Kapitel 3

«Aber das ist doch unmöglich«, protestierte sie.»Das hast du dir eingebildet.«

«Nein, bestimmt nicht. Das ist der Junge, den ich am Fenster gesehen habe.«

«Es war vielleicht einer, der ihm ähnlich sah — «

«Nein. Er war genauso angezogen. Es ist mir in dem Moment nicht aufgefallen, aber er hatte altmodische Sachen an, die gleichen Sachen, die er hier auf dem Foto trägt. Ich kann mir das gar nicht eingebildet haben, Großmutter. Da hatte ich das Foto doch noch gar nicht gesehen. Er war so lebendig, wie du jetzt vor mir sitzt.«

Großmutter schüttelte beinahe mitleidig den Kopf.»Andrea, das sind deine Nerven. Du bist überreizt. Das ist ja auch kein Wunder, wo du kurz vorher bei deinem Großvater warst — «

«Was hat das denn damit zu tun?«Ich krampfte die Hände ineinander, um sie am Zittern zu hindern. Ein Gefühl schrecklicher Vorahnung ängstigte mich.

«Als Kind hat dein Großvater Victor sehr ähnlich gesehen. Du bist sehr niedergedrückt aus dem Krankenhaus heimgekommen, das habe ich wohl bemerkt, und du hast dir Gedanken gemacht. Du hattest deinen Großvater vor dir, hattest sein Gesicht noch im Gedächtnis, und in deiner Phantasie hast du ihn als jungen Mann gesehen, vielleicht weil du so traurig warst. Du hast die Jahre einfach ausgelöscht und ihn wieder jung gemacht. Und dann hast du geglaubt, du siehst ihn am Fenster.«

Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich wollte nicht mit Großmutter streiten, die dieses Gespräch sichtlich erregte. Aber ich mußte eine Antwort finden.

«Großmutter«, sagte ich langsam,»wie ist Großvater mit diesem Victor Townsend verwandt?«

Ich sah, daß meine Frage sie quälte, aber sie antwortete.»Victor Townsend«, sagte sie,»war der Vater deines Großvaters. «Mein Blick kehrte zu dem Foto zurück.»Victor Townsend war dein Urgroßvater.«

Ich konnte den Blick nicht von dem Bild wenden, und während ich das junge, schon männlich schöne Gesicht unter dem vollen schwarzen Haar betrachtete, den trotzigen Zug wahrnahm, den ihm die feine Furche zwischen den Brauen gab, fühlte ich mich wie unter einem Bann. Die alte Fotografie übte den gleichen hypnotischen Zwang auf mich aus wie in der Nacht zuvor jene unbekannte Kraft, die mich veranlaßt hatte, zum Spiegel über dem Kamin zu blicken.

Die drei Kinder standen auf einer Treppe vor einem Haus, das ich nicht kannte. Das kleine Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, wirkte unscheinbar, obwohl man sich offensichtlich größte Mühe gegeben hatte, sie herauszuputzen. Das gerüschte Kleidchen und die Schleifen im Haar konnten die Schlichtheit ihres Gesichts nicht vertuschen, sondern hoben sie eher noch hervor. Der zweite Junge, jünger als Victor, mit sanfteren Zügen, stand verlegen neben seinem Bruder. Victor Townsend, der Älteste, dominierte.»Das ist vor ihrem Haus in London aufgenommen«, bemerkte Großmutter in einem Ton, der deutlich sagte, daß sie lieber nicht davon sprechen würde.»Das muß also etwa 1880 gewesen sein, kurz bevor sie das Haus hier kauften. Victors Vater, dein Ururgroßvater, war bei einer Londoner Firma beschäftigt und wurde nach Warrington geschickt, um eine neue Niederlassung zu eröffnen. Als die Familie hierher kam, war das Haus gerade fertig geworden. Sie waren die ersten, die einzogen.«

«Ich habe nie von ihm gehört. Von Victor, meine ich«, sagte ich.»Meine Mutter hat nie etwas von ihm erzählt, obwohl er doch ihr Großvater war.«

«Und sie wird dir auch nichts von ihm erzählen. «Großmutters Stimme hatte einen ominösen Ton.

«Warum nicht? Hat sie ihn nicht gekannt? Wenn er ihr Großvater war, dann muß sie doch — «

«Victor Townsend ist vor langer, langer Zeit spurlos verschwunden. «Großmutter blickte in die blauen Flammen des Gasfeuers.»Ich habe ihn auch nie gekannt, obwohl er der Vater meines Mannes war. Er verschwand eines Tages noch vor der Geburt deines Großvaters und wurde nie wieder gesehen. «Ich blickte immer noch fasziniert auf das Gesicht auf der Fotografie. Die noch unausgebildeten Züge des Jungen zeigten schon erste Anzeichen der Willenskraft und der Charakterstärke, die später den Mann auszeichnen würden.

«Und niemand weiß, was aus ihm geworden ist?«fragte ich.»Ach, da gibt es alle möglichen Geschichten. Die einen behaupten, er wäre zur See gefahren. Andere sagen, er hätte sich in Norfolk mit einer anderen Frau zusammengetan. Und wieder andere…«Als sie nicht weitersprach, hob ich den Kopf.»Ja? Was sagen die?«

Doch sie schüttelte ärgerlich den Kopf.»Ich hab schon zuviel geschwatzt. Lassen wir das. Ich kann dir nur eines sagen: Victor Townsend war ein schlechter und böser Mensch. Er war der Teufel in Person, und als er verschwand, weinte ihm keiner eine Träne nach.«

Ich sah noch eine Weile schweigend auf das Bild, bis plötzlich ein kalter Luftzug durch das Zimmer fuhr und mich in die Gegenwart zurückholte. Widerstrebend legte ich das Foto wieder in den Karton.»Hast du noch andere Bilder von ihnen, Großmutter? Von den Townsends.«

«Ja, es gibt ein ganzes Album.«

«Kann ich es mir ansehen?«

Sie vergrub das Foto in den Tiefen des Kartons und klappte den Deckel so heftig darüber, als hätte sie Angst, es könnte herausspringen.»Ich hab keine Ahnung, wo das Album rumliegt. Das letztemal hab ich es vor Jahren gesehen. Aber es ist sicher noch irgendwo im Haus.«

«Ist es das Familienalbum der Townsends?«

Sie nickte.

Ich überlegte einen Moment.»Großmutter, das Porträt, das du mir gestern abend gezeigt hast, das von der jungen Frau — du hast gesagt, sie war meine Urgroßmutter.«

«Richtig. Jennifer Townsend, das arme Ding.«

«Wieso arm?«

«Weil Victor Townsend ihr Schreckliches angetan hat. So, und jetzt ist es genug.«

Ich lief in meinem Zimmer hin und her. Ich redete mir ein, ich täte es, um mich warmzuhalten, aber in Wirklichkeit war es reine Nervosität.

Ich hielt mir vor, daß ich übermüdet sei, daß dieser Besuch nicht nur körperlich, sondern auch seelisch anstrengend sei und eine Menge Kraft koste, und es fiel mir nicht schwer, die seltsamen Begebenheiten — den Jungen am Fenster, die Erstickungsangst der vergangenen Nacht — als Ausgeburten der Erschöpfung abzutun.

Aber diese Dinge waren es nicht, die mich jetzt beschäftigten. Es war etwas anderes, eine Ahnung, die sich mit Vernunft und Logik nicht vertreiben ließ. Immer stärker wurde das Gefühl, daß es mit diesem Haus etwas besonderes auf sich hatte. Am vergangenen Abend, nach meiner Ankunft, und den ganzen folgenden Tag lang hatte ich mir vorzumachen versucht, es sei nur meine Einbildung; aber diesmal wußte ich es. In diesem Haus stimmte etwas nicht. Und das war der Grund, weshalb ich jetzt rastlos wie ein Tier im Käfig hin und her lief.

Kurz zuvor hatte ich zu meiner Bestürzung und Enttäuschung erfahren, daß meine Großmutter kein Telefon hatte. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis gehabt, meine Mutter anzurufen, ich brauchte sie; ich brauchte den Kontakt mit ihr und meiner wahren Realität, die Tausende von Kilometern entfernt war. Außerdem war dies hier ihre Familie, und dies war ihr Haus.

Was hatte denn ich mit alldem zu tun?

Ohne Telefon fühlte ich mich isoliert, von der Welt abgeschnitten. Ein merkwürdiges Einsamkeitsgefühl, das ich nicht kannte, bemächtigte sich meiner. Ich fühlte mich verwaist, verlassen, allein gelassen mit einer fremden alten Frau in diesem beklemmenden Haus.

Hinzu kam, daß ich ständig an Doug denken mußte. Ich hatte die Reise hierher als Möglichkeit gesehen, Abstand von Doug zu bekommen und ihn zu vergessen. Tatsächlich jedoch beschäftigte ich mich mehr denn je mit ihm. Und das Verrückte war, daß meine Erinnerungen nicht um den letzten bitteren Abend kreisten, sondern um die glücklichen Stunden, die wir miteinander verlebt hatten. Sosehr ich mich bemühte, ich konnte meiner Gedanken nicht Herr werden.

Ich konnte nicht verstehen, woher das kam. Siebenundzwanzig Jahre lang hatte ich mich stets perfekt unter Kontrolle gehabt. Wieso schaffte ich das jetzt plötzlich nicht mehr? Es war, als hätten sich meine Gedanken selbständig gemacht und trieben ihr Spiel mit mir.

Es war fast Mitternacht, als es klopfte. Erschrocken fuhr ich herum.

«Andrea, Kind, kannst du nicht schlafen?«fragte meine Großmutter hinter der Tür.

«Doch, doch — es ist alles in Ordnung, Großmutter. «Ich trat zögernd zur Tür und blieb stehen. Sie hatte wahrscheinlich meine Schritte und das Knarren der Bodendielen gehört.»Es ist alles in Ordnung, Großmutter«, wiederholte ich.»Ich hab nur noch ein bißchen Gymnastik gemacht. Geh ruhig wieder zu Bett.«

«Möchtest du einen Becher warme Milch?«fragte sie. Gewissensbisse plagten mich. Ich sah sie in ihrem Flanellnachthemd zitternd draußen im eisigen Flur stehen.»Nein, danke, Großmutter. Ich kriech jetzt gleich ins Bett.«

«Ist es dir auch warm genug, Kind? Möchtest du vielleicht noch eine Wärmflasche?«

«Nein, nein, nicht nötig.«

«Na gut. Vergiß nicht, die Wurst vor die Tür zu schieben, damit du keinen Zug bekommst. Gute Nacht, Kind, schlaf gut. «Ich hörte sie mühsam durch den Flur zu ihrem Zimmer humpeln und die Tür schließen. Dann war es wieder still im Haus. Widerstrebend schob ich die Polsterrolle vor die Türritze, knipste das Licht aus und kroch ins Bett.

Innerhalb von Sekunden war ich eingeschlafen. Es begann wie in der vergangenen Nacht. Es riß mir förmlich die Augen auf, und ich war mit einem Schlag hellwach, ohne zu wissen wieso. Dann der Moment totalen Gedächtnisverlusts. Danach der erstickende Druck auf meinen Körper.

«Nein«, stöhnte ich und kämpfte gegen die aufsteigende Panik. Ich blieb ganz still liegen und versuchte, das Gefühl zu analysieren, festzustellen, ob ich wirklich wach war oder nur träumte, ob es vielleicht lediglich die schweren Decken waren, die den Alptraum heraufbeschworen.

Doch je länger ich so lag, desto wacher und aufmerksamer wurde ich, und mit der wachsenden Wachheit wuchs auch die Angst. Das war kein bloßer Traum. Es befand sich wirklich eine unsichtbare Kraft im Raum, die meinen Körper in die Matratze drückte und mir die Brust einengte, so daß jeder Atemzug zur Qual wurde. Aber ich wollte der Angst nicht nachgeben. Ich versuchte, sie zu beherrschen und mich zur Ruhe zu zwingen. Ich atmete so langsam ich konnte und füllte bei jedem schmerzhaften Atemzug meine Lunge mit der eiskalten Luft und merkte nach einer Weile, daß ich den furchtbaren Druck aushaken konnte, wenn ich ganz still lag.

Plötzlich nahm ich eine Veränderung wahr. Obwohl nicht der geringste Lichtschimmer die schwarze Finsternis durchdrang, die mich einhüllte, wußte ich, daß ich nicht mehr allein im Zimmer war. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Wo im Raum das geisterhafte Wesen sich befand, konnte ich nicht feststellen; es schien sich von allen Seiten zu nähern. Es durchdrang die Luft und sickerte durch die Wände und stieg durch die Bodendielen auf. Es umgab mich, schwebte über mir, erfüllte den ganzen Raum mit Grabeskälte.

Rechts von mir hörte ich ein Geräusch.

Ich hatte Angst hinzusehen und ich hatte Angst, nicht hinzusehen. Unendlich langsam drehte ich den Kopf zur Seite und sah zu meinem Entsetzen die Schlafzimmertür weit offenstehen. Wieder versuchte ich zu schreien, aber es wurde nur ein jämmerliches, atemloses Wimmern.

Die Tür stand weit offen. Und aus einer unsichtbaren Quelle, vielleicht aus dem Flur, strömte geisterhaftes Licht ins Zimmer. Plötzlich sah ich Victor Townsend an meinem Bett stehen. Da konnte ich endlich schreien.

«Andrea! Andrea!«Meine Großmutter trommelte mit schwachen Fäusten an die Tür.

Blind griff ich zur Wand und fand wie durch ein Wunder sogleich den Lichtschalter. Ich setzte mich kerzengerade auf.»Andrea, was ist?«rief meine Großmutter besorgt. Die Tür war geschlossen, und die Polsterrolle lag fest vor der Ritze.

Ich schlotterte an allen Gliedern.

«Andrea?«Großmutter stieß die Tür auf und streckte den Kopf herein.»Was ist denn los?«Sie starrte mich erschrocken an.»Ach, du lieber Gott!«rief sie.»Was ist dir denn passiert?«Mit gekrümmtem Rücken humpelte sie auf ihren Stock gestützt durch das Zimmer. Ihr dünnes Haar stand wirr von ihrem Kopf ab.

«Du bist ja weiß wie die Wand! Was ist denn passiert?«Die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, saß ich da. Meine Zähne schlugen aufeinander. Sagen konnte ich nichts.»Du bist ja klatschnaß!«Sie drückte mir die Hand auf die Stirn.»Du hast Fieber. Das muß ja ein schrecklicher Alptraum gewesen

«G-g — «, stammelte ich, aber ich konnte nicht sprechen.

«Und wie du zitterst. Komm, Kind, du gehörst ans Feuer. Hier oben bleibst du mir nicht. Ich mach dir unten das Sofa zurecht — «

«Großmutter!«stieß ich hervor.

«Was denn, Kind?«

«Ich hab ihn gesehen. «Meine Stimme klang wie ein erstickter Schrei.

«Wen? Wovon redest du?«

«Er war es wirklich. Ich hab es nicht geträumt. Meine Zimmertür stand weit offen, und er stand genau da, wo du jetzt stehst.«

Großmutter runzelte die Stirn. Sie zog die Steppdecke vom Bett und wickelte sie fest um meinen Körper.»Komm jetzt. Du hast einen bösen Traum gehabt, weiter nichts. Du brauchst jetzt erst mal einen Schluck warmen Kirschlikör, und dann legst du dich unten hin, wo es warm ist.«

Ich war zu verwirrt, um Widerstand zu leisten. Brav folgte ich ihr in den Flur hinaus und zum Wohnzimmer hinunter. Dort drückte sie mich in den Sessel, packte mich fest in die Decke und murmelte dabei:»Ich würde es mir nie verzeihen, wenn du hier krank wirst. Ich bin schuld. Ich hätte dich nicht in dem eiskalten Zimmer schlafen lassen sollen. Von jetzt an schläfst du hier unten. Da ist es so warm, wie du es gewöhnt bist. «Sie ging in die Küche, und ich lehnte den Kopf zurück und starrte zur Decke hinauf. Ich war am ganzen Körper schweißnaß, aber mein Mund war wie ausgetrocknet, und ich zitterte heftiger denn je.

Was war das gewesen? Was hatte ich dort oben wahrgenommen, das selbst jetzt noch an mir hing? Es war nicht nur die Erscheinung Victor Townsends gewesen. Nein, es war noch etwas anderes gewesen — ein ganz besonderes Grauen, das den ganzen Raum erfüllt und mich wie eine todbringende Wolke umhüllt hat. Der Geist Victor Townsends war erschreckend gewesen, ja, aber dieses andere…

Etwas Böses… Übelwollendes…

Die Uhr auf dem Kaminsims tickte leise. Die Wärme des Gasfeuers stieg auf und umfing mich. Mein Körper entspannte sich. Meine Gedanken begannen zu treiben.

Woher hatte ich gewußt, daß es Victor Townsend war? Der da an meinem Bett gestanden hatte, war kein fünfzehnjähriger Junge gewesen, sondern ein erwachsener Mann. Dennoch hatte ich ihn instinktiv als Victor erkannt. Konnte es wirklich sein, daß einfach meine Nerven überreizt waren, wie Großmutter am Nachmittag gemeint hatte? Produzierte meine Phantasie einfach unterschiedliche Bilder meines eigenen Großvaters, wie er vielleicht in seiner Jugend gewesen war?

Aber wir war dann zu erklären, daß der Junge am Fenster genauso ausgesehen hatte wie der auf der alten Fotografie, daß selbst die Kleider die gleichen gewesen waren? Und wieso hatte ich eben in meinem Zimmer sofort gewußt, daß der Mann an meinem Bett Victor war?

Irgendwo in den unbewußten Bereichen meines Geistes lag die Antwort; ich spürte, wie sie sich neckend regte, um entdeckt zu werden, aber ich war zu erschöpft, um ihr nachzuforschen. Ich war zu schwach zum Nachdenken. Es schien etwas mit dem Geist dieses Hauses zu tun zu haben. Mit der beunruhigenden Wirkung, die es auf mich hatte. Und mir schien, daß Victors Erscheinen ein Zeichen gewesen war, eine Botschaft, vielleicht eine Warnung. Aber wovor?

Großmutter stand plötzlich an meiner Seite. Ich fuhr in die Höhe.

«Diese Kälte hier tut dir nicht gut«, sagte sie und reichte mir ein Glas.»Ich weiß noch, im Krieg die Amerikaner, die haben sie auch nicht vertragen. Nicht einmal dein Vater, obwohl der aus Kanada kam, konnte sich daran gewöhnen. Es ist eine andere Art von Kälte, verstehst du, sie geht einem durch und durch. Das halten nur wir Engländer aus. Hier, Kind, trink. Heißer Kirschlikör.“

Ich nahm das Glas und trank unter ihrem mütterlich besorgten Blick. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß ich gehorsam meine Medizin nahm, machte sie sich daran, das Sofa für mich zu richten. Sie nahm die Kissen weg, holte Decken aus der Kommode und legte mir ein Sofakissen als Kopfkissen hin. Während ich ihr zusah, trank ich den warmen Likör und kehrte in Gedanken zu den Geschehnissen der Nacht zurück.

Die Angst war verflogen, aber eine starke Neugier war geblieben. Ich musterte aufmerksam die Wände und die Möbelstücke in diesem überladenen Zimmer und dachte, vielleicht war es schon so, als er hier lebte.

Dann dachte ich wieder an das schwermütige junge Gesicht Jennifers, das mich am Abend zuvor so bewegt hatte. Das Gesicht meiner Urgroßmutter. Was hatte sie erlebt? Hatte sie auch Victor keine Träne nachgeweint, als er verschwunden war? War sie vielleicht sogar froh gewesen, seiner ledig zu sein? Ich beobachtete meine Großmutter, die mit gichtigen Händen die Decken auf dem Sofa zurechtzog, und sagte mir, daß sie weit mehr über die Townsends wissen mußte, als sie mir bisher erzählt hatte. Sie schien es zu scheuen, über die Familie ihres Mannes zu sprechen. Aber warum? Sie hatte ihren Schwiegervater nie gekannt, hatte nur von anderen von seinen Sünden gehört (und was waren das überhaupt für Sünden, fragte ich mich, jetzt beinahe erheitert. Hatte er gespielt? Getrunken? Im Beisein von Damen geflucht? Die spießigen viktorianischen Moralvorstellungen verletzt? So schlimm konnte er doch gar nicht gewesen sein!). Großmutter hatte ihn nicht persönlich gekannt, aber sie mußte eine Menge von meinem Großvater gehört haben. Und ich wollte alles erfahren, was sie wußte.

«So! Ist das nicht gemütlich, Kind? Wir lassen das Gasfeuer an, dann frierst du bestimmt nicht. Nun kriech unter die Decken, damit du schnell wieder warm wirst.«

Jetzt war nicht der geeignete Moment, Großmutter auszufragen. Wir waren beide todmüde. Morgen vielleicht, bei Tageslicht, würde ich nach der Familie Townsend fragen und nicht lockerlassen, bis ich die ganze Geschichte dieses Hauses kannte.»Soll ich dir das Licht anlassen?«fragte sie, schon an der Tür. Sie sah in diesem Moment uralt aus und strahlte dennoch eine Schönheit aus, die mich ergriff.

«Ja, bitte«, antwortete ich.»Ich mach es dann später aus.«

Sie zog die Tür hinter sich zu, und gleich darauf hörte ich sie die Treppe hinaufhumpeln. Nach einer langen Weile waren das Schlurfen ihrer Füße und das Klopfen ihres Stocks in der ersten Etage zu hören, ihre Tür wurde geöffnet und geschlossen, dann war es still.

Ich streckte mich auf dem Sofa aus. Die Uhr tickte, das Gasfeuer machte kein Geräusch. Draußen, hinter den dicht verhüllten Fenstern, ging kein Wind. Rund um mich herum war drückende Stille.

Mein Blick wanderte wieder zur Decke hinauf und hielt an jener Stelle inne, an der die zwei Wände sich trafen. Lange starrte ich zu dem Punkt hinauf. Ich sah wieder die weit offene Zimmertür vor mir, durch die das gespenstische Licht strömte. Ja, sie war offen gewesen. Aber als ich das Licht eingeschaltet hatte, war sie geschlossen gewesen, die Polsterrolle fest vor der Ritze. Das konnte nur eines bedeuten. Sie war von innen geschlossen worden.

Immer noch starrte ich zu der Stelle hinauf, an der Wand und Zimmerdecke zusammentrafen. Hier, im Erdgeschoß, trennte mich diese Wand vom unbenutzten früheren Salon. Oben, in der ersten Etage, trennte sie die beiden Schlafzimmer voneinander. Ich starrte zur Decke hinauf, als könnte ich auf die andere Seite sehen, und ich dachte, wer oder was auch immer meine Zimmertür geschlossen hat, befindet sich noch dort oben.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, flutete Sonnenlicht durch das Fenster und tauchte das ganze Zimmer in Helligkeit. Von meinem Platz auf dem Sofa aus konnte ich strahlend blauen Himmel zwischen grauen Wolken sehen und ein paar Spatzen, die auf der Backsteinmauer saßen und den schönen Tag genossen. Dann bemerkte ich, daß die Küchtentür offen war, und hörte Großmutter, die vor sich hin summte, während sie mit dem Geschirr hantierte.

Ich setzte mich auf und sah auf die Uhr. Es war fast Mittag. Großmutters Likör hatte Wunder gewirkt. Ich hatte herrlich geschlafen, fühlte mich so frisch und ausgeruht wie seit Tagen nicht. Das Sofa war sehr bequem gewesen, ich hatte nicht gefroren, und vor allem hatte ich keinen >Besuch< bekommen.

Jetzt konnte ich über die nächtlichen Begebenheiten lächeln. Wie anders sehen doch die Dinge bei Tag aus! Bei Nacht sind alle Schatten bedrohlich, alle Geräusche unheimlich. Aber bei Tageslicht erkennen wir, daß diese Ängste nur Ausgeburten unserer Phantasie sind. Das Sonnenlicht vertreibt Schatten und Ängste und flößt gleichzeitig Mut ein. Ich konnte den nächtlichen Schrecken jetzt gelassen ins Auge sehen. Träume jedoch hatte ich gehabt.

Nachdem ich meiner Großmutter guten Morgen gewünscht und ihr versichert hatte, daß ich gesund und munter sei, ging ich nach oben ins Schlafzimmer, wo ich, ganz ohne Angst und ein wenig beschämt ob meiner nächtlichen Hysterie, meine Toilettensachen und die Kleider auspackte, die ich an diesem Tag anziehen wollte.

Ja, ich hatte Träume gehabt. Nichts Greifbares, zusammenhanglose Szenen, Wortfetzen, verschwommene Gesichter, die vor mir auftauchten und sich wieder auflösten. Menschen, die mich umgaben, zu mir herunterblickten und flüsterten. Und im Hintergrund die Melodie von >Für Elise<, die jemand auf einem blechern klingenden Klavier spielte. Aber Träume eben, nichts als Träume.

Als ich nach einem Abstecher ins eiskalte Badezimmer wieder hinunterging, fühlte ich mich wie neugeboren und bereit, dem neuen Tag ins Auge zu sehen. Großmutter hatte mir eine große Kanne Tee und warme Butterbrötchen auf den Tisch gestellt. Ich setzte mich und begann mit Heißhunger zu essen.»Als ich heute morgen ins Zimmer kam«, bemerkte Großmutter lächelnd,»hast du so tief geschlafen, daß du, glaub ich, nicht mal aufgewacht wärst, wenn eine Bombe ins Haus eingeschlagen hätte.«

«Ja, weil du mich so gut versorgt hast, Großmutter.«

«Keine Alpträume mehr?«

Ich dachte an die vagen Träume und konnte mich ihrer nicht mehr erinnern.»Nein, keine Alpträume mehr.«

«Hör zu, Kind, heute koche ich nicht, denn du besuchst ja heute abend Onkel William und Tante May. Da gibt es sicher etwas Gutes zu essen. William ist schon so gespannt, dich wiederzusehen, daß er es kaum erwarten kann.«

Ich nickte und goß mir von dem süßen Tee ein. Merkwürdig klang das: Er würde mich wiedersehen, für mich jedoch würde es wie ein erstes Zusammentreffen sein.

«May gefällt dir bestimmt. Sie kommt aus Wales, eine feine Person. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an sie. Du warst ja erst zwei, als ihr nach Amerika gegangen seid. Sie und deine Mutter haben sich sehr gut verstanden. Die beiden steckten fast immer zusammen. Sie kann dir sicher viel erzählen. «Das erinnerte mich an etwas. Während ich Zitronenmarmelade auf mein Brötchen strich, betrachtete ich nachdenklich das Gesicht meiner Großmutter. Sie sah jünger aus heute morgen, ausgeruht. Und guter Stimmung. Vielleicht war das der richtige Moment.»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte ich, ohne sie anzusehen.»Aber kannst du mir jetzt nicht noch ein bißchen was von den Townsends erzählen?«

«Da gibt's nicht viel zu erzählen. Sie kommen ursprünglich aus London. Eine gute Familie. Soviel ich weiß, lebt ein anderer Zweig der Familie oben in Schottland.«

«Das meinte ich eigentlich nicht. Ich wollte gern mehr über meinen Urgroßvater wissen, Victor Townsend.«

Sie stellte ihre Tasse nieder und sah mich so nachdenklich an, als wäre sie dabei, eine wichtige Entscheidung zu fällen. Schließlich sagte sie bedächtig:»Andrea, es gibt gewisse Dinge, die man am besten vergißt. Du hättest gar nichts davon, wenn ich dir erzählen würde, was in diesem Haus vorgefallen ist. Das waren Dinge, über die kein anständiger Christenmensch sprechen möchte. Ich weiß von ihnen und dein Großvater auch, aber unseren Kindern haben wir nie etwas davon gesagt. William, Elsie und deine Mutter wissen nichts von der Zeit damals. Und für dich ist es das Beste, wenn du auch nichts erfährst.«

«Heißt das, daß es bei den Townsends schwarze Schafe gab?«Großmutters Blick war sehr ernst.»Wenn es nur das wäre! Ich weiß genau, was du denkst, Andrea — daß ich eine spießige alte Frau bin und mich die heutige Sittenlosigkeit schockiert. Gut, du hast recht, ich bin schockiert von der heutigen Lebensart. Aber ich weiß auch, daß sich die Zeiten nun mal ändern und daß es gewisse Dinge gibt, die man einfach akzeptieren muß. Zum Beispiel, daß junge Leute miteinander leben, ohne verheiratet zu sein. Aber es gibt auch Dinge, die zu jeder Zeit schlimm sind, gleich, in welchem Jahrhundert man ist, ja, schreckliche, unaussprechliche Dinge, Andrea. Und solche Dinge sind damals in diesem Haus vorgefallen.«

Der Ton meiner Großmutter erschreckte mich, dennoch sagte ich:»Aber ich möchte es trotzdem wissen, Großmutter.«

«Warum?«

«Weil…«Ich suchte nach einer Erklärung. Warum konnte ich die Sache nicht einfach fallenlassen und vergessen, wie sie das offensichtlich wünschte? Warum dieser Drang zu wissen?» Weil die Townsends auch meine Familie sind, genau wie du und Großvater und Elsie und William. Ich möchte euch kennenlernen, und ich möchte auch meine Vorfahren kennenlernen. Ich bin von so weit hergekommen, ich möchte etwas mit nach Hause nehmen.«

«Und was ist mit den Dobsons? Das ist meine Seite der Familie. Von denen kann ich dir erzählen.«

«Ja, von denen auch, Großmutter. Aber ich möchte alles wissen. Auch über die Townsends.«

«Ich kann nicht — «

«Ich habe keine Wurzeln, Großmutter«, unterbrach ich sie.»Meine Vergangenheit besteht aus fünfundzwanzig Jahren in Kalifornien und damit basta. Da hört sie einfach auf. Wie ein gerissener Film. Aber das kann doch nicht alles sein. «Sie sah mich bekümmert an.

«Wenn ich eine Vergangenheit habe, dann möchte ich sie kennen — ganz! Ich möchte das Gute genauso wissen wie das Schlechte. Ich habe ein Recht darauf, finde ich.«

Über den kleinen Tisch hinweg starrten wir einander an, und meine Worte dröhnten mir in den Ohren. Was um alles in der Welt redete ich da? Nie zuvor hatte mich die Vergangenheit gekümmert. Nie zuvor hatte es mich interessiert, woher ich gekommen war, was für ein Erbe ich in mir trug. Bis zu diesem Moment waren mir sogar die lebenden Verwandten gleichgültig gewesen. Woher kam dieser plötzliche Drang zu wissen? Wozu sollte er gut sein?

Es ist dieses Haus, dachte ich.

«Natürlich hast du ein Recht, alles zu wissen, Kind, aber…«Ich beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. Es spiegelte deutlich, was in ihr vorging: den Widerwillen, von der Vergangenheit zu sprechen, den Abscheu über das, was sie wußte, den inneren Zwiespalt, ob sie sprechen oder schweigen sollte. Schließlich sagte sie seufzend:»Also gut, Kind. Ich sag dir, was du wissen möchtest.«

Wir standen vom Tisch auf und setzten uns an den Kamin. Ich drängte sie nicht. Sie brauchte Zeit und Mut. Ich wartete schweigend.

«Alles, was ich weiß«, sagte sie schließlich,»weiß ich von Robert, deinem Großvater. Als ich ihn vor zweiundsechzig Jahren heiratete, lebte er allein in diesem Haus. Er war der einzige Überlebende der Familie, die seit dem Jahr 1880 in diesem Haus gelebt hatte. Ich habe seine Familie nie kennengelernt. Nicht einmal dein Großvater kannte sie, denn alle verschwanden oder starben sie, noch ehe er aus den Kinderschuhen heraus war. Robert wurde in diesem Haus von seiner Großmutter großgezogen, und sie starb kurz ehe er zum Pioniercorps ging. Auch sie habe ich nie kennengelernt. Aber sie war es, die ihm die Geschichten über die Townsends erzählt hat. Und er erzählte sie mir.«

Großmutter holte tief Atem, als müsse sie sich wappnen.»Er erzählte mir, daß sein Vater, Victor Townsend, ein nichtswürdiger Mensch war. Manche sagen, er hätte sich der Schwarzen Kunst verschrieben. Andere behaupten, er hätte mit dem Satan selbst in Verbindung gestanden. Wundern würde es mich nicht. Er hat schreckliche Dinge getan. Aber ich werde dir nicht sagen, was es war, Andrea. Nichts in der Welt wird mich dazu bringen, über die unsäglichen Scheußlichkeiten zu sprechen, die dieser Mensch — dieser Teufel begangen hat. Nur eines kann ich dir sagen: Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«

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