Kapitel 17

Als ich zu mir kam und die Augen aufschlug, sah ich ein Wohnzimmer, das ich nie zuvor gesehen hatte. Und in meinem verwirrten Zustand fragte ich mich, wo bin ich jetzt? Aber als ich den Kopf zur Seite drehte und das Sonnenlicht sah, das zum Fenster hereinströmte, wußte ich es.

«Es hat aufgehört zu regnen«, rief meine Großmutter aus der Küche.

Ich setzte mich auf. Der Duft von bruzzelndem Schinken und frisch geröstetem Brot wehte mir in die Nase. Ich hatte einen Bärenhunger.

«Was ist heute für ein Tag, Großmutter?«rief ich.»Mittwoch, Kind.«

Mittwoch! Ich war seit zwölf Tagen hier in diesem Haus.»Mann, hab ich einen Hunger«, sagte ich und sprang auf. Ich fühlte mich herrlich. Mein ganzer Körper war entspannt und frisch.

Großmutter streckte den grauen Kopf ins Wohnzimmer.»Ach, endlich siehst du wieder besser aus, Kind. Das schlechte Wetter ist vorbei. Heute kannst du ins Krankenhaus fahren. Und danach ab ins Reisebüro mit dir, damit du deinen Flug buchen kannst.«

«Tut mir leid, Großmutter«, entgegnete ich, während ich Decken und Kissen und meine Kleider aufsammelte.»So schnell wirst du mich nicht los. Geh doch selbst ins Reisebüro, wenn du willst, aber ich hab noch einige Besuche zu machen.«

Sie sagte noch etwas, aber ich hörte es nicht mehr. Ich rannte schon die Treppe hinauf und ins Bad. Dusche gab es keine in diesem Haus, aber die Wanne tat es auch. Ich ließ sie mit heißem Wasser vollaufen, schrubbte mich gründlich ab, hielt den Kopf unter den Wasserhahn und wusch alle Überreste der vergangenen achtzig Jahre von mir ab.

Ich fühlte mich wie neugeboren.

Nachdem ich mich in der schneidenden Kälte des Vorderzimmers, die ich jetzt unangenehm deutlich spürte, angekleidet hatte, blieb ich noch einen Moment vor dem alten Kleiderschrank stehen. Ich sah hinunter auf seinen staubigen Boden und erinnerte mich, was Jennifer und ich dort in der Düsternis gefunden hatten. Dann schüttelte ich mir die Nässe aus dem Haar, sah zum Bett hinüber und lächelte.

Beim Frühstück aß ich für drei.»Na, dein Appetit ist wieder da, wie ich sehe.«

«Ich fühle mich prächtig, Großmutter.«

«Und Farbe hast du auch wieder. Aha, jetzt hast du dir doch eine von meinen Strickjacken übergezogen, das beruhigt mich.«

«Blieb mir ja nichts anderes übrig. Es ist ganz schön kalt hier drinnen. «Ich lachte sie an und spülte meinen Tee hinunter. Draußen war ein wunderschöner Tag, sonnig, ein leuchtend blauer Himmel, an dem kleine weiße Wölkchen dahintrieben, und sogar

Vogelgezwitscher hörte ich. Ich hätte am liebsten gejauchzt vor Wonne.

Wir waren alle neu geboren worden.

«Du hast eben doch eine richtige Grippe gehabt«, sagte Großmutter.»Und jetzt ist sie vorbei. Siehst du, Ärzte sind ganz überflüssig. Der Körper weiß schon, was gut für ihn ist.«

«O ja, Großmutter. «Ich lächelte und dachte an Dr. Victor Townsend und seine wunderbar heilenden Hände.»Deine Arthritis ist auch weg, wie ich sehe.«

«Weg nicht, Kind, nur eingeschlafen bis zum nächsten Regenguß.«

Wir lachten ein wenig und schwatzten viel und waren uns einig, daß die britische Wirtschaft zum Teufel ging. Als kurz nach Mittag Elsie und William an die Tür klopften, ließ ich sie herein und begrüßte beide mit Umarmungen. Sie waren Victors Enkel, und wenn ich mir William genau ansah, konnte ich sogar eine gewisse Ähnlichkeit entdecken.

Nachdem ich mich warm eingepackt hatte, gingen wir in den beißend kalten Tag hinaus. Es mochte hell und sonnig sein, es war dennoch Winter in Warrington, und ich genoß es, zur Abwechslung einmal wieder ein wenig zu frösteln.

Der Zustand meines Großvaters war unverändert. Er lag fast bewegungslos auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick zur Zimmerdecke hinauf. Elsie ging sogleich zum gewohnten Ritual über, öffnete Kekspackungen und Saftflaschen, die sie ihm mitgebracht hatte, und erzählte dabei die ganze Zeit von dem fürchterlichen Wetter, dem Regen und dem Sturm, der uns daran gehindert hatte, ins Krankenhaus zu kommen.

Ich saß derweilen stumm auf meinem Stuhl und sah ihn nur an. Er war Victors Sohn. Er war in jener einen Nacht im Vorderzimmer gezeugt worden, in einer Nacht, in dem nicht nur ihm das Leben geschenkt worden war, sondern auch mir. Ich wußte, mein Leben lang würde ich zurückblicken und wissen, daß ich, ganz gleich, was in den kommenden Jahren geschehen sollte, erfahren hatte, wie es ist, von einem Mann wahrhaft geliebt zu werden. Wir blieben eine Stunde bei meinem Großvater. Ich sprach kaum, dafür schwatzten Elsie und William nach gewohnter Art und taten so, als könnte er sie verstehen.

Und während ich auf meinen Großvater hinuntersah, dachte ich, ich bin froh, daß es vorbei ist. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich gewünscht, es würde ewig weitergehen, da hatte ich gefürchtet, Victor zu verlieren und mich wieder der Gegenwart stellen zu müssen. Aber das alles hat sich jetzt geändert. Ich bin ein Kind der Gegenwart und nicht der Vergangenheit, und Victor gehört dorthin, wo er geboren wurde — in die Vergangenheit. Wir können niemals wieder zusammenkommen.

Und dennoch bin ich froh und würde diese Erfahrung gegen nichts auf der Welt eintauschen. Ich trauere nicht, daß sie vorüber ist. Ich freue mich daran. Denn sie hat mich lebendiger gemacht. Nur eines hatte ich noch zu tun. Als Elsie meinte, es sei Zeit zu gehen, und anfing, ihre Sieben-Sachen einzupacken, sagte ich:»Ich würde gern noch einen Moment bleiben, Elsie. Ich möchte Großvater etwas sagen. «Sie sah mich erstaunt an.

«Würdet ihr mich mit ihm allein lassen? Ja, bitte? Ich muß bald wieder abreisen, und ich glaube nicht, daß ich so schnell wieder nach England komme — weißt du, ich möchte einfach noch ein bißchen mit ihm reden, ehe ich gehe. «Elsie sah William an.»Du meinst, wir sollen rausgehen?«

«Wenn es euch nichts ausmacht.«

«Aber er kann dich doch gar nicht hören — «Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf.»Natürlich kannst du mit ihm reden, Kind, es wird ihm bestimmt guttun. William und ich warten im Auto. Laß dir ruhig Zeit.«

«Danke, Elsie.«

Sie klappten ihre Stühle zusammen, stellten sie in die Ecke und gingen durch die Schwingtür hinaus. Ich wartete am Fenster, bis ich sie aus dem Gebäude kommen und über den Parkplatz zum Auto gehen sah, dann kehrte ich an das Bett meines Großvaters zurück, kniete nieder, so daß mein Kopf mit seinem auf gleicher Höhe war, und sagte dicht an seinem Ohr:»Großvater? Kannst du mich hören? Ich bin's, Andrea.«

Sein Blick blieb weiter an die Zimmerdecke gerichtet, sein Gesicht zeigte keine Regung.

«Großvater«, sagte ich wieder leise und eindringlich.»Ich bin's, Andrea, deine Enkelin. Kannst du mich hören? Ja, ich glaube, du hörst mich. Aber du bist eingesperrt. Eingesperrt in einem Körper, der sich nicht bewegen kann. Aber du kannst mich hören, nicht wahr?«

Wieder beobachtete ich ihn, das ruhige Gesicht, die blicklosen Augen. Es gab kein Anzeichen dafür, daß er mich gehört hatte. Dennoch fuhr ich zu sprechen fort:»Ich muß dir etwas sagen, Großvater, ehe ich wieder nach Amerika fliege. Es geht um deinen Vater — Victor. Bitte hör mir genau zu. «Ich weiß nicht, wie lange ich an dem weißen Krankenbett kniete und zu dem alten Mann sprach. Ich erzählte langsam und genau und berichtete ihm alles, was mir in seinem Haus in der George Street widerfahren war. Ich ließ nichts aus, sondern begann bei meinem ersten Abend, als ich >Für Elise< gehört hatte, und endete bei meinem Traum der vergangenen Nacht und meinem letzten Gespräch mit Victor. Ich beschrieb ihm jede einzelne Episode, jedes Detail, und ließ mir viel Zeit, um sicher zu sein, daß er alles verstand.

Am Ende sagte ich:»Nun weißt du es, Großvater. Deine Mutter hat dich nicht verachtet und gehaßt. Sie hat dich geliebt. Sie hat dich sehr geliebt. Du warst die einzige Freude in ihrem Leben. Sie ist nicht gestorben, weil sie die Erinnerung an die Nacht deiner Zeugung nicht ertragen konnte, wie man dir das erzählt hat; sie ist an gebrochenem Herzen gestorben. Sie glaubte, Victor hätte sie vergessen. Du hast immer geglaubt, sie müsse dich gehaßt haben, Großvater, sie müsse schon deinen Anblick gehaßt haben, weil du sie an einen grauenvollen Moment in ihrem Leben erinnert hast. Aber so war es nicht. Es war genau umgekehrt. Du hast sie an den einzigen Moment überwältigenden Glücks in ihrem Leben erinnert. Großvater, du warst ein Kind der Liebe!«Ich hing an seinem Bettrand und hätte nicht sagen können, ob das, was ich ihm erzählt hatte, irgendeine Wirkung auf ihn hatte. Ich sah immer nur das Gesicht eines gequälten kleinen Jungen vor mir, der bei seiner invaliden Großmutter lebte, die ihn mit Schauergeschichten über seinen Vater großgezogen hatte, weil sie selbst es nicht anders gewußt hatte.

Noch einmal neigte ich mich zu ihm, um ihm noch ein Letztes zu sagen. Ich sagte ihm, seine Mutter und sein Vater seien in jenem anderen Reich, das wir nicht begreifen können und in das er selbst bald eintreten würde, wieder vereint. Und ich sagte ihm, daß sie dort auf ihn warteten.

Danach richtete ich mich auf und wartete, unsicher, ob er irgend etwas von dem, was ich gesagt hatte, aufgenommen hatte. Sein Gesicht blieb unbewegt, seine Augen waren stumpf und leer. Aber dann sah ich, wie sich seine Lippen bewegten. Es sah aus, als wollte er etwas sagen.

Ich beugte mich vor und fragte:»Was ist, Großvater?«Immer noch bewegte er die Lippen und versuchte unter großer Anstrengung ein Wort zu bilden. Während er kämpfte, sah ich, wie eine Träne sich aus seinem Augenwinkel löste und auf das Kopfkissen rollte.

Plötzlich leuchtete in seinen Augen, die auf einen Punkt zwischen dem Bett und der Zimmerdecke gerichtet waren, ein seltsames Licht auf. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas sah. Seine Lippen zuckten und sein Kinn bebte, aber das Wort wollte sich nicht formen.»Was willst du sagen, Großvater?«

Er versuchte den Kopf zu heben, den Blick jetzt auf etwas gerichtet, das über seinem Bett zu schweben schien. Dann zuckte etwas wie ein Lächeln über seine Lippen, und er sagte mit ganz normaler Stimme:»Vater!«Da wußte ich, was mein Großvater sah. Er starb im selben Moment. Er starb mit diesem Lächeln auf dem Gesicht.

Meinen Verwandten habe ich nie erzählt, was ich in dem Haus in der George Street erlebt habe. Es war ihnen nicht bestimmt, davon zu wissen. Doch eben diese Erlebnisse brachten mich ihnen näher, ließen mich erkennen, daß meine Tante und mein Onkel, meine Cousinen und mein Vetter genau wie meine Mutter und ich Victor Townsends Erbe in sich trugen. Ich konnte diese Menschen lieben, die für mich zu Beginn meines Aufenthalts nichts weiter gewesen waren als Fremde mit einer merkwürdigen Sprache und seltsamen Gebräuchen.

Am folgenden Sonntag fuhren wir nach Morecambe Bay, und ich lernte meine anderen Verwandten kennen, die jüngere Generation. Ich habe selten einen so schönen vergnügten Tag erlebt. Ich fand es interessant und aufregend, diese Menschen kennenzulernen, Victors Nachkommen wie ich, und es fiel mir nicht schwer, sie liebzugewinnen. Wir hatten ja etwas gemeinsam, das stärker war als rein zufällige Freundschaft und Sympathie. Am Tag meiner Abreise sagte meine Großmutter zu mir:»Du mußt meinetwegen nicht traurig sein, Kind, jetzt, wo dein Großvater tot ist. Wir haben zweiundsechzig wunderbare Jahre miteinander verbracht, er und ich, und um nichts in der Welt würde ich sie hergeben. Ich hätte mir keinen besseren Mann wünschen können. Soll ich dir mal etwas sagen: Es ist gar nicht schwer, alt zu werden, wenn man an Gott und ein Weiterleben nach dem Tod glaubt. Weißt du, Kind, ich glaube, daß meine dreiundachtzig Jahre auf dieser Erde nur eine Art Anfang von dem waren, was noch vor mir liegt. Ein modernes junges Ding wie du wird das vielleicht für albern halten, aber ich bin fest überzeugt, daß ich deinen Großvater wiedersehen werde, wenn ich gestorben bin. Wir werden wieder zusammenkommen, denn etwas so Einfaches wie der Tod kann uns nicht trennen. Dazu waren wir hier auf Erden viel zu lange zusammen. Wir werden weiter zusammenbleiben, dein Großvater und ich, und ich gehe ohne Angst dem Tod entgegen.«

Bevor ich ging, machte sie mir noch ein Geschenk. Es war die in Leder gebundene Ausgabe des Buches She, die ich mir Wochen zuvor angesehen hatte. Während ich es in der Hand hielt, erinnerte ich mich der pessimistischen Weltanschauung, über die ich nachgedacht hatte, nachdem ich eine bestimmte Passage gelesen hatte — daß die einzige Zukunft, die uns erwartet, Staub und Verfall ist. Da war ich inzwischen ganz anderer Meinung. Ich wußte, daß in diesem Moment Victor und Jennifer irgendwo weiterlebten, und daß meine Großmutter in der Tat nach einer gewissen Zeit wieder mit meinem Großvater vereint werden würde. Ich wußte, daß wir alle am Ende unsere eigene Ewigkeit finden würden.

Und ich wußte jetzt auch, was mir bestimmt war. Geradeso, wie mir gestattet worden war, die Vergangenheit zu ändern, wurde mir jetzt die Möglichkeit gewährt, meine Zukunft zu ändern. Auf keinen Fall wollte ich die Chance vertun, das zu bekommen, was Jennifer und Victor sich ersehnt hatten, aber niemals hatten haben können. Diese Chance wurde mir geboten; ich wollte sie ergreifen, ehe es zu spät war. Ich konnte nur hoffen, daß Doug noch da sein würde, wenn ich zurückkehrte, denn ich hatte ihm soviel zu sagen. Ich hatte gelernt,»ich liebe dich «zu sagen. Erklärungen habe ich keine. Wie das alles geschehen ist, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen. Und warum es geschah… Nun, auch darüber läßt sich mit Gewißheit nichts sagen, wenn ich auch sicher bin, daß alles lange vorbestimmt war. Mein Großvater lag im Sterben, er mußte die Wahrheit erfahren. Und Victor existierte an einem Ort, der» grau und häßlich «war, wußte nichts 'darüber, was nach seinem Tod geschehen war. Und auch Jennifer war gestorben, ohne die Wahrheit zu wissen. Ich war die Mittlerin gewesen. Ich möchte gern glauben, daß ich dazu beigetragen habe, die Dinge zurechtzurücken und alles gutzumachen.

Als ich das Haus in der George Street betreten hatte, war ich ein Mensch ohne Vergangenheit und ohne Zukunft gewesen. Als ich ging, war ich mit den Schätzen einer reichen Vergangenheit beladen und trug in mir die Gewißheit, daß eine helle, lebendige Zukunft auf mich wartete.

Ehe ich draußen in Edouards kleinen Renault stieg, drehte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Haus. Mein Blick wanderte zum Vorderzimmer hinauf, wo im Fenster der vertraute weiße Spitzenvorhang hing. Er flatterte leise im Luftzug, als wollte er mir Lebewohl sagen.

ENDE

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