindert worden, so daß, wie bei einem rasch strömenden Fluß, dem sich plötzlich ein Damm entgegenstellt, ein Rückstau mit tausend Wirbeln und Strudeln entstanden war, in die ich hineingerissen worden war. Mir war immer noch übel von den rasenden Kreisbewegungen, und meine Beine waren so schwach, daß ich fürchtete, ich würde nicht einmal den Weg zum Sessel zurück schaffen. Jetzt, da die Kälte aus dem Zimmer gewichen war, war mir noch heißer als zuvor, und mein Gesicht brannte wie im Fieber. Als ich mich von der Tür abwandte, um zum Kamin zu gehen und das Gas herunterzudrehen, fand ich mich unversehens John Townsend gegenüber.

Mit einem unterdrückten Aufschrei wich ich zur Tür zurück. Er rührte sich nicht. Mit einem Glas Brandy in der Hand stand er in der Mitte des Zimmers und sah immer wieder auf die Uhr. Er schien ungeduldig zu sein, als erwarte er jemanden. Und welches Jahr haben wir jetzt? fragte ich mich, das Gesicht glühend heiß vom prasselnden Feuer, das im Kamin brannte. Die Scheite waren hoch aufgeschichtet und leuchteten weiß und rot im Spiel der Flammen, die bis in den Abzug hinauf loderten. Im Widerschein des flackernden Feuers wirkten Johns eigentlich weiche und sanfte Gesichtszüge schroffer als sonst. Sein Haar, das nicht so dunkel war wie Victors, hatte den Glanz polierter Kastanien, und in den warmen braunen Augen schimmerte es golden.

Ich war erstaunt, daß ich überhaupt keine Furcht verspürte, nur Neugier, was ich diesmal erleben würde. Das Zimmer sah aus wie am Abend zuvor; nichts hatte sich, soweit ich sehen konnte, inzwischen verändert. In der Vitrine standen dieselben Nippessachen, die Möbel wirkten neu, die Tapete war noch sauber und hell.

Als John plötzlich den Kopf hob und mich direkt ansah, stockte mir der Atem.

«Wo bist du gewesen?«fragte er ärgerlich.

Ich drehte den Kopf zur Seite und sah zu meiner Verblüffung Harriet neben mir stehen. Wie sie hereingekommen war, war mir schleierhaft, da ich doch immer noch an der Tür lehnte. Und dennoch stand sie neben mir, ein junges Mädchen aus Fleisch und Blut, das hätte ich schwören können. Sie war ein wenig älter als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte fünfzehn, vielleicht sogar sechzehn, und der Schnitt ihres Kleides mit den Puffärmeln verriet mir, daß sich die Mode inzwischen geändert hatte.»Eben war der Postbote hier«, sagte sie, und ihre Stimme klang so klar und deutlich, als hätte sie in der Tat direkt an meiner Seite gestanden.»Victor hat geschrieben.«

Ihr Gesicht und die Bewegungen ihrer Hände verrieten eine eigentümliche Erregung, aber ich hatte den Eindruck, daß John sie nicht bemerkte. Harriet hielt sich sehr steif und gerade, ihre Gesten wirkten abgehackt, und sie sprach, als hätte sie Mühe, ihre Stimme zu beherrschen.»Victor? Gib mir den Brief.«

«Er ist an Vater adressiert.«

«Ich lese ihn vorher. Komm, Harriet, gib her. «Sie ging zu ihm und reichte ihm den Brief. Mir fiel auf, daß sie gleichzeitig mit der anderen Hand eine Bewegung machte, sie verstohlen hinter ihren gebauschten Rock schob und dabei den Körper ein klein wenig drehte, als wolle sie etwas vor ihrem Bruder verbergen.

Dann sah ich es. In der anderen Hand hielt sie einen zweiten Brief, den sie jetzt, als John den Blick auf Victors Schreiben richtete, hastig in eine Tasche ihres Rocks schob.»Was schreibt er?«fragte sie ein wenig zu laut. John las schweigend weiter, dann reichte er Harriet den Brief.»Hier, lies selbst. Schreibst du ihm, Harriet?«

«Natürlich. Wenn es schon von euch keiner tut. «Sie nahm den Brief und las begierig.»Ach, John!«rief sie dann bestürzt.» Er will nach Edinburgh gehen.«

«Nur wegen dieses Lister«, sagte ihr Bruder und wandte sich zum Feuer.»Wegen dieses Emporkömmlings.«

«Mr. Lister ist ein großartiger Arzt, John. Er hat die Königin betreut, als sie sich der Armoperation unterziehen mußte. Er ist kein Emporkömmling.«

«Vor zehn Jahren war man in London noch bereit, ihn fallenzulassen, falls du dich erinnerst, wegen seiner Befürwortung der Vivisektion und der Unverschämtheit, die er sich der medizinischen Fakultät gegenüber erlaubte. Er hat das King's College praktisch als mittelalterlich bezeichnet.«

«Dazu kann ich nichts sagen, John, aber diesem Brief nach zu urteilen hat Mr. Lister Victor davon überzeugt, daß es für ihn das beste sein wird, nach Schottland zu gehen.«

«Und außerdem ist er Atheist.«

Harriet schüttelte den Kopf, während sie weiterlas.»Mr. Lister ist Quäker, John. Nur weil man nicht der englischen Staatskirche angehört, ist man noch lange kein Atheist. Oh, aber hier schreibt Victor von Experimenten. Von Forschung!«Entsetzt sah sie John an.»Ich dachte, er wollte Arzt werden, nicht Wissenschaftler.«

«Heutzutage gibt es da kaum noch einen Unterschied. Glaub mir, Harriet, Victor weiß nicht, was er will. Wenn du mich fragst, diese ganze Karbolsäure hat ihm das Hirn vergiftet.«

«Aber John!«Sie sah wieder auf den Brief.»Er schreibt, daß er schon eine Anstellung hat und ein gutes Gehalt bekommen wird.«

John verschränkte mit geringschätziger Miene die Arme und lehnte sich an den Kaminsims.

«Wird auch langsam Zeit. Er lebt jetzt immerhin seit drei Jahren von der Krone. Während ich in dem verflixten Stahlwerk schufte, hol's der Teufel. Victor hatte immer schon einen Größenwahn. Ich glaube, er sieht sich bereits als zweiter Louis Pasteur.«

«Aber wäre es nicht wunderbar, wenn er ein Heilmittel gegen eine Krankheit finden würde, gegen die es bisher nichts gibt, John? Die Cholera zum Beispiel.«

«Jetzt verteidigst du ihn plötzlich. Entschließ dich endlich — willst du, daß er nach Schottland geht, oder willst du, daß er heimkommt?«

Sie ließ die Hand mit dem Brief sinken und seufzte.»Ich weiß es ja selbst nicht. Ich hatte gehofft, er würde nach Warrington zurückkommen und sich hier niederlassen. Aber wenn er in Schottland glücklicher ist — «

«Wer kann in dem gottverlassenen Land glücklich sein?«Harriet drehte sich plötzlich um, als hätte sie ein Geräusch gehört.»Ich glaube, der Fotograf ist hier. Ich sag Mutter Bescheid.«

Sie lief aus dem Wohnzimmer in die Küche, aus der sie gleich darauf mit einer älteren Frau zurückkehrte. Mrs. Townsend, Victors Mutter, war eine stattliche Frau mit wogendem Busen. Ich dachte bei ihrem Anblick und ihren Bewegungen unwillkürlich an eine Dampfwalze. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen und einer voluminösen Turnüre. Das Gesicht der Frau wirkte hart. Ihm fehlte jeder Reiz, und sie tat offensichtlich nichts, um es zu verschönern. Auf dem zum Knoten gedrehten vollen Haar saß ein kleines weißes Häubchen, das ihr das Aussehen einer Königin Victoria in Übergröße verlieh.

Ich hörte stolpernde Schritte und lautes Poltern an meiner Seite, und als ich den Kopf drehte, sah ich den Fotografen eintreten, einen maulwurf sähnlichen Mann mit buschigem Schnurrbart und ölgeglättetem Haar. Ächzend und stöhnend schleppte er mehrere unhandliche Kästen ins Wohnzimmer.

«Sie sind sehr pünktlich, Mr. Cameron«, sagte Mrs. Townsend lobend.»Mein Mann wird sofort herunterkommen.«

«Wir werden gleich alles vorbereitet haben, Madam. Heimporträts sind mein Geschäft, da habe ich Übung im schnellen Aufstellen der Geräte.«

Gemeinsam sahen wir zu, wie Mr. Cameron flink wie ein Wiesel seine Geräte in der Mitte des Zimmers aufstellte. Erst kam das dreibeinige Stativ, dann folgte die ziehharmonikaähnliche Kamera mit dem weit herabfallenden schwarzen Tuch. Nachdem er den Apparat auf dem Stativ befestigt hatte, klappte er einen zweiten Kasten auf, der Holzkassetten, Metallplatten und viele sauber etikettierte Flaschen enthielt. Mit Johns Hilfe rückte er dann das Sofa von der Wand weg und stellte seinen Fotoapparat ein.»Wenn die Herrschaften sich jetzt bitte hinter dem Sofa aufstellen würden? Das Plakat gibt einen schönen Hintergrund ab. Es stammt wohl von der großen Ausstellung?«

«Ich höre meinen Mann kommen«, sagte Mrs. Townsend, während sie sich mit ihren voluminösen Röcken etwas mühsam in den kleinen Raum hinter dem Sofa zwängte.

Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um Victors Vater eintreten zu sehen, einen großen, schweren Mann, der noch dabei war, seinen steifen Kragen zu knöpfen. Er wirkte streng und furchterregend in seiner schwarzen Kleidung. Selbst das Halstuch unter dem weißen Kragen war schwarz. Das Auffallendste an seinem Gesicht waren der breit ausladende, steif gezwirbelte Schnauzbart, der wie aus Holz geschnitzt aussah, und die tiefe Furche zwischen den dunklen Augenbrauen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß dies Victors Vater war, ein gutaussehender und imposanter Mann.»Dann mal los«, sagte er mit dröhnender Stimme in kaum verständlichem Londoner Cockney.

Die Familie stellte sich in Positur — Harriet und John vorn, die Eltern hinter ihnen, jedoch so postiert, daß keiner den anderen verdeckte. Hinter der Gruppe prangte farbenfroh das Reklameplakat von >Wylde's Großem Globus<, der angeblich ein >Wunder moderner

Zeiten< war, fast zwanzig Meter im Durchmesser maß und zahlreiche Ausstellungsräume vorweisen konnte, so daß eine Besichtigung mehrere Stunden in Anspruch nahm. Das Plakat trug kein Datum, doch ich vermutete, daß es eine Erinnerung an glückliche Stunden war.

Mr. Cameron arbeitete schnell und geschickt, tauchte unter das schwarze Tuch, sprang wieder darunter hervor, bis er endlich mit der Schärfeneinstellung des Apparats zufrieden war. Dann schob er zwei Platten in den Apparat, tauchte ein letztes Mal unter das schwarze Tuch und sagte:»Ich lösche jetzt die Lichter. Bitte rühren Sie sich nicht. Bleiben Sie genauso, wie Sie sind. Keine — Bewegung jetzt..«

Nachdem Mr. Cameron eine genau bemessene Menge Magnesium in den Metallbehälter gestreut hatte, den er in einer Hand hielt, drehte er die Gaslampen herunter, bis der Raum fast im Dunkeln lag. Im schwachen Lichtschein, der sich zwischen den Vorhängen hindurchstahl, konnte ich sehen, wie er den Deckel vom Objektiv nahm, die Holzkassette aus der Kamera schob, ein Schwefelholz anriß und das Magnesiumpulver entzündete. Es gab einen hellen Blitz, dann erfüllte dichter, beißender Rauch das Zimmer. Die Townsends hüstelten ein wenig. Mr. Cameron drückte rasch den Deckel wieder auf das Objektiv, schob die Holzkassette wieder über die Kupferplatte und machte Licht. Die vier hinter dem Sofa wischten sich Aschestäubchen mit Ärmeln und Taschentüchern von den Gesichtern, während Mr. Cameron die Kassette herumdrehte und noch einmal Pulver in den Metallbehälter gab.

«Noch eine Aufnahme, wenn die Herrschaften gestatten, damit wir sicher sein können, daß es gelingt. Ich glaube, bei der ersten haben sie alle die Augen zugekniffen. Bitte versuchen Sie, die Augen offenzuhalten, wenn der Blitz kommt. «Er wiederholte die Prozedur, und als er fertig war, bemerkte Harriet zu ihrem Kummer, daß eine ihrer Haarlocken herabgefallen war und an ihrem Ohr herabhing.

«Soll ich noch eine Aufnahme machen, Mr. Townsend?«fragte der nervöse kleine Fotograf.

«Danke, Mr. Cameron. Diese eine kommt uns teuer genug zu stehen.«

«Aber Vater — «, protestierte Harriet.

«Gehorch deinem Vater«, sagte Mrs. Townsend.»Wenn die erste Aufnahme nichts wird, muß es eben die zweite tun — ob mit oder ohne Locke. Wir sind keine reichen Leute, Harriet. «Während die Familiengruppe sich auflöste und Mr. Cameron seine Geräte einpackte, fragte ich mich, warum man das Porträt jetzt hatte anfertigen lassen, anstatt bis zu Victors nächstem Besuch zu warten. Es wirkte geradeso, als wollten sie alle Victor gar nicht dabeihaben…

Sie verließen mich jetzt, Gestalten und Kulisse verblaßten langsam, bis ich schließlich wieder allein im Wohnzimmer meiner Großmutter vor dem Gasfeuer stand. Ich fühlte mich so ausgelaugt wie nach einer schweren inneren Anstrengung und ließ mich schlaff in meinen Sessel fallen. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte zehn nach neun.

Ich setzte mich mit einem Ruck auf. Das war doch nicht möglich. Ich hatte mindestens eine halbe Stunde mit den Townsends verbracht, wenn nicht länger. Und doch war dieser Uhr zufolge Großmutter gerade erst hinausgegangen.

Ich drückte beide Hände auf die Augen und stöhnte laut. Was war nur mit mir los? War ich vielleicht einfach hier im Sessel eingeschlafen, hatte einen Traum gehabt und war dann mit dem Gefühl erwacht, er wäre real gewesen? Traumforscher, so erinnerte ich mich, behaupteten, der Durchschnittstraum dauere nur zwanzig Sekunden, auch wenn es dem Träumer danach schien, als hätte er viel länger gedauert. War es also ein Traum gewesen? Hatte sich meine Phantasie von Großmutters Erzählungen und ihren alten Fotografien anregen lassen? Waren all diese Geschehnisse, die mir so real erschienen, nichts als Träume?

Ich ließ die Hände in den Schoß sinken. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, Gewißheit zu erlangen! Ich mußte wissen, ob ich an Halluzinationen litt oder ob das alles Wirklichkeit war. Aber wie sollte ich das zuwege bringen?

Ich starrte auf meine Hände und ging noch einmal alles durch, was ich soeben miterlebt hatte. Ich sah den wieselflinken Mr. Cameron vor mir, die stattliche Mutter, den imposanten Vater. Ich hatte noch den beißenden Geruch des verbrannten Magnesiumpulvers in der Nase. Während ich mir jedes Detail noch einmal ins Gedächtnis rief, kam mir plötzlich die Erleuchtung: Die Familie hatte sich fotografieren lassen!

Natürlich! Da lag die Antwort. Ich konnte sie im Familienalbum der Townsends finden, von dem Großmutter gesprochen hatte. War es möglich, daß das Gruppenbild, dessen Aufnahme ich soeben beobachtet hatte, sich in dem Album befand? Und wenn das der Fall war…

Plötzlich mußte ich unbedingt dieses Album finden. Auf der Stelle. Ich mußte es sehen. Die verblichenen braunen Aufnahmen lang verstorbener Menschen würden mir die Antworten geben, die ich suchte.

Wenn dieses Gruppenbild der vier Townsends im Album zu finden war, würde mir das die Gewißheit geben, daß ich in der Tat ein Fenster in die Vergangenheit entdeckt hatte. Obwohl es mir widerstrebte, in den Sachen meiner Großmutter herumzukramen, stand ich schließlich auf und ging zum Büffet. Und nachdem ich einmal die erste Schublade aufgezogen hatte, begann ich zu suchen wie eine Besessene.

Eine Viertelstunde lang wühlte ich zwischen Nähkästchen, Handschuhen, altem Silber und Unmengen von Souvenirs, die meine Großmutter im Laufe ihres Lebens gesammelt hatte. Dann hockte ich mich verzweifelt und mutlos auf den Boden neben dem Büffet. Das Album war nirgends.

Aber damit wollte ich mich nicht zufrieden geben, und nachdem ich ein paar Minuten lang still vor mich hin gewütet hatte, begann ich von neuem zu überlegen und hatte bald einen Einfall. Aber willkommen war er mir nicht; eher machte er mir angst. Ich hob den Blick zu der Wand hinter dem Sofa und starrte sie so intensiv an, als könnte ich durch sie hindurch in das Zimmer auf der anderen Seite sehen. Gleichzeitig gingen mir Großmutters Worte vom ersten Abend durch den Kopf.»Den früheren Salon benutzen wir schon seit vielen Jahren nicht mehr. Mindestens zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre. Seit William geheiratet hat und ausgezogen ist. Wir brauchen ihn nicht mehr. Wir können ihn nicht heizen, darum benutzen wir ihn als Abstellraum. «Langsam stand ich auf. Erst am vergangenen Abend, als ich nach der Begegnung mit der weinenden Harriet im oberen Schlafzimmer wieder heruntergekommen war, hatte ich jemanden auf dem Klavier >Für Elise< spielen hören. Die Klänge waren aus dem Salon gekommen. Kamen sie immer aus diesem Raum, wenn ich sie hörte? Und wenn ja, wer spielte auf dem Klavier? Ich holte einmal tief Luft und wischte mir die feuchten Hände an den Jeans ab. So groß meine Furcht war, mein Verlangen, das Album zu finden, war stärker. Zögernd noch ging ich zur Tür und zog sie leise auf.

Vor mir lag wieder der finstere Flur wie eine unermeßlich große schwarze Höhle. Mit weit geöffneten Augen trat ich hinaus und hatte das unheimliche Gefühl, in einen Tunnel hineinzugehen, der kein Ende hatte. Hinter mir befanden sich die Wärme, das Licht und die Geborgenheit des Wohnzimmers; vor mir warteten bedrohliche Finsternis und Eiseskälte. Und dennoch war die Anziehungskraft des Nebenzimmers stärker als alle meine Bangnis. Im Familienalbum der Townsends würde ich endlich die Antworten finden, die ich suchte. Ich mußte es haben. Es war merkwürdig, daß mir so bang war, das fiel mir selbst auf, während ich mich blind die klamme Wand entlangschob, denn bisher hatte ja nichts, was geschehen war, mir in irgendeiner Weise geschadet. Die beiden Familienszenen im Wohnzimmer waren nur freundlich gewesen, und ich hatte mich keine Sekunde bedroht gefühlt. Weshalb also war mir jetzt, als ich mich der Tür /um Salon näherte, eiskalt vor Angst? Weshalb hatte ich tief im Inneren das Gefühl, daß ich lieber die Hände von diesen Nachforschungen lassen sollte? Es war, als wäre die Luft um mich herum von drohendem Unheil geschwängert, als wäre ich im Begriff, in einen Bezirk einzudringen, der weit entfernt war von John und Harriet und dem warmen, hellen Feuer im Wohnzimmer. Eine Ahnung befiel mich, daß alles Unglück, das sich in diesem Haus /.ugetragen hatte, in diesem Raum enthalten war und daß es töricht und vorwitzig von mir war, dort einzudringen, l)as Gefühl drohenden Unheils war mir vertraut. Ich hatte es zwei Nächte zuvor empfunden, als ich plötzlich Victor an meinem Bett gesehen hatte. Auch da hatte es in der Luft gelegen, einer beängstigenden Aura gleich, die aus der Finsternis ausstrahlte, als lauerten in ihrer Schwärze die schlimmsten Dinge. Genau dieses Gefühl begleitete mich jetzt, als ich die Geborgenheit des Wohnzimmers hinter mir ließ und mich in die finstere Höhle des Flurs hinauswagte. Es war beinahe so, als warte etwas auf mich.

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