Es war noch nicht halb elf an diesem ersten Abend, aber ich konnte kaum noch die Augen offenhalten. Ich spürte eine leichte Berührung an der Schulter und sah, daß Großmutter aufgestanden war. Und mit schlechtem Gewissen sah ich, daß sie Teller und Tassen hinausgetragen hatte.
«Bin ich eingeschlafen? Entschuldige, Großmutter, ich wollte dir doch helfen — «
«Unsinn! Ich werd dich doch nicht arbeiten lassen, wo du hier zu Besuch bist. Es war egoistisch von mir, dich nach der langen Reise so lange wachzuhalten. Du mußt doch todmüde sein. Marsch jetzt, ins Bett mit dir.«
Sie hatte recht. Ich war unglaublich müde, ja, ich fühlte mich, als ob meinem Körper auch das letzte Fünkchen Energie entzogen worden wäre.
Sobald ich in den Flur trat, überkam mich wieder dieses bizarre Gefühl, nur noch stärker diesmal. Es war beinahe, als läge greifbare Feindseligkeit in der Luft. Ich zögerte am Fuß der schmalen Treppe und blickte in die Finsternis über mir.»Ist was?«fragte Großmutter, die mein Zögern bemerkte.»Ich — äh, ich weiß gar nicht, wo mein Zimmer ist.«
«Ich hab dir das Vorderzimmer gerichtet. Ed hat deinen Koffer schon raufgebracht, und Elsie hat dir eine Wärmflasche ins Bett gelegt. Es tut mir leid, daß das Zimmer keine Heizung hat. Aber weißt du, es ist viele Jahre nicht mehr benutzt worden. Seit Williams Auszug nicht mehr. Das muß jetzt gut zwanzig Jahre her sein. Also, Kind, rauf mit dir.«
Vorsichtig stieg ich die steile Treppe hinauf und stützte mich dabei mit den Händen an den Seitenwänden ab. Ich verkniff es mir, in die Schwärze des oberen Stockwerks hinaufzusehen, und versuchte so zu tun, als mache mir die Kälte nichts aus.
Aber das gelang mir nicht, und je — höher ich stieg, desto kälter wurde mir. Ich fing an zu zittern. Der Atem stieg mir in kleinen Dampfwölkchen aus dem Mund. Hinter mir, ein paar Stufen tiefer, quälte sich Großmutter schwerfällig die Treppe hinauf, und ich fragte mich, ob sie mich überhaupt vor sich sehen konnte.
Oben begann ich wieder zu schnattern. Ich biß die Zähne zusammen und suchte nach einem Lichtschalter. Ich tastete mit einer Hand über die klamme Wand. Ich berührte etwas und drückte.
«Hast du das Licht gefunden?«fragte Großmutter keuchend hinter mir.»Ich — nein — «
Sie streckte den Arm aus, und augenblicklich ging die Deckenbeleuchtung an. Ich schaute auf die Wand. Das Ding, das ich berührt hatte, war der Lichtschalter.
«Na also. Jetzt geh nach rechts«, sagte sie außer Atem und lehnte sich an die Wand.
Der Treppe direkt gegenüber war das Badezimmer und daneben Großmutters Zimmer. Um die Ecke jedoch, einen kurzen Gang entlang, war noch eine Tür.
«Wenn du in der Nacht raus mußt, dann weißt du jetzt, wo es ist. Vergiß nicht, immer das Licht auszumachen. Gute Nacht, Kind.«
Ich rieb mir die eiskalten Arme und eilte durch den Flur zum vorderen Zimmer. Die Tür knarrte, als ich sie aufstieß, und Schwärze gähnte mir entgegen. Hastig hob ich die Hand zur Wand und fand den Lichtschalter.
Ich lächelte erleichtert. Wirklich ein hübsches Zimmer. Ein behagliches Doppelbett mit großen, weichen Kissen und einer bunten Steppdecke. Auf dem Boden ein schon fadenscheiniger, aber freundlicher Perserteppich. An einer Wand ein alter Schrank, dessen eine Tür offenstand. Gegenüber ein offener Kamin, der jetzt vernagelt war, und darüber ein großer alter Spiegel in geschwungenem Rahmen. Neben dem Bett ein kleines Tischchen mit einem Spitzendeckchen und der Bibel darauf.
Es sah alles sehr gemütlich aus, und meine Beklemmungen auf der Treppe kamen mir plötzlich recht albern vor. Ich drehte mich um, schloß die Tür und schob die >Wurst< vor die Ritze, das längliche Polster, das verhindern sollte, daß die Kälte aus dem Flur ins Zimmer drang. Dann mußte ich schnell machen. Das bißchen Wärme, das ich von unten mitgenommen hatte, war jetzt ausgekühlt, und die eisige Kälte des Zimmers drang auf mich ein. Schon begannen meine Finger steif zu werden, so daß ich Mühe hatte, die Schlösser meines Koffers zu öffnen. Ich fror erbärmlich. Noch nie hatte ich so etwas erlebt. Wenn es vor einigen Stunden draußen um null Grad gewesen war, wie weit war die Temperatur dann in der Zwischenzeit noch gesunken? Dieses alte, schlecht isolierte Haus kam mir vor wie ein Tiefkühlschrank. Nachdem ich meine Jeans und das T-Shirt im Schrank aufgehängt hatte, zog ich meinen Bademantel über den Schlaf anzug und ging zum Fenster. Ich zog die Vorhänge ein wenig auseinander und blickte durch die bereiften Scheiben in pechschwarze Nacht hinaus. Kein Mond, kein Stern war am Himmel, nur eine ferne Straßenlampe spendete etwas trübes Licht. Die Häuser gegenüber, eines am anderen, alle gleich, aufgereiht wie die Zinnsoldaten, waren dunkel und still. Das abgeschliffene Kopfsteinpflaster der Straße, auf der die wenigen geparkten Autos fremd wirkten, glänzte eisig.
Ich ließ die Vorhänge wieder zufallen. Mittlerweile war ich so durchgefroren, daß ich beschloß, im Bademantel zu schlafen. Erst knipste ich das Licht aus, dann sprang ich im Dunklen mit einem Riesensatz zum Bett, warf mich hinein und zog die Decken bis zum Kinn. Die Wärmflasche, die noch warm war, drückte ich an meinen Bauch und rollte mich auf der Seite zusammen. Es war so still im Haus, daß ich meinen eigenen Herzschlag hörte. Ich war überzeugt, daß ich in diesen arktischen Verhältnissen niemals einschlafen würde. Immer noch schlugen mir die Zähne aufeinander, meine Hände und Füße waren starr vor Kälte, ich zitterte am ganzen Körper. Mindestens eine Stunde lang muß ich wachgelegen und in die Finsternis gestarrt haben, und die ganze Zeit dachte ich an Doug und bemühte mich, das Unbehagen abzuschütteln, das mir dieses Haus einflößte.
Ich weiß nicht, wann ich endlich eingeschlafen bin, aber plötzlich war ich wieder hellwach, ohne zu wissen, was mich geweckt hatte. Ich starrte mit offenen Augen ins Dunkle und hielt mit verkrampften Fingern die Decke umklammert. Ich war schon mit Angst erwacht; die Angst hatte mich schon im Schlaf überfallen, sie hatte mich geweckt. Es war eine Angst vor etwas, das ich nicht sehen konnte. Während ich angestrengt versuchte, mit den Augen die Schwärze der Nacht zu durchdringen, wurde mir klar, daß es nicht die Dunkelheit war, die mich so ängstigte, sondern etwas anderes; etwas, das in diesem Zimmer war. Eine unsichtbare Gegenwart…
Ich kämpfte um meinen Verstand. Ich versuchte, mich zu erinnern, wer ich war, wo ich mich befand, was ich hier tat. Aber mein Geist war gefangen in einem Käfig des Vergessens. Ich erinnerte mich an nichts. Mein Gedächtnis war ausgelöscht. In schwarzer Nacht versunken.
Mitten in meinem verzweifelten Kampf, meinem ohnmächtigen Bemühen, meine Erinnerungen zu finden, entdeckte ich das Schreckliche, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein ungeheurer Druck lastete auf meinem Körper. Eine Kraft, die nicht zu greifen war und keine Substanz besaß, stieß mich tief in die Kissen und drohte, mich zu ersticken. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Ich bekam keine Luft.
Aus Angst und Entsetzen wurde kopflose Panik. Wie eine Rasende begann ich, mich gegen den grauenvollen Druck zu wehren. Ich rang krampfhaft um Atem und empfand jeden eisigen Luftzug, der in meine Lunge drang, wie einen Messerstich. Ich mußte zum Licht. Meine Gedanken überschlugen sich. War ich vielleicht gelähmt?
Wie konnte eine solche erstickende Kraft mich niederdrücken, ohne daß ich fähig war, sie zu fassen?
Ich konzentrierte mich ganz darauf, einen Arm freizubekommen. Mein Atem flog in kurzen Stößen. Ich mußte sehen. Ich mußte sehen!
Plötzlich war mein Arm frei. Ich griff hastig nach oben und umklammerte das Kopfende des Betts. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es mir, mich sq weit hochzuziehen, daß ich mich aufsetzen konnte. Aber immer noch lastete der beklemmende Druck auf mir. Er war wie ein gewaltiger Sog. Ich kämpfte dagegen an, schnappte gierig nach Luft, um den Alp abzuwehren. Weit aus dem Bett hängend, fuchtelte ich in der Finsternis herum, traf mit einer Hand die Wand und schlug rein zufällig auf den Lichtschalter.
Im selben Moment, als das Licht anging, wich schlagartig der Druck von mir, und ich fiel zu einem keuchenden, japsenden Bündel zusammen.
Ich hatte so stark geschwitzt, daß mein Pyjama ganz feucht war. Und jetzt begann ich zu frieren, begann vor Erschöpfung und Kälte so heftig zu zittern, daß das Bett wackelte. Lange hockte ich an das Kopfende des Betts gelehnt, rieb mir die Arme und stampfte mit den Füßen, um wieder warm zu werden, und überlegte dabei, was eigentlich geschehen war.
Ich konnte mich nicht erinnern, was mich geweckt hatte; ob es ein Traum gewesen war oder die Kälte oder einfach die ungewohnte Umgebung. Oder etwas anderes.
Und dieser schreckliche Druck. Hatte ich ihn mir eingebildet? War vielleicht alles nur ein Traum gewesen, der bis zu dem Moment gedauert hatte, als ich im Schlaf den Lichtschalter gefunden hatte?
Ich konnte es nicht glauben. Es war mir nicht vorgekommen wie ein Traum. Es war von einer unheimlichen Realität gewesen. Als ich die Decken bis zu Schultern und Hals heraufzog, spürte ich, wie schwer sie waren. Mehrere Wolldecken, eine Steppdecke und ein großes Federbett — kein Wunder, daß ich mich wie erdrückt gefühlt hatte.
Natürlich! Das war es! Ich lachte leise, um mir selbst Mut zu machen. Zu Hause schlief ich immer nur mit einer leichten Decke; unter dem Gewicht dieses Bettzeugs mußte ich geträumt haben, daß eine unheimliche Macht mich ersticken wollte. Wie seltsam ist diese Dämmerzone zwischen Schlafen und Wachen. Wie beängstigend war es gewesen, zu erwachen und nicht zu wissen, wer ich war und wo ich mich befand. Aber jetzt verständlich im Licht der Deckenlampe. Ich hatte einen Alptraum gehabt; er war mir nur realer erschienen als die meisten. Selbst jetzt noch, während ich im hellen Zimmer im Bett saß, spürte ich Reste der Furcht, die mich beim Erwachen überfallen hatte. Aber alles Einbildung. Nichts real.
Ich griff zum Schalter, um das Licht auszumachen, und hielt inne. Ohne zu wissen warum, drehte ich den Kopf und blickte über die Schulter.
Der Spiegel über dem Kamin. Was hatte er Merkwürdiges an sich?
Lange blieb ich so sitzen und blickte stirnrunzelnd zum Spiegel; fragte mich, was mich veranlaßt hatte, zu ihm hinüberzusehen, warum ich den Blick jetzt nicht von ihm wenden konnte. Und während ich ihn unverwandt anstarrte, war mir, als hörte ich eine feine Stimme, die mir zuflüsterte, ich dürfe nicht wegsehen.
Aber warum? Es war doch ein ganz gewöhnlicher Spiegel. Alt, eine Antiquität vielleicht, mit einem glanzlosen vergoldeten Rahmen. Nichts Ungewöhnliches war an ihm. Und er zeigte nichts als ein Bild dieses Zimmers mit der offenen Schranktür im Mittelpunkt.
Und doch hielt er mich fest, und ich schaute ihn so fasziniert an, als wüßte ich, was ich in ihm suchte. Als schwebe die Antwort auf die Frage, was für eine zauberische Macht dieser Spiegel besaß, am innersten Rand meines Bewußtseins. Beinahe konnte ich sie fassen…
Endlich schüttelte ich abwehrend den Kopf, befreite mich aus dem Bann und glitt wieder unter die Decken, ohne das Licht zu löschen. Der lange Flug und die Zeitverschiebung hatten mir mehr zugesetzt, als ich geglaubt hatte.
Ich zwang mich zu einem Lächeln und versicherte mir, während ich mich im tröstlichen Schein des Lichts ausstreckte, daß morgen alles wieder ganz normal sein würde.
Als ich am Morgen erwachte, roch ich den Duft von gebratenem Speck und frischem Kaffee, und nach einem Blitzbesuch im eiskalten Badezimmer sauste ich in Jeans und Pullover nach unten, wo mich ein angenehm warmes Wohnzimmer und ein gedeckter Tisch erwarteten. Zwar vertrieb das Sonnenlicht, das freundlich durch das Fenster strömte, alle Hirngespinste der vergangenen Nacht, doch es blieb ein Gefühl unerklärlichen Unbehagens. Ich hatte kaum geträumt und konnte mich nur an wenige zusammenhängende Traumfetzen erinnern. Als ich im sonnenhellen Zimmer erwacht war, hatte ich mich erfrischt und ausgeruht gefühlt; um so bestürzender war es zu entdecken, daß das Haus mich noch immer nicht aus seinem unheimlichen Bann entlassen hatte.
«Ist das hier das einzige Zimmer im Haus, das ihr bewohnt, Großmutter?«fragte ich, während ich Butter auf meinen Toast strich.
«Ja, Kind. Dieses Zimmer und unser Schlafzimmer. Den früheren Salon benützen wir schon seit Jahren nicht mehr. Wir brauchen ihn nicht. Er dient uns eigentlich nur noch als Abstellraum. «Ich nickte. Es war ein gemütliches Zimmer. Wir saßen an dem kleinen Eßtisch vor dem Fenster, das zum Garten hinausblickte. Aber ein Garten war das eigentlich gar nicht. Vom Fenster bis zu der hohen Mauer am anderen Ende konnten es höchstens zehn Schritte sein. Man hätte mit einem einzigen großen Sprung über den ganzen Garten setzen können. Der Boden war holprig mit Backstein gepflastert. Es gab keinen Rasen und keine Blumenbeete, nur am Fuß der beiden Mauern je einen Streifen Erde, aus der Rosenbüsche wuchsen — oder einmal gewachsen waren; jetzt waren sie nur noch dürre Skelette. In die Mauer am Ende des Gartens war ein Tor eingelassen, das in eine kleine Gasse und zu dem auf der anderen Seite liegenden freien Feld führte.»Blühen die Rosen im Sommer, Großmutter?«
«Nein, Kind. In diesem Garten will einfach nichts gedeihen. Das war schon immer so. Von Anfang an. Diese Rosenbüsche waren schon hier, als wir hier einzogen.«
«Hast du mal versucht, sie zum Blühen zu bringen?«Ich führte meine Tasse zum Mund und blickte geistesabwesend zu den kahlen Büschen hinaus.
«Ja, sicher, am Anfang schon, aber es war sinnlos. Es ist wahrscheinlich schlechter Boden. «Sie sah mich an.»Weißt du, es ist komisch, jetzt, wo ich darüber nachdenke — nie ist uns in diesem Garten etwas gewachsen. Und uns ist auch kein Haustier geblieben, ob Hund oder Katze. Immer sind sie uns weggelaufen. Das muß am Boden liegen, sagte dein Großvater immer. «Ihre Worte weckten ein seltsames Gefühl in mir, aber ich schüttelte es ab und sagte:»Wie lange lebt ihr hier schon allein, du und Großvater?«
«Dein Onkel William ist als letzter ausgezogen. Das muß jetzt zwanzig Jahre her sein oder länger. Danach brauchten dein Großvater und ich die anderen Räume nicht mehr. Aber die Möbel sind noch alle da, so wie sie waren, als ich vor zweiundsechzig Jahren hier eingezogen bin.«
«Im Ernst? Das alles hier ist noch von damals?«
«Jedes Stück. Auch das Bett, in dem du heute nacht geschlafen hast. Das kam alles so um 1880 ins Haus.«
«Du hast ein paar wertvolle alte Dinge hier, Großmutter.«
«Ja, ich weiß. Und da liegen mir Elsie und William dauernd in den Ohren, daß ich alles verkaufen und in eine Wohnung ziehen soll.
Das kann ich doch nicht! Das Haus steckt für mich voller Erinnerungen. Niemals könnte ich einfach von hier fortgehen. Das Haus ist ein Teil von mir, Andrea.«
Ich sah wieder zum Fenster hinaus, betrachtete den leuchtend blauen Himmel und versuchte mir vorzustellen, wie es sein mußte, zweiundsechzig Jahre lang im selben 'Haus zu leben. Die längste Zeit, die ich mit meinen Eltern irgendwo gelebt hatte, waren zehn Jahre gewesen, in einem Haus in Santa Monica, und wir hatten gemeint, es wäre eine Ewigkeit.
«Dieses Haus hat viel erlebt, Andrea, und es hat auch an Unglück nicht gefehlt.«
Ich wandte mich wieder meiner Großmutter zu. Sie wich meinem Blick aus.»Aber es hat natürlich auch viel Freude gesehen. In jeder Familie gibt es beides, nicht wahr?«Der Rest des Morgens verging mit Aufräumen, Abwaschen und Großmutters Gesprächen über die Misere der britischen Wirtschaft. Um ein Uhr kamen Elsie und Ed, durchgefroren und mit roten Nasen.
«Es wird wieder kälter«, bemerkte Elsie und eilte zum Kamin.»Hoffentlich frierst du nicht, Andrea.«
«Nein, nein, ich hab mich warm angezogen. Wie lang ist die Besuchszeit?«
«Nachmittags nur eine Stunde. Aber das ist auch genug für deinen Großvater. Wir wollen ihn nicht ermüden. Und abends kann man anderthalb Stunden bleiben.«
«Geht ihr beidemale?«
«Nein, Kind. Abends geht William mit seiner Frau. Wir können nachmittags gehen, weil Ed schon in Rente ist. William und May gehen abends nach dem Essen. Manchmal geht auch Christine nach der Arbeit zu Großvater.«
Über Christine wußte ich ein wenig. Sie war sieben Jahre jünger als ich und arbeitete als Stenotypistin in einer Fabrik in der Nähe. Elsies Kinder, mein Vetter Albert und meine Cousine Ann, lebten nicht mehr in Warrington. Ann war nach Amsterdam gegangen, und Albert hatte geheiratet und lebte jetzt in Morecambe Bay an der Irischen See.
Geradeso wie meine Mutter ihren Verwandten über besondere Ereignisse in unserer Familie geschrieben hatte, meinen College-Abschluß zum Beispiel und Richards Entschluß, nach Australien zu gehen, hatte unsere englische Verwandtschaft uns über die Jahre von ihrem Leben berichtet. Aber ich kannte Christine, Albert und Ann natürlich nur von Fotos, und abgesehen von einigen Äußerlichkeiten — daß Ann in Amsterdam als Malerin arbeitete, Albert und seine junge Frau eine kleine Tochter hatten und Christine hier in Warrington in ihrer eigenen kleinen Wohnung lebte — wußte ich nichts über sie.
Und ich wollte auch gar nichts wissen. Ich war so lange ohne Verwandtschaft ausgekommen, da hatte ich jetzt keinerlei Bedürfnis, Beziehungen herzustellen. In wenigen Tagen würde ich sowieso nach Los Angeles zurückkehren, und diese Menschen hier würden wieder aus meinem Leben verschwinden.
«Deine Mutter und ich waren zwei schlimme Mädchen«, sagte Elsie, als ich mich zu ihr an den Kamin setzte.»Mir ist schleierhaft, wie der arme William es mit uns ausgehalten hat. Wir waren beide älter, weißt du, und wir haben ihn furchtbar tyrannisiert. «Sie lachte.»Ach, wie schade, daß Ruth nicht mitkommen konnte. Aber so eine Fußgeschichte ist langwierig und schmerzhaft, nicht wahr? Weißt du eigentlich, Andrea, daß ich dich als Baby eine Weile versorgt habe? Deine Mutter wurde kurz nach deiner Geburt krank und mußte noch einmal ins Krankenhaus, und da hab ich mich um dich gekümmert. Das war schön. Es war, als wärst du mein Kind. Ich hatte damals noch keine Kinder. Albert wurde erst ein Jahr später geboren.«
So erzählte sie eine Weile weiter, bis es Zeit war zu gehen. Dankbar für die Wollmütze und die Handschuhe, die Elsie mir mitgebracht hatte, mummelte ich mich richtig ein und wappnete mich gegen die Kälte, die uns draußen erwartete.»Und wenn du zurückkommst, gibt es einen guten Fisch, Kind«, sagte Großmutter, die uns zur Tür begleitete.»Ich kann heute nicht mitkommen, Andrea. Es ist zu kalt für meine alten Knochen. Vielleicht am Sonntag, wenn ich mich wohl genug fühle. «Als ich Elsie und Ed hinterhergehen wollte, die schon auf dem Weg zum Wagen waren, hielt sie mich fest.»Er ist ein Fremder für dich, Andrea, aber daran solltest du dich nicht Stören. Er ist ein Townsend genau wie du eine Townsend bist. Denk immer daran, daß er der Vater deiner Mutter ist. Er ist dein Großvater, und er braucht dich jetzt. Er braucht uns alle. «Ich nickte stumm und lief zum Wagen hinaus.
Das Städtische Krankenhaus von Warrington wirkte bei Tag genau so mächtig und bedrohlich wie am Abend zuvor, als Elsie es mir gezeigt hatte. Hier, zwischen diesen dicken roten Backsteinmauern, hatte ich meinen ersten Schrei getan. Und nun, siebenundzwanzig Jahre später, war ich zurückgekehrt, auf einer Art unfreiwilliger Pilgerfahrt zu meinen Wurzeln. Das erste, was ich wahrnahm, als wir durch die Schwingtür des Krankenhauses traten, war der entsetzliche Geruch. Er war so ekelhaft und durchdringend, daß mir beinahe übel wurde. Ed und Elsie schienen ihn gar nicht zu bemerken. Sie waren ganz damit beschäftigt, Handschuhe, Mützen und Schals abzulegen und ihre Mäntel aufzuknöpfen. Ich machte es ihnen nach und bemühte mich, den Gestank zu ignorieren, während ich ihnen durch den langen Korridor zur Station folgte.
Hier erwartete mich der nächste Schock: Das Krankenzimmer war ein großer düsterer Raum mit nacktem Holzfußboden und kahlen weißen Wänden. Zwanzig Betten standen nebeneinander an jeder der beiden Längswände, am einen Ende des Raums war ein Waschbecken, am anderen ein altmodischer Fernsehapparat. Die Vorhänge an den Fenstern waren trist, in einer Ecke stand ein Stapel Klappstühle.
Dort nahm Ed drei Stühle, klappte sie auf und stellte sie zu beiden Seiten des Betts auf, das der Tür am nächsten stand.
«Komm, Kind«, sagte er zu mir.»Setz dich zu deinem Großvater.“
Ich näherte mich langsam dem Bett, den Blick auf das Gesicht des alten Mannes gerichtet, der darin schlief. Einen Moment lang blieb ich an seiner Seite stehen und betrachtete die eingefallenen Züge, die durchsichtig scheinende Haut, die dünnen Büschel weißen Haars, die von seinem Kopf abstanden. Er lag da wie aufgebahrt, so ruhig, so tief. Mein Großvater schlief in inniger Ruhe, als hätte er schon den letzten Frieden gefunden. Ich zog mir einen Stuhl heran. So laut wie unsere Stimmen und unsere Schritte tönte das Kratzen der Stuhlbeine auf dem Holzboden durch den ganzen Krankensaal. Elsie und Ed setzten sich auf der anderen Seite des Betts nieder, und Elsie fing sofort an, in ihrer großen Handtasche zu kramen, um allerhand Leckerbissen für ihren Vater zum Vorschein zu bringen. Eine Packung Kekse. Eine Flasche Orangensaft. Eine Rolle Pfefferminztaler. Dabei redete sie auf den Schlafenden ein, als wäre er hellwach, erzählte endlos vom Rugbyspiel zwischen Warrington und Manchester, vom Pferderennen, wo mein Großvater offenbar häufig sein Glück versucht hatte, von den Fernsehsendungen über die königlichen Jubiläumsfeiern und von Alberts kleiner Tochter.
Ed saß lächelnd dabei, verteilte die Geschenke auf dem Nachttisch und unterstützte Elsie mit bestätigenden Kommentaren. Mich verblüffte das Verhalten der beiden. Wäre nicht die leichte Auf- und Abwärtsbewegung der Brust unter der Decke gewesen, man hätte den alten Mann im Bett für tot halten können. Sein Körper lag so reglos, als wäre er schon ohne Leben. Ich suchte in dem fremden Gesicht nach vertrauten Zügen. Zu Hause, in meinem Album, hatte ich Fotos von meinem Großvater. Sie zeigten einen kräftigen, robusten Mann mit dichtem schwarzen Haar und einem etwas derben, aber gut geschnittenen Gesicht. Doch es waren Bilder eines Fremden, eines Mannes, der mir nichts bedeutete. Und auch jetzt, da ich ihn vor mir hatte, blieb er mir fremd. Und doch war da, kaum erkennbar in dem im Schlaf entspannten Gesicht, die steile kleine Falte über der Nase, das besondere Merkmal der Townsends.
Ich schluckte und schob die Hände auf meinem Schoß fest ineinander.
«Du wunderst dich wahrscheinlich, wieso wir mit ihm sprechen«, sagte Elsie plötzlich.
Mit einem Ruck hob ich den Kopf. Ich hatte ihre Anwesenheit vergessen.
«Weißt du, der Arzt hat uns gesagt, daß ein Mensch, auch wenn er schläft, immer noch hört. Stimmt's, Ed? Er hat gesagt, das Gehör versagt als letztes, wenn jemand stirbt, darum können Kranke, auch wenn sie bewußtlos sind, noch hören. Und auch wenn Vater überhaupt nicht reagiert, kann es sein, daß er unsere Stimmen wahrnimmt und daß es ihn tröstet, daß wir da sind. Deshalb rede ich immer mit ihm. Ich meine, das ist doch das mindeste, was man tun kann, nicht?«Sie sah mich erwartungsvoll an, und ich wußte, was sie wollte.
Ich blickte wieder auf das alte wächserne Gesicht hinunter, die schlaffen Lippen, die in den zahnlosen Mund eingezogen waren, und auf die wie verwischt wirkende steile kleine Falte zwischen den weißen Brauen. Ich neigte mich leicht über das Bett und legte vorsichtig eine Hand auf die Decke, unter der ich einen mageren, knochigen Arm fühlte.»Hallo, Großvater. Ich bin's, Andrea. «Meine Worte hingen in der Luft. Wir beugten uns alle drei über das Bett.
Dann sagte Elsie leise:»Er hat dich gehört, Kind. Er weiß, daß du hier bist.«
Während ich unverwandt in das schon vom Tod gezeichnete Gesicht sah, versuchte ich, mir den schneidigen jungen Pionier vorzustellen, der 1915 nach Mesopotamien gezogen war. Ich versuchte, unter der verfallenen Hülle eine Spur des jungen Mannes zu erkennen, der meine Mutter auf den Knien gehalten hatte. Aber es gelang mir nicht. Ich wollte es erzwingen. Ich wollte wenigstens ein Fünkchen Zuneigung zu diesem sterbenden alten
Mann heraufbeschwören. Aber ich empfand nichts. Er war und blieb mir fremd, nichts weiter als ein sterbender alter Mann. Ich hob den Kopf und sah Elsie an und zwang mich zu einem Lächeln. Mit ihr und den anderen Verwandten ging es mir nicht anders. Wie sollte ich die Zuneigung geben, die sie suchten, wenn ich sie nicht empfand?
Endlich, endlich war die Stunde um. Ich hatte geglaubt, sie würde niemals vergehen. Menschen waren gekommen, um die anderen Patienten in diesem schrecklichen Krankenzimmer zu besuchen. Ihre Stimmen hallten zwischen den kahlen Wänden wider, das Dröhnen ihrer Schritte störte die Stille. Schwestern und Pfleger eilten geschäftig hin und her. Jemand schaltete das Fernsehgerät ein. Der alte Mann im nächsten Bett bekam einen heftigen Hustenanfall.
Doch mein Großvater lag ruhig und reglos. Wo immer er auch war, er befand sich anscheinend an einem Ort, der ungleich schöner und friedlicher war als dieser Saal.
Ich bemühte mich, meine Erleichterung nicht zu zeigen, als wir uns verabschiedeten. Ich war froh, daß niemand von mir erwartete, William und seine Frau am Abend nochmals hierher zu begleiten.
«Diese Kälte bekommt dir gar nicht, Kind«, sagte Elsie, als wir zum Wagen gingen.»Du kennst ja auch nur Südkalifornien. Ich kann mir vorstellen, wie unwohl du dich in diesem Wetter fühlst. Aber es war lieb von dir, daß du mitgekommen bist. Vater wird nicht mehr lange leben, und dann ist es vorbei. «Ich sah die Tränen in ihren Augen und berührte leicht ihren Arm.
«Du tust uns allen gut«, sagte sie mit brüchiger Stimme.»Vater hätte sich sicher gewünscht, in seinen letzten Stunden Ruth noch einmal zu sehen. Aber du bist ja genau wie deine Mutter. Du hast das gleiche Lächeln. Wenn man dich ansieht, meint man, deiner Mutter ins Gesicht zu schauen, wie sie damals war, als sie von hier fortging.«
Ich wandte mich ab und stieg schnell ins Auto. Elsie setzte sich nach vorn neben Ed, ohne mit dem Sprechen aufzuhören.»Es wäre so schön gewesen, wenn deine Mutter schon früher einmal auf Besuch gekommen wäre. Wahrscheinlich macht sie sich jetzt Vorwürfe.«
«Ja, das tut sie.«
«Ich kann's verstehen. Mir würde es genauso gehen. Aber die Zeit verstreicht, und die Jahre vergehen, und eines Tages erkennt man plötzlich, daß kein Mensch ewig lebt. «Ed fuhr den Wagen vom Parkplatz.
Ich war nie mit dem Tod in Berührung gekommen, hatte nie einen Sterbenden erlebt, nie eine Leiche gesehen, nie einen nahestehenden Menschen durch Tod verloren. Der Tod war ein abstrakter Begriff für mich, der mit mir nichts zu tun hatte. Wenn man unter Palmen und ewiger Sonne lebt, wenn man siebenundzwanzig ist und das ganze Leben noch vor sich zu haben glaubt, dann denkt man nicht an die eigene Vergänglichkeit. Man denkt nicht an das Ende der Dinge, an die Vergangenheit, an die vielen Leben, die vor einem gelebt worden sind. Wir rumpelten über das Kopfsteinpflaster die Straße hinunter. Elsie machte mich auf Orte aufmerksam, die mir als kleines Kind vertraut gewesen waren, und mein Herz blieb kalt. Ich war nichts weiter als eine Fremde unter Fremden, und mein Zuhause war auf der anderen Seite der Erde.
Kaum traten wir durch die Tür, war er wieder da, dieser bedrückende Schatten, den das Haus auf mich zu werfen schien. Diesmal jedoch führte ich ihn auf die Stimmung zurück, in die der Besuch bei meinem Großvater mich versetzt hatte. Geruch nach Fisch und Bratkartoffeln empfing uns, als wir die Tür zum Wohnzimmer öffneten. Großmutter stand in ihrer kleinen Küche und bereitete für uns das Mittagessen. Es war fast halb drei. Elsie und Ed blieben zum Essen.»Wie war er heute?«fragte Großmutter, nachdem wir uns alle vom panierten Fisch, den Erbsen und den Kartoffeln genommen hatten.
«Ganz gut, Mama. Er hat geschlafen.«
«Er wirkte sehr friedlich«, sagte Ed.
Großmutter nickte beruhigt.»Er bekommt gute Pflege im Krankenhaus. Er hat es immer warm, und das Essen ist ausgezeichnet. Hat er sich gefreut, Andrea zu sehen?«
«Ich glaube schon«, murmelte Elsie.
«Weißt du, Kind«, sagte Großmutter, sich mir zuwendend,»als dein Großvater vor ein paar Wochen krank wurde und nicht mehr gehen konnte und die Sanitäter ihn wegbrachten, da hätte ich mich am liebsten gleich zum Sterben niedergelegt. Es war, als wäre mir ein Teil von mir weggerissen worden. In den ersten Tagen habe ich schrecklich gelitten. Aber als ich sah, wie gut es ihm im Krankenhaus ging, wie liebevoll die Schwestern waren, wußte ich, daß es das Beste für ihn war. Ich habe Gott um Kraft gebeten, und allmählich konnte ich mich mit dem abfinden, was geschehen war. «Ihre ruhigen grauen Augen hielten mich fest. Dann sagte sie leise:»Er kommt da nie wieder raus, Andrea.«
«Aber Mama!«Elsie sprang auf.»Was redest du da? Er kommt bestimmt wieder nach Hause, du wirst schon sehen.«
«Kein Mensch lebt ewig, Elsie.«
Als Elsie und Ed sich etwas später zum Gehen bereit machten, blieb ich am Tisch vor dem Fenster sitzen, schaute hinaus in den blauen Novemberhimmel und fragte mich, was mich das alles anging.
Ich hörte, wie Großmutter, die die beiden zur Tür gebracht hatte, die Polsterrolle wieder vor die Ritze schob und die schweren Vorhänge zuzog. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.»Ich weiß, es war schwer für dich, deinen Großvater so zu sehen, Andrea. Aber er hat seinen Frieden, Andrea, daran mußt du denken.«
Ich mied ihren Blick. Ich fürchtete, sie könnte in meinen Augen die Wahrheit sehen, und die Wahrheit war, daß ich für meinen Großvater so wenig empfand wie für die anderen alten Männer, die krank oder sterbend in diesem Saal lagen. Die Realität des Todes, dem keiner von uns entgehen kann, war es, die mir so auf die Stimmung drückte. Diese Unausweichlichkeit, über die ich vorher nie nachgedacht hatte, und die mich nun plötzlich an Doug denken ließ.
«Ich weiß, was du brauchst«, sagte Großmutter aufmunternd.»Ich mach dir ein paar heiße scones, die werden dir schmecken. Ich habe schon lange keine mehr gebacken, aber ich habe alle Zutaten da. Na, wie war's? Hättest du Lust darauf?«Während sie auf ihren Stock gestützt in die Küche humpelte, stand ich vom Stuhl auf und versuchte, die schwarze Stimmung abzuschütteln.
«Kann ich — dir was helfen?«rief ich.
«Kommt nicht in Frage. Du brauchst gar nicht erst reinzukommen. Setz dich ans Feuer und mach's dir gemütlich. «Ich ging ein Weilchen im Zimmer umher und blieb schließlich vor der Glasvitrine in der Ecke stehen. Auf einem der Borde standen mehrere Bücher. Ich las die Titel, entdeckte eines, das mich interessierte, und öffnete die Tür, um es herauszunehmen. Es war eine in schwarzes Leder gebundene Ausgabe von Rider Haggards She. Auf der Innenseite war ein Ex Libris eingeklebt.»Naomi Dobson«, stand darauf,»zur Belohnung für fleißigen Schulbesuch und guten Fortschritt. 31. Juli 1909.«
Ich schlug das Buch auf und blätterte darin herum. Ich hatte diese Abenteuergeschichte über eine Gruppe von Forschern, die ins finsterste Afrika gezogen waren und dort eine unsterbliche Königin entdeckten, vor langer Zeit in der Highschool gelesen. An einer Stelle, die mir noch im Gedächtnis war, hielt ich inne und las.»Schwach und bedrückt wird der Sterbliche angesichts des Staubs, der ihn an seinem Ende erwartet.«
Wie wahr, dachte ich. Wie sehr hatte mich der Anblick meines sterbenden Großvaters bedrückt, da er mir bewußt gemacht hatte, daß auch mich eines Tages dieses Ende erwartete.
Als ich das Buch zurückstellte, überkam mich plötzlich ein Gefühl, als sträubten sich mir buchstäblich die Haare im Nacken. Es war ein unheimliches Gefühl, das langsam vom
Nacken zum Kopf hinaufkroch. Ich stand ganz still. Ich hatte den Eindruck, daß die Luft um mich herum sich verändert hatte. Und daß es im Zimmer dunkler geworden war.
Ich hob den Kopf und sah mich um. Das Wohnzimmer sah aus wie immer. Und doch — es war merkwürdig, irgend etwas war tatsächlich anders. Ich hätte nicht sagen können, was es war, aber mir fiel auf, daß es unheimlich still geworden war. Langsam drehte ich den Kopf zum Fenster und fuhr zusammen.
Ein Junge stand draußen, nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre. Gesicht und Hände an die Scheiben gedrückt, spähte er zu mir herein. Eine Sekunde lang starrte ich ihn erstaunt an, wobei mir der Gedanke durch den Kopf schoß, daß er etwas Vertrautes an sich hatte, dann rief ich laut:»Großmutter!«Der Junge blieb am Fenster stehen, den Blick mit einem Ausdruck unverhohlener Neugier auf mich gerichtet. Er hatte schwarzes Haar und dunkle Augen. Seine Miene wirkte trotzig durch die kleine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen.»Großmutter!«
Ich zwang mich, von der Vitrine weg zur Küche zu gehen.»Was ist denn?«rief Großmutter zurück.
«Da draußen ist ein — «Ich drehte den Kopf zum Fenster. Der Junge war verschwunden.»Was denn, Kind?«
Sich die mehlweißen Hände an der Schürze wischend, kam sie zur Tür. Aus der Küche konnte ich das Zischen des Fetts in der Pfanne hören.
«Eben hat ein Junge durch das Fenster geschaut.«
«Was? Diese frechen Bengel!«Sie packte ihren Stock, machte unsicher kehrt und humpelte in die Küche zurück. Ich folgte ihr am kleinen Tisch vorbei, wo alles voller Mehl war und der Teig halb ausgerollt unter dem Nudelholz lag, zur Hintertür. Die ganze Zeit schimpfte Großmutter halblaut vor sich hin. Sie öffnete die Tür, und die arktische Kälte schlug uns entgegen. Vorsichtig stieg sie auf das holprige Backsteinpflaster hinunter.»Diese Früchtchen! Machen sich einen Spaß daraus, alte Leute zu ärgern. Drum haben wir nie eine Türglocke einbauen lassen. Da klingeln sie nur und laufen dann davon. Also, wo ist der Bursche?«Ich sah mich in dem kleinen Hinterhof um und wußte, daß wir vergeblich suchen würden.»Er muß durch das Tor hinausgelaufen sein«, sagte ich kleinlaut.
«Was? Nie im Leben. Das Tor ist schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. Schau nur selbst nach, es rührt sich überhaupt nicht.«
Fröstelnd inspizierte ich Schloß und Türangeln. Alles für immer zugerostet. Dann musterte ich die Mauer, die schmalen Erdstreifen mit den dürren Rosenbüschen darunter, um zu sehen, ob er Fußabdrücke hinterlassen hatte. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und spähte in Mrs. Clarks kleinen Garten und sah die endlose Kette von Mauern und Gärten und schmutzigen alten Häusern.
«Was ist da hinten, Großmutter?«
«Eine Gasse, die kein Mensch benützt. Und auf der anderen Seite das große Feld. Newfield Heath, das reicht bis zum Kanal runter. Der Bengel ist längst über alle Berge.«
«Ja…«Ich rieb mir die Arme. Die Rosenbüsche waren unberührt. Wenn jemand über die Mauer geklettert wäre, hätte er jedoch unweigerlich in ihnen landen müssen. Ich fröstelte.
«Komm wieder rein, Kind. Vergiß die Geschichte. Es war nur ein Dummejungenstreich.«
Ich folgte ihr wieder ins Haus und sperrte die Hintertür ab. Immer noch fröstelnd setzte ich mich ins Wohnzimmer. Weder die Wärme der Gasheizung noch der heiße Tee konnten die Erinnerung an das unheimliche Gefühl vertreiben, das mich befallen hatte, ehe ich den Jungen am Fenster gesehen hatte. Und ebenso wenig den Eindruck, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Unser Abendessen bestand aus Butterbroten und heißer Milch. Danach setzten wir uns wieder an den Kamin. Ich kuschelte mich tief in den Sessel und ließ mich von der Wärme des Zimmers einlullen. Ich war unglaublich müde und wäre am liebsten sofort zu Bett gegangen, aber ich spürte, wie sehr Großmutter meine Gesellschaft genoß, wieviel Freude es ihr machte, mich zu umsorgen, und zwang mich deshalb, wach zu bleiben. Sie schwatzte eine Weile über dieses und jenes, über das Ausländerproblem in England, über lang vergangene glückliche Tage, erzählte mir aus der Kindheit meiner Mutter, von William, Elsie und Ruth, die in diesem Haus aufgewachsen waren, von dem Tag, als meine Mutter der Familie ihren zukünftigen Mann vorgestellt hatte. Ich hörte ihr gern zu, auch wenn ich vieles, was sie erzählte, schon von meiner Mutter gehört hatte. Nach einer Weile jedoch fiel mir auf, daß sie es sehr bewußt vermied, von der ferneren Vergangenheit zu sprechen. Als gäbe es da eine Tür, die sie nicht zu öffnen wagte.
Dann sagte sie:»Ich hab hier irgendwo einen Karton mit Fotografien. Die mußt du dir ansehen.«
Ich blieb mit geschlossenen Augen in meinem tiefen Sessel sitzen, gab mich der Stille und dem Frieden des Raums hin und versuchte, eine Mauer aufzurichten gegen die Erinnerungen, vor denen ich hierher geflohen war. Ich hoffte, es würde nicht mehr lang dauern, bis ich ohne Schmerz an Doug denken konnte.»Na bitte, da sind sie schon. «Großmutter hatte den Karton mit den Fotos gefunden und setzte sich wieder zu mir.»Das sind alles Bilder von deiner Mutter und Elsie und William, als sie noch klein waren. «Sie kramte in der Schachtel.»Hier ist eine von uns allen, als wir am Meer waren. Das muß so um 1935 gewesen sein. Deine Mutter war damals fünfzehn, Elsie sechzehn, und William war noch ein richtiger kleiner Lauser.«
Ich sah mir die unscharfe Aufnahme an und beugte mich dann neugierig über den Karton. Die Fotografien lagen kunterbunt durcheinander, lauter Schwarzweißaufnahmen, die alle etwa aus der gleichen Zeit zu stammen schienen.
Aber am Rand des Durcheinanders, an die Wand des Kartons gedrückt, so daß eine Ecke in die Höhe ragte, entdeckte ich ein Foto, das größer war als die anderen und, nach dem zu urteilen, was von ihm zu sehen war, beträchtlich älter. Während Großmutter weiter schwatzte, griff ich in den Karton und zog das Bild heraus.
Ich hatte recht gehabt. Sie war wirklich älter als die anderen. Viel älter. Eine sepiabraune, leicht verblaßte Fotografie mit einem Knick in der Mitte, die drei Kinder auf einer Treppe vor einem Haus zeigte.
Wie gebannt starrte ich auf das Foto. Einen Moment stockte mir der Atem.
«Großmutter«, sagte ich dann.
Sie blickte auf das Foto in meiner Hand.»Was ist das für eines?«
«Wer sind die Kinder, Großmutter?«
«Warte, da muß ich erst meine Brille aufsetzen. «Sobald sie ihre Bifokalbrille auf der Nase hatte und die Gesichter der drei Kinder erkennen konnte, verzog sie unwillig den Mund.»Oh«, sagte sie wegwerfend.»Das da! Das sind die Townsends, Andrea. Die Familie deines Großvaters. Das sind Harriet, Victor und John. Komm, gib her, das ist nichts — «Und sie griff nach dem Foto, um es mir wegzunehmen.
Aber ich hielt es fest. Ich sah, daß meine Hand zitterte.»Wer — «Ich mußte meine Lippen befeuchten.»Wer ist wer, Großmutter?«
«Wie?«
«Wer ist welches Kind, Großmutter? Zeig es mir.«
«Hm, warte mal. «Sie beugte sich vor und tippte mit dem Finger der Reihe nach auf die drei Gesichter.»Das ist Harriet. Das ist Victor. Und das ist John.«
Der Junge in der Mitte. Der zwischen dem Mädchen mit den Korkenzieherlocken und dem kleineren Jungen im Matrosenanzug. Der, den Großmutter Victor genannt hatte. Dieser Junge hatte am Nachmittag durch das Fenster hereingesehen.