Kapitel 13

Meine Großmutter mußte lautlos ins Zimmer gekommen sein. Erst als sie die Vorhänge aufzog, erwachte ich.»Schau dir nur diesen gräßlichen Regen an!«sagte sie mit ärgerlichem Kopf schütteln.

Ich wälzte mich auf die Seite und blinzelte in die von Regenschleiern verhangene Welt vor dem Fenster. Dann drehte ich mich wieder auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke hinauf. Mein Kopf dröhnte.

«Du hast aber lange geschlafen«, stellte meine Großmutter fest, während sie im Zimmer umherhumpelte.»Das ist ein gutes Zeichen. Da hast du wenigstens mal richtig Ruhe bekommen. «Beinahe hätte ich gelächelt. Großmutter hatte keine Ahnung, daß ich erst bei Sonnenaufgang eingeschlafen war, nachdem ich praktisch die ganze Nacht aufgesessen hatte.

«Der Tee ist gleich fertig. Möchtest du heute mal Sirup auf deinen Toast, Kind? Der gibt dir vielleicht ein bißchen Energie. «Obwohl Großmutter sich bemühte, resolut und kraftvoll zu sprechen, fiel mir auf, wie müde ihre Stimme klang.»Dein Großvater hat immer gern Sirup auf sein Brot gegessen. Hm, und zum Essen mach ich uns den Fisch, den Elsie gestern mitgebracht hat. Nach Morecambe Bay können wir bei diesem Wetter auf keinen Fall fahren. «Ich sah wieder in die graue Düsternis hinaus und fragte mich, wie lange wir in diesem Haus gefangen sein würden.»Großmutter«, sagte ich und setzte mich auf.»Gestern hat kein Mensch Großvater besucht. Wie soll das denn heute werden?«

«Also, wir fahren bestimmt nicht ins Krankenhaus. Vielleicht fährt dein Onkel William allein hin. Ich kann jedenfalls bei diesem Wetter keinen Fuß vor die Tür setzen. So, und jetzt geh ins Bad und mach dich fertig, damit wir frühstücken können. «Ich rannte die Treppe hinauf, wusch mich in aller Eile und ging ins Vorderzimmer, um mir frische Sachen zu holen. Eine Viertelstunde später saß ich schon wieder unten am Tisch.»Man spürt den verdammten Wind durch sämtliche Fensterritzen, nicht wahr?«sagte Großmutter, während sie ihren Toast mit Butter bestrich.

Ich betrachtete ihr Gesicht im kalten Morgenlicht, sah die blauen Lippen, die fahle Haut, die geschwollenen Augen.»Du hast nicht gut geschlafen, nicht wahr, Großmutter?«

«Nein, Kind, weiß Gott nicht. Ich sag dir ja, bei solchem Wetter tun mir sämtliche Gelenke weh. Und dann finde ich einfach keine Ruhe. Heute abend nehme ich mir aber gleich drei Wärmflaschen mit nach oben.«

«Warum schläfst du nicht hier unten, wo es warm ist?«

«Kommt nicht in Frage. Du hast die Wärme nötiger als ich. Im übrigen schlafe ich am liebsten in meinem eigenen Bett. Wenn ich mir eine zweite Jacke anziehe und noch eine Wärmflasche mitnehme, wird es schon gehen.«

«Dein Schlafzimmer muß wirklich eiskalt sein, Großmutter.«

«Elsie sagt immer, im ganzen Haus war's kalt wie in einer Gruft. Also spielt es gar keine Rolle, wo ich schlafe. Aber ich bin's gewöhnt und fühl mich wohl hier, und keine zehn Pferde bringen mich in so eine Sozialwohnung…«

Sie schwatzte weiter, und ich dachte, wenn du wüßtest, wie zutreffend der Vergleich mit einer Gruft ist.

Niemand kam uns besuchen. Regen und Sturm tobten mit solcher Heftigkeit, daß es unmöglich war, auch nur die Haustür zu öffnen. Vom oberen Schlafzimmer aus blickte ich zur Straße hinunter und sah, wie gefährlich bei diesem Unwetter schon eine kurze Autofahrt sein mußte. Mir war klar, daß niemand vorbeikommen würde, solange es anhielt.

Großmutter und ich setzten uns also ins Wohnzimmer an den Kamin, sie mit ihrem Strickzeug, ich mit einem Buch. Aber ich nahm nichts von dem auf, was ich las, meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Am späten Nachmittag hatte Großmutter so starke Schmerzen in Hüften und Knien, daß sie nicht fähig war, sich in die Küche zu stellen und das versprochene Abendessen zu kochen. Ich machte uns statt dessen eine Dosensuppe heiß, und dazu aßen wir Butterbrot. Mir reichte das vollkommen, da ich noch immer keinen rechten Appetit hatte, aber ich sah, wie enttäuscht Großmutter war, daß sie nicht imstande war, mir etwas Besonderes zu kochen. Nach unserem bescheidenen Abendessen saßen wir noch ein Stündchen beieinander, ohne viel zu sprechen, dann sagte Großmutter:»Ich glaube, ich gehe jetzt zu Bett, Andrea. Wenn ich noch länger hier sitze, komm ich überhaupt nicht mehr hoch. Bringst du mir die Flaschen, wenn das Wasser warm ist, Kind?«

«Aber was willst du denn den ganzen Nachmittag tun, Großmutter?«

«Ach, ich mach mir das Radio an und les ein bißchen. Das entspannt mich immer so. Tut mir leid, daß ich dich ganz allein lasse, Kind, aber ich bin in dem Zustand sowieso keine gute Gesellschaft. Ich bin nur froh, daß es dein Großvater schön warm hat und gute Pflege bekommt. Das ist mir ein großer Trost. «Ausnahmsweise mußte ich Großmutter die Treppe hinaufhelfen. Ich schob von hinten, während sie wie ein Hund auf allen vieren Stufe um Stufe hinaufkroch. Wir kamen nur langsam voran, aber als wir oben waren, sah ich, wie beschwerlich es für sie gewesen wäre, das allein zu schaffen. Sie war aschfahl und konnte kaum atmen.

«Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, Kind«, sagte sie, nach Luft schnappend.»Ich habe bessere Tage gesehen. «Beim Auskleiden ließ sie sich nicht von mir helfen, sondern bestand darauf, daß ich ins warme Wohnzimmer hinunterging und wartete, bis das Wasser kochte. Nachdem ich die drei Wärmflaschen gefüllt hatte, trug ich sie in ihr Zimmer hinauf und half ihr ins Bett. Sie schob sich mehrere dicke Kissen in den Rücken, zog zwei Strickjacken an, legte sich einen gehäkelten Schal um die Schultern und drapierte die Wärmflaschen um ihre Beine. Dann zog sie das Radio, das auf dem Nachttisch stand, näher zu sich heran.

«So, jetzt hab ich's gemütlich, Kind. Geh du ruhig wieder runter. «

«Wenn du etwas brauchst, Großmutter, dann klopf einfach mit dem Stock auf den Boden. Ich komm dann sofort. Du wirst später sicher Hunger bekommen, und die Wärmflaschen müssen auch frisch gefüllt werden.«

«Ja, Kind. Du bist wirklich ein Segen. Ich bin so froh, daß du hier bist. «Sie legte mir einen Arm um den Hals und zog mich kurz an sich. Als sie sich wieder in die Kissen sinken ließ, sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte.»Was bin ich doch für eine Heulsuse!«rief sie.»Aber du bist deiner Mutter so ähnlich. So, und jetzt ab mit dir, runter; wo's warm ist.«

Ich eilte ins Wohnzimmer hinunter, aber nicht der Wärme wegen, denn die Kälte machte mir schon lang nichts mehr aus, sondern in der Hoffnung, bald wieder in die Vergangenheit entführt zu werden.

Und tatsächlich, als ich die Tür öffnete, sah ich vor mir das Wohnzimmer der Familie Townsend mit seiner bunten Tapete und den grünen Sesseln. In einem der Sessel, vom warm glühenden Feuerschein eingehüllt, saß Jennifer. Sie war allein. Sehr langsam und behutsam trat ich ein und schloß leise die Tür hinter mir, um das feine Gespinst des friedlichen Bildes nicht zu zerstören. Ich trat ein paar Schritte von der Tür weg und blieb an die Wand gelehnt stehen.

Jennifer war mit einer Handarbeit beschäftigt. Ich sah den Stickrahmen in ihrer Hand, die feine rote Seide des Garns, das Blitzen der Nadel, die auf und ab stichelte. Jennifer trug ihr Haar hochgekämmt und mit dünnen Bändern durchflochten. Ihr lavendelfarbenes Kleid war hochgeschlossen und reichte fast bis zu ihren Fußspitzen. Sie wirkte sehr gelassen und sehr weiblich, wie sie am Kamin saß, das zarte Gesicht leicht gerötet von der Glut, und sich konzentriert ihrer Arbeit widmete.

Ich dachte wieder an die Begegnung der vergangenen Nacht und meine wilde Hoffnung, mit ihr Kontakt aufnehmen zu können, indem ich sie ansprach. Aber das war eine Illusion gewesen. Sobald ich ihren Namen gerufen hatte, war sie verschwunden. Aber nun war sie wieder hier, und obwohl ich auf der anderen Seite des Zimmers stand, spürte ich, daß sie an Victor dachte. Aus dem Flur drang das Geräusch fester männlicher Schritte herein, und ich hielt den Atem an. Wir würden ihn wiedersehen! Die Tür wurde aufgestoßen, ein kalter Luftzug blies ins Zimmer, und dann sah ich zu meiner Enttäuschung John Townsend hereinkommen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er einen Moment lang stehen. Er schwankte ein wenig und blickte Jennifer, die von ihrer Arbeit aufsah, schweigend an.»Du bist ja völlig durchnäßt«, sagte sie und wollte aufstehen.»Kümmre dich nicht um mich«, brummte John ungeduldig und fuhr sich mit einer Hand über die blutunterlaufenen Augen. Ich konnte den Alkoholdunst in seinem Atem riechen, als er sprach.»Kümmre dich lieber um dich selbst.«

«Was soll das heißen?«.

«Du!«brüllte er sie plötzlich an und streckte den Arm aus, als wollte er sie mit wackligem Zeigefinger durchbohren.»Du hast mich verraten! Mich, deinen Mann.«

«John!«Jennifer sprang auf. Die Handarbeit fiel unbeachtet zu Boden.

«Du warst bei Victor, habe ich recht? Du hast ihm gesagt, daß ich Schulden habe und die Buchmacher hinter mir her sind. Und du hast ihm gesagt, daß ich das Spielen nicht lassen kann.«

«Aber John!«

Er machte einen Schritt auf sie zu, und ich sah, wie sich die Besorgnis in Jennifers Augen in Furcht verwandelte. Sie drückte beide Hände auf die Brust, als er auf sie zukam, aber sie wich nicht vor ihm zurück.

«Das ist nicht wahr, John«, entgegnete sie ruhig.»Ich war nicht bei Victor.«

«Woher weiß er dann so genau Bescheid? Er weiß sogar den Betrag, den ich schulde. Bis auf den letzten verdammten Penny. Und er wollte ihn bezahlen, Jenny. Er hat mir Geld angeboten!«

«Was ist daran so — «

«Gottverdammich, hast du denn überhaupt keinen Stolz?«brüllte er sie an. Zitternd vor Wut kam er noch näher an sie heran.»Mußtest du ausgerechnet meinem Bruder über unsere privaten Sorgen dein Herz ausschütten? Wo bleibt eigentlich dein Schamgefühl?«

«Es war Harriet, John. Sie war bei ihm, nicht ich.«

«Das ist eine gemeine Lüge. Harriet würde niemals mit Victor über Dinge sprechen, die sie nichts angehen. So dumm ist sie nun auch wieder nicht. Du warst es, Jenny, und ich weiß es, weil ich genau beobachtet habe, wie ihr beide euch anseht. Du kriegst ja richtige Kuhaugen, wenn du meinen Bruder siehst. Du brauchst gar nicht zu versuchen, es zu leugnen. Und er kann aus seinem Herzen auch keine Mördergrube machen. Ihm läuft förmlich das Wasser im Mund zusammen, wenn er dich anschaut.«

«O mein Gott!«flüsterte Jennifer und wandte sich ab.»Warum mußtest du gerade zu ihm gehen, Jenny?«John stand ziemlich wacklig auf den Beinen. Seine Augen waren glasig, und sein Blick war verschwommen. Es erschreckte mich, ihn so zu sehen, angetrunken und nachlässig. Sein Umhang war voller Schmutzspritzer, und den Hut hatte er auf den Hinterkopf geschoben.

«Du hast wohl geglaubt, ich hätte keine Ahnung, was vorgeht, Jenny?«fragte er jetzt in ruhigerem Ton.»Du hast wohl geglaubt, ich wüßte nicht, warum Victor jeden Sonntag zum Essen herkommt? Da kann ich nur lachen, Jenny. Erst läßt mein Bruder sich ein ganzes Jahr lang nicht blicken, obwohl er praktisch nebenan wohnte, und dann schreibst du ihm ein einziges nettes Briefchen, und schon steht er hechelnd wie ein Hund vor unserer Tür. Und seitdem erscheint er regelmäßig jeden Sonntag. Hältst du mich für blind?«

Jennifer antwortete nicht. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte lautlos. Ich sah es am Beben ihrer Schultern. John streckte zaghaft einen Arm nach ihr aus, hielt dann jedoch schwankend inne. Ich sah in seinem Gesicht das Erschrecken plötzlicher Erkenntnis und gleich darauf die Bitterkeit der Gewißheit. Er hatte nur einen Verdacht geäußert, aber nun hatte er die Antwort. Und sie tat weh.

Er zwinkerte ein paarmal mit den Augen, wie um die Alkoholnebel zu durchdringen, und ließ den Arm schlaff herabfallen.»Er wird dich nie bekommen«, murmelte er.»Ich lasse es nicht zu. Ich weiß, du hast mich nie geliebt, aber mein Bruder wird niemals — «Jennifer drehte sich mit einer heftigen Bewegung um. Ihr Gesicht war entsetzt.»John! Das ist nicht wahr! Ich habe dich geliebt, und ich liebe dich immer noch. Wie kannst du hier vor mir stehen und mich der Lüge und des Betrugs beschuldigen, wenn nichts davon wahr ist? Harriet ist wegen deiner Wettschulden zu Victor gegangen, John, nicht ich. Und ich liebe dich immer noch. «Er dachte einen Moment über ihre Worte nach und sagte dann:»Genauso wie an dem Tag, an dem wir geheiratet haben?«Sie zögerte zu lange.

Abrupt machte John Townsend kehrt, stürmte zur Tür zurück und riß sie zornig auf.»Wir brauchen keine Almosen von meinem Bruder«, schrie er wütend.»Victor hat jetzt wirklich alles, nicht wahr? Er hat Geld, er hat einen Ruf wie ein Heiliger, und er hat meine Frau. Aber ich sage dir eines, Jennifer, weit wird er damit nicht kommen.«

Ich spürte das Zittern der Wände, als er krachend die Tür hinter sich zuschlug. Als ich mich wieder Jennifer zuwenden wollte, war sie verschwunden.

Ich stand wieder im schäbigen Wohnzimmer meiner Großmutter. Statt des grünen Samts lagen auf den Sesseln die geblümten Schonbezüge. Der Teppich war alt und abgenützt, im Kamin stand der Gasofen. Ich war zurück in der Gegenwart.

Dieses episodenhafte Leben in der Vergangenheit erschöpfte mich. Das plötzliche Erscheinen und Verschwinden der Townsends war jedes Mal ein Schock. Meine Nerven waren angegriffen, meine Hände zitterten, ich hatte keinen Appetit, der Schlaf mied mich, und mein Gehirn lief ständig auf Hochtouren. Eine Frage beschäftigte und quälte mich beinahe unablässig. Wie kam es, daß Victor von seinen Nachfahren der Stempel des Bösen und Nichtswürdigen aufgedrückt worden war, wenn doch, soweit ich erlebt hatte, John derjenige mit dem schwachen, um nicht zu sagen schlechten Charakter gewesen war? Victor Townsend war ein guter und ehrenhafter Mensch gewesen, voll Mitgefühl mit den Leidenden und treu in seiner Liebe zu einer einzigen Frau. Wieso wurde er von seinen Nachfahren so verleumdet? Ich fand die Hitze im Zimmer plötzlich erdrückend. Gereizt stand ich auf und schaltete den Gasofen aus. Während ich noch über das Gerät gebeugt stand, hörte ich plötzlich fern und traumhaft die Klänge eines Klaviers. Abrupt richtete ich mich auf. >Für Elise< wieder, süß und schwermütig. Von allen Seiten zugleich schienen die sanften Töne durch den Raum zu schwingen. Die Uhr auf dem Kaminsims war stehengeblieben. Die Vergangenheit hatte mich wieder eingeholt.

Langsam und gespannt bewegte ich mich durch das Zimmer und versuchte, die Quelle der Musik ausfindig zu machen. Als ich die Sessel umrundete und der Wand näherkam, die mich vom Salon trennte, hörte ich das Klavierspiel deutlicher. Versuchsweise schlich ich mich zur Tür und zog sie geräuschlos auf. Die Musik kam aus dem Salon.

Ich ließ die Helligkeit des Wohnzimmers hinter mir und tauchte in die Finsternis des Flurs. An der Wand tastete ich mich bis zur Salontür, die angelehnt war. Von drinnen schimmerte schwacher Lichtschein heraus.

Mit klopfendem Herzen stieß ich die Tür ein Stück weiter auf und streckte den Kopf durch den Spalt. Ein Zimmer lag vor mir, das ich nie gesehen hatte.

Die Flammen eines prasselnden Feuers beleuchteten farbig bezogene Sessel, kleine Tischchen, ein großes Sofa, Nippes und Glaskästen, großblättrige Pflanzen in Messingtöpfen, helle Wände, die dicht mit gerahmten Fotografien behängt waren. In der Mitte der

Zimmerdecke brannte zu meiner Überraschung eine Lampe mit elektrischem Licht.

Einen Moment lang blickte ich zu ihr hinauf, während die zarten Töne von >Für Elise< mich umspielten, dann erst wandte ich mich nach rechts, dem kleinen Spinett an der Wand zu. Auf dem Schemel vor dem Instrument saß elegant gekleidet in rostbraunem Gehrock und schwarzer Hose Victor Townsend. Das lange, lockige Haar war ihm über die Schulter nach vorn gefallen und verdeckte halb das ernste Gesicht, das tiefe Versunkenheit ausdrückte.

Jennifer, die in einem langen Satinkleid am Feuer saß, war ihm zugewandt, und ihr Blick hing voller Liebe und Bewunderung an ihm.

Ich glaube, mein Gesicht drückte ähnliche Gefühle aus, denn auch ich erlag augenblicklich dem Zauber von Victors Spiel. Die schlichte kleine Weise verwandelte sich unter seinen Fingern zu einem behexenden Lockruf. Ich blieb reglos an der Tür stehen, hin und her gerissen zwischen zwei Sehnsüchten; daß die Musik niemals aufhören möge und daß er im Spiel innehalten möge, um mit uns zu sprechen.

Als er dann tatsächlich zu spielen aufhörte, blieb er lange Zeit schweigend sitzen, den Blick auf die Tasten gesenkt, als brauche er Zeit, um in die Gegenwart zurückzufinden. Mit den Klängen von >Für Elise< hatte Victor seine Seele freigesetzt, und jetzt mußte er sie zurückholen und wieder in ihren Käfig sperren. Auch Jennifer sprach nicht, auch sie war noch in einer anderen Welt, aus der sie nicht zurückkehren wollte. Sie wünschte sich, dieser Moment würde ewig dauern.

«Kannst du es noch einmal spielen?«fragte sie schließlich. Victor drehte sich auf dem Klavierschemel herum und legte die

Hände auf die Knie.»Ich habe nicht viel Zeit. Die anderen werden bald nach Hause kommen.«

«Sie würden sich freuen, dich spielen zu hören. «Victor schüttelte den Kopf.»Sie dürfen uns niemals allein hier vorfinden, Jenny, sonst werden sie glauben, was sie tief drinnen befürchten, und in unser Verhalten etwas hineinlesen, was niemals stattgefunden hat. «Sein Gesicht verdunkelte sich.»Und niemals stattfinden wird.«

«Ach, komm doch bitte und setz dich zu mir. «Er stand auf, beeindruckend in seiner Größe und seinem markanten Aussehen, ging zu dem Sessel an Jennifers Seite und setzte sich. Das feine Leder seiner Stiefel glänzte im Feuerschein, als er die Beine ausstreckte.

«Meine Mutter hat mir Indiskretion vorgeworfen«, sagte er.»Wie ironisch, da nicht einmal ein Händedruck zwischen uns getauscht wurde.«

«Bitte, Victor, sei nicht bitter.«

«Und warum nicht? Jeden Sonntag hierherzukommen, im selben Raum mit dir zu sitzen und so zu tun, als dächte ich nicht, was ich denke! Du scheinst zufrieden, Jenny, bereit, dich mit dem zu begnügen, was uns gegönnt ist. Aber ich bin es nicht. Ich verfluche mein Schicksal. «Er lachte kurz und trocken.»Es hat uns wahrhaft übel mitgespielt. Hätte ich dir nur viel früher schon gesagt, daß ich nach Warrington zurückkehren werde, dann hättest du John nicht geheiratet und wärst jetzt meine Frau. Du könntest ein großes Haus führen und brauchtest dir keine Sorgen zu machen. Statt dessen bist du mit einem Mann verheiratet, der seine Tage auf der Rennbahn zubringt und seine Abende im Gasthaus.«

«Bitte, Victor«, sagte sie leise.

«Ich finde, John sollte sich seinen Schwächen endlich stellen und versuchen, sein Leben zu ordnen. Er ist ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihm keinen Ausweg mehr lassen werden. Gestern lieh er sich Geld, um heute Cyril Passwater zu bezahlen, von dem er sich letzte Woche

Geld geborgt hatte, um Alfred Grey zu bezahlen. Was glaubst du, wie lange er so weitermachen kann? Er will kein Geld von mir nehmen, obwohl ich weiß Gott genug habe. Lieber spielt er weiter dieses riskante Versteckspiel. Es ist an der Zeit, daß John seinen Verpflichtungen ins Auge sieht und sich auf anständige Weise mit seinen Gläubigern einigt. Und daß er endlich aufhört zu spielen.«

«Das ist leicht gesagt, Victor, aber John sieht es nicht so. Jeden Tag glaubt er, daß er endlich den großen Gewinn einstreichen wird, mit dem er alle Schulden bezahlen und ein Haus für uns kaufen kann.«

«Und jeden Tag gerät er tiefer in Schulden. Jennifer, man kann nicht ein Loch aufreißen, um ein anderes zu füllen. Wenn es nach mir ginge — «

«Es geht aber nicht nach dir. John ist sein eigener Herr, und wenn er vielleicht auch sonst nicht viel vorweisen kann, so hat er doch seinen Stolz. Du darfst dich da nicht einmischen, Victor.«

«Wenn er nicht mit dir verheiratet wäre, würde mich das alles überhaupt nicht kümmern. Aber er ist dein Mann, und er macht dich unglücklich. Nur deinetwegen, Jenny, möchte ich, daß John endlich reinen Tisch macht.«

«Dann laß ihn um meinetwillen auch in Frieden. John muß selbst seinen Weg finden.«

«Er braucht einen Schock, er muß gezwungen werden — «

«Victor!«

Sein Gesicht mit der scharfen Einkerbung zwischen den dunklen Brauen war zornig, als er Jennifer ansah. Er hatte Mühe, seine Bitterkeit in Schach zu halten, ließ sich von ihr allzu oft zu Worten von schneidender Schärfe hinreißen.

«Versprich mir«, sagte Jennifer ruhig,»daß du John in Ruhe läßt.«

Er starrte grimmig ins Feuer.»Wenn du es so wünschst, dann verspreche ich es. «Ich beobachtete sein Gesicht und erhielt dabei eine Ahnung von seinen Gedanken. Er dachte an den Erfolg, den er sich in diesen anderthalb Jahren seit seiner Rückkehr aus London in Warrington erarbeitet hatte, an die Verbesserungen, die er am hiesigen Krankenhaus hatte bewirken können, an das Ansehen, das er in dieser Stadt genoß. Er war der Leibarzt des Bischofs in Warrington und der Hausarzt der Familie des Bürgermeisters. Er hatte Ehrungen eingeheimst und großen Einfluß gewonnen. Aber an alledem lag ihm wenig.

Sein Forscherdrang hatte sich nicht gelegt, immer noch beherrschte ihn der starke Wunsch, durch streng wissenschaftliche Arbeit den Weg für den medizinischen Fortschritt zu ebnen. Ich spürte seine Enttäuschung über seine Hilflosigkeit, den Opfern von Gehirntumoren oder schweren Herzkrankheiten zu helfen. Es quälte ihn, daß er sich nicht am Kampf gegen die zahllosen Leiden und Krankheiten beteiligen konnte, die immer noch Tausende und Abertausende dahinrafften, weil kein Mittel gegen sie gefunden war. Dies war der Platz, an dem er gebraucht wurde, hier auf dem dunklen Kontinent der Medizin, Victor Townsend wollte Lichter anzünden.

«Woran denkst du?«fragte Jennifer leise.

«An einen Mann namens Edward Jenner. Weißt du, wer er war?«Victor wandte sich ihr wieder zu. Die Düsternis seines Gesichts hatte sich aufgehellt, seine Züge wirkten lebhaft.»Edward Jenner war ein Mann, der sich eines Tages fragte, wieso Melkerinnen eigentlich nie die Pocken bekamen. Ihm fiel außerdem auf, daß Melkerinnen fast immer irgendwann einmal an den Kuhpocken erkrankten. Er überlegte, ob da vielleicht ein Zusammenhang bestünde und was geschehen würde, wenn man Gesunde mit dem Erreger der Kuhpocken impfte; ob man sie nicht damit vielleicht vor den tödlichen Schwarzen Blattern bewahren könnte. Alle Welt lachte ihn aus, Jenny, aber dank Edward Jenners Pockenimpfstoff können wir alle ohne Furcht vor dieser schrecklichen Krankheit leben, die früher einmal ganze Städte ausgelöscht hat. Was aber ist mit den anderen tödlichen Krankheiten? Mit der

Lungenentzündung, der Cholera, dem Typhus, der Kinderlähmung?«

Er beugte sich vor und nahm ihre Hände.»Sieh mal, was tue ich denn hier? Verschreibe Rezepte für Hustensaft und Migränepulver. Täglich stoße ich an die Grenzen meines Wissens. Soviel gibt es in der Medizin noch zu tun. Verstehst du, was ich sagen will?«

«Ja«, antwortete sie mit kleiner Stimme.»Du hättest nach Schottland gehen sollen.«

Er ließ ihre Hände los.»Das wollte ich damit nicht sagen. Das Labor, das in

Edinburgh auf mich wartete, läßt sich genausogut hier in Warrington aufbauen.«

«Was willst du damit sagen?«

«Daß ich im Kreis herumlaufe. Ich habe mich von meiner Bitterkeit und meiner Enttäuschung lahmen lassen. Weshalb sollte ich forschen und kämpfen, wenn das eine, das einzige, das ich mir wirklich auf dieser Welt ersehne, mir auf immer verwehrt sein wird?«

Jennifer legte ihm leicht die Hand auf den Arm.»Soll ich auch an deinem Irrweg die Schuld tragen?«

Victor sah sie an, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Schreck und Entsetzen huschten über sein Gesicht. Tief betroffen von der Bedeutung ihrer Worte riß er Jennifer in seine Arme. Sie wehrte sich nicht, protestierte nicht. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schloß die Augen, um diesen verbotenen Moment auszukosten. Ich sah, daß sie mit den Tränen kämpfte.»Was habe ich da gesagt?«murmelte Victor, den Mund in ihr Haar gedrückt.»Wie kann ich nur so egoistisch sein und dich mit solchen Verrücktheiten kränken. Nichts ist mir wichtiger als dein Glück und dein Wohlbefinden, Jenny, ach Jenny…«Victor zog sie fester an sich, als könnte das die Qual lindern.»Wie kann ich so gedankenlos sein, so etwas zu sagen, wenn ich weiß, daß dein Leben so unglücklich sein muß wie meines! Aber du leidest stumm, während ich mich lauthals dem Selbstmitleid ergebe. Ach, ich verdiene dich nicht… «

So standen sie eine Weile, eng umschlungen im flackernden Licht des Feuers, bis Jenny sich schließlich widerstrebend von ihm löste und zu ihm aufsah.

«Deine Berührung zu spüren«, flüsterte sie.»Deine Arme um mich zu fühlen… das ist…«Victor neigte den Kopf, als wolle er sie küssen, aber dann hielt er inne.

«Du mußt jetzt gehen, Liebster«, sagte sie.»Sie werden bald hier sein. Solche Zärtlichkeiten sind uns verboten, Victor, denn John ist immer noch mein Mann, und ich habe ihm Treue geschworen.«

Jennifer löste sich ganz aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und sah ihn ernst an.»Wir dürfen uns nicht mehr allein sehen, Victor, denn ich weiß, daß ich nicht die Kraft habe, auf Dauer zu widerstehen. Und dann würden wir zu allem Unglück auch noch Schuld auf uns häufen.«

Victor stand mit hängenden Armen und starrem Gesicht, während Jennifer mit feucht glänzenden Augen unverwandt zu ihm aufblickte. Und so verschwanden sie vor meinen Blicken und ließen mich allein zurück.

Ich brauchte einen Moment, um mir bewußt zu werden, daß aus dem eleganten Salon lang vergangener Zeiten wieder der muffig riechende, verstaubte Abstellraum meiner Großmutter geworden war. Ich sah die Leintücher auf den Möbeln, den aufgerollten Teppich, das staubbedeckte Rollpult, die nachgedunkelten Wände. Ich hatte für die Rückreise aus dem Jahr 1892 nur Sekunden gebraucht, aber ich fühlte mich so matt und erschöpft, als wäre ich den ganzen langen Weg zu Fuß gegangen.

Ich schloß die Salontür hinter mir und wankte in den kalten Flur hinaus, froh über die Dunkelheit, die mich wie ein tröstender Schleier umhüllte.

Wie glücklich konnte Jennifer sich preisen, von so einem Mann geliebt worden zu sein. Ich hatte das nie erlebt. Oder — doch? War es das vielleicht, was Doug mir hatte geben wollen und was ich in meiner Verbohrtheit zurückgewiesen hatte?

Dröhnendes Klopfen von oben riß mich aus meinen Gedanken. Das konnte nur Großmutter sein. Rasch eilte ich die Treppe hinauf. Nachdem ich das Flurlicht angeknipst hatte, ging ich zu ihrem Zimmer, öffnete leise die Tür und blickte hinein. Großmutter lag fest schlafend in den Kissen. Wieder klopfte es laut. Hastig zog ich mich aus Großmutters Zimmer zurück und schloß die Tür. Natürlich! Das war nicht die Gegenwart, die mich rief, sondern die Vergangenheit. Das Geräusch kam aus dem vorderen Schlafzimmer.

Die Tür stand weit offen. Drinnen war alles neu und hell, und im offenen Kamin brannte ein Feuer. Ich stellte mit Interesse fest, daß hier, genau wie im Salon, elektrisches

Licht die Gaslampen verdrängt hatte.

Ich ging hinein und sah mich um. Am Kamin stand ein Ohrensessel, mit burgunderrotem Samt bezogen und weißen Spitzendeckchen auf den Armlehnen. Dort saß Jennifer, die Füße auf einem dunkelroten Fußbänkchen, den Blick zur Tür gerichtet. Während ich sie noch betrachtete und wieder überlegte, ob ich versuchen sollte, sie anzusprechen, spürte ich einen kalten Luftzug im Rücken und hörte, wie jemand ins Zimmer trat. Es war Harriet.»Jenny!«sagte sie nur.

Jennifer drehte sich ein klein wenig in ihrem Sessel herum und lächelte.»Hallo, Harriet. Komm doch herein. «Harriet, die beinahe direkt neben mir stand, zögerte. Ihr Gesicht war grau wie Asche, ihre Lippen waren völlig blutleer.»Jenny«, sagte sie wieder.

Jennifer, die jetzt ebenfalls bemerkte, daß mit ihrer Schwägerin etwas nicht in Ordnung war, stand auf und ging ein paar Schritte auf sie zu.»Was ist denn, Harriet?«

«Ich — «Sie machte einen Schritt, stockte und schwankte, als drohe sie ohnmächtig zu werden.

«Harriet!«Jennifer lief zu ihr und legte ihr fest den Arm um die Schultern, um sie zum Sessel zu führen. Harriet hing wie ein lebloses Bündel an Jennifer, ließ sich willenlos in den Sessel drücken und Umhang und Hut abnehmen. Ihre Augen waren seltsam leer, sie sah aus wie jemand, der einen schweren Schock erlitten hatte. Ungleich jünger wirkte sie jetzt als Jennifer, klein und zusammengesunken in dem schweren Sessel, das Gesicht kreidebleich, die Augen wie erloschen. Sie bewegte die Lippen, aber es drang kein Laut aus ihrem Mund.

Jennifer holte sich den anderen Sessel und zog ihn so dicht an Harriet heran, daß die Knie der beiden Frauen sich berührten, als sie sich setzte. Sie nahm Harriets Hände zwischen die ihren und rieb sie behutsam.»Du bist ganz durchgefroren. Und wie blaß du bist! Wo warst du denn bei diesem Wetter, Harriet?«Harriets Versteinerung löste sich ein wenig.»Wo sind die anderen, Jenny?«fragte sie mit tonloser Stimme.»Wo sind Mutter und Vater?«

«Vater ist noch im Werk, und Mutter ist bei einem Krankenbesuch bei Mrs. Pemberton. Und John — ich weiß nicht genau, wo John im Augenblick ist. Sag mir doch, was mit dir ist. «Harriet drehte den Kopf zum Feuer und starrte in die Flammen. Wieder bewegten sich ihre weißen Lippen, und wieder versagte ihr die Stimme.

Jennifer musterte sie tief besorgt. Während ich die Szene beobachtete, gewann sie etwas Traumhaftes, Unwirkliches, das teilweise auf der Stille beruhte und den tanzenden Schatten an den Wänden, vor allem aber auf Harriets befremdlichem Verhalten.

«Ich war bei ihm«, flüsterte sie schließlich.»Was hast du getan, Harriet?«

«Ich bin zu ihm gegangen. Genau wie du gesagt hast. «Harriet drehte den Kopf und richtete den seltsam leeren Blick auf Jennifer. Dann sagte sie ein wenig lauter:»Ich bin zu Scan gegangen und habe ihm gesagt, was mit mir los ist.«

«Und was hat er gesagt?«

«Er sagte, es wäre meine eigene Schuld. «Harriets Gesicht war so

ausdruckslos wie ihre Stimme.»Er hätte damit nichts zu tun. Und er sagte, daß er fortgeht.«

«Er geht fort?«Jennifer ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen.»Scan O'Hanrahan geht fort? Wohin denn?«

«Ich weiß es nicht. Aber sogar während ich bei ihm war, hat er gepackt. Er sagte etwas davon, daß er nach Belfast zurück will.«

«Aber — aber du hast ihm doch gesagt, was mit dir — «

«Daß ich ein Kind bekomme? O ja, das habe ich ihm gesagt. Und er ist wütend geworden. Als hätte ich es ganz allein getan. Ich habe ihn daran erinnert, daß er immer vom Heiraten gesprochen hat, wenn wir draußen bei der alten Abtei waren, und daß er immer sagte, er wolle mich so bald wie möglich heiraten. Aber das war damals, Jenny, und jetzt will er mich ganz offensichtlich nicht mehr heiraten.«

«Ach, Harriet!«Jennifer begann wieder, Harriets Hände zu reiben, als könnte sie die

Freundin so zum Leben erwecken. Nicht einmal die glühenden Farben des Feuerscheins konnten Harriets Gesicht einen Anschein von Lebendigkeit verleihen.»Harriet«, sagte Jennifer wieder voller Mitgefühl. Obwohl wie Jennifer fast zwanzig Jahre alt, war Harriet immer noch sehr kindlich. Doch das Leben war im Begriff, ihr eine grausame Lektion zu erteilen, und die ernüchternde Wirkung begann schon, sich auf ihrem Gesicht zu zeigen.

«Und dann bin ich zu ihm gegangen«, sagte sie, den Blick wieder ins Feuer gerichtet.»Zu Scan, meinst du?«

«Zu ihm, genau wie du mir geraten hast. Ich wußte nicht, wohin. Vater könnte ich es niemals sagen, er würde mich schrecklich bestrafen. Du hast ja keine Ahnung, wie er mich behandelt hat, als er entdeckte, daß Scan und ich uns Briefe schrieben. Diesmal würde er mich bestimmt nicht bloß in den Kleiderschrank sperren. Diesmal würde er etwas viel, viel Schlimmeres tun.«

«Er hat dich in den Kleiderschrank-«

«Ja, das hat er immer getan, weißt du«, fuhr sie fort, ohne eine

Gefühlsregung zu zeigen.»Immer, wenn er mich strafen wollte, hat er mich in den Schrank gesperrt. Am Ende habe ich nie mehr aus Respekt oder aus Liebe gehorcht, sondern nur noch weil ich so eine grauenhafte Angst davor hatte, wieder in den Schrank gesperrt zu werden. Ich konnte es nicht aushaken, Jenny. Es war furchtbar. Ich hockte in dem dunklen Schrank, in den nirgends auch nur der kleinste Lichtschimmer hereinfiel, und hörte, wie er den Schlüssel umdrehte. Und dann wartete ich verzweifelt darauf, daß er endlich wiederkommen und mich herauslassen würde. Immer hatte ich Angst, er würde mich vergessen, und ich würde da drinnen sterben. Anfangs habe ich geschrien, dann hab ich nur noch gewimmert und gebettelt und wie eine Wahnsinnige an der Tür gekratzt. Es war ein Gefühl, als würde ich lebendig begraben. Aber er kam immer zurück und holte mich heraus. Einmal — da schrie und heulte ich so laut, daß er zurückkam und mich herausholte. Er schlug mich fast bewußtlos, und dann sperrte er mich wieder ein und ließ mich die ganze Nacht drinnen. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Und das gleiche würde er jetzt mit mir tun, Jenny, oder noch was viel Schlimmeres. Vater ist sehr korrekt und sehr streng. Wenn er von dieser Sache erführe, würde er sagen, ich hätte es ihm zur Schande getan. Du kennst ihn doch selbst, Jenny. Du weißt, wie er ist. Du weißt, wie sehr Mutter ihn fürchtet und wie John sich vor ihm duckt. John wollte nie in Warrington bleiben und Verwaltungsangestellter werden. Aber er mußte es, weil Vater es befahl. Victor war der einzige, der sich gegen ihn auflehnte…«Harriet schien vergessen zu haben, was sie hatte sagen wollen. Als sie schwieg, fragte Jennifer sanft drängend:»Und zu wem bist du nun gegangen, Harriet?«

«Zu meinem Bruder. Ich dachte, er könnte mir vielleicht helfen. Und — er hat's ja auch getan… «

Wie ein Automat streckte Harriet ihren rechten Arm aus, rollte den Ärmel hoch und zeigte Jennifer ihren weißen Unterarm. In der Ellbogenbeuge war ein großer roter Fleck, von dem blaurote Streifen wegführten.

«Harriet, was ist das?«

«Das ist von einer Spritze. Wie nennt man es gleich — von einer Injektion.«

«Wo hast du die bekommen?«Jenny beugte sich über Harriets Arm.»Das sieht aus, als wäre es entzündet.«

«Ist es auch. Aber es vergeht wieder, hat er gesagt.«

«Harriet, ich begreife nicht. Was ist geschehen? Wer hat das getan?«

Sie faßte Harriet bei den Schultern und schüttelte sie ein wenig. Harriet sah sie an, aber ihr Blick war so leer wie zuvor.»Ich bin keine Schönheit, nicht wahr?«sagte sie leise.»Ich bin eine graue Maus, nach der kein Mann sich umdreht. Ich werde niemals heiraten. Jetzt nicht mehr. Ich habe Sean O'Hanrahan geliebt. Ich wollte nur ihn. Aber jetzt werde ich eine alte Jungfer werden und bis zu meinem Tod eine bleiben.«

«Harriet, was war das mit der Spritze?«

Harriet holte tief Atem. Ihr Gesicht wurde noch einen Schein blasser. Jennifer dachte flüchtig, Harriet sähe aus wie jemand, der eben mit dem Tod in Berührung gekommen war.»Er hat gesagt, sie wäre, um mich einzuschläfern. Er wollte mich betäuben. Aber irgendwie hat es nicht gewirkt — vielleicht weil ich zuviel Angst hatte. Oder vielleicht hat er mir nicht genug von dem Mittel gegeben. Dann mußte ich mich auf den Tisch legen. Ich wollte aufstehen, aber ich war angeschnallt. Ich sagte ihm, ich wolle einschlafen. Ich hab gebettelt und gebeten. Aber er war zornig und ärgerlich. Wahrscheinlich hat er es darum getan. Er sagte, ich hätte die Familie in Schande gestürzt.«

«Harriet, wovon — «

«Er hatte ein Instrument. Ich habe gesehen, wie es im Licht funkelte. Er hielt es in der Hand und befahl mir, ganz still zu liegen. Mein eigener Bruder…«

«O Gott«, stöhnte Jennifer.

«Er sagte, das wäre die einzige Möglichkeit. Er sagte, damit erspare er mir Leid und Kummer in der Zukunft. Ich würde gar nichts spüren, sagte er, und — oh, Jenny!«Harriet fiel plötzlich nach vorn und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Weinen klang wie das Wimmern eines Kätzchens. Zitternd versuchte sie, durch ihre Hände hindurch zu sprechen.»Ich war die ganze Zeit bei Bewußtsein. Ich habe alles gespürt. Dieser Schmerz! O Gott, Jenny, der Schmerz war grauenhaft. Du hast keine Ahnung! Es war wie eine Folter. Ich spürte genau, wie dieses scharfe, grobe Instrument das Leben aus mir herauskratzte. Erst als ich den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, wurde ich endlich bewußtlos.«

«Ach, Harriet, Harriet«, murmelte Jennifer und neigte sich vor, um Harriet über das Haar zu streichen.»Du armes, armes Kind. Du tust mir so entsetzlich leid.«

Sie weinten beide. Jennifer streichelte Harriet und versuchte mit sanfter, liebevoller Stimme, sie zu trösten. Doch schon nach ein paar Sekunden hob Harriet den Kopf und sah Jennifer mit dem verständnislosen Blick eines verletzten Tieres an.»Was soll ich jetzt tun?«flüsterte sie. Jennifer konnte ihr keine Antwort geben.

Harriet streifte Jennifers Hände ab und stand auf. Am ganzen Körper zitternd, blieb sie schwankend vor dem Feuer stehen. Die Blässe ihres Gesichts war erschreckend, und als ich sah, daß sie gehen wollte, stürzte ich vorwärts, weil ich fürchtete, sie würde stürzen. Aber Jennifer war schon auf den Beinen und stützte sie auf dem Weg zum Bett.

«Ich möchte sterben«, sagte Harriet.»Mein eigener Bruder. Wie konnte er mir das antun. Ach, lieber Gott, laß mich doch sterben…«

Nach den ersten stockenden Schritten zum Bettt blieb Harriet stehen und blickte zu Boden. Mit zitternder Hand hob sie langsam ihren langen Rock. Auf dem Teppich leuchtete eine rote Blutlache, die sich rasch vergrößerte.

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