10

Wir sahen dem Wagen nach, wie er hinter der Biegung der Anfahrt verschwand, und dann nahm Maxim meinen Arm und sagte: «So, Gott sei Dank, das haben wir hinter uns. Hol dir schnell einen Mantel und komm mit nach draußen. Zum Teufel mit dem Regen, ich muß mir etwas Bewegung machen. Dieses Herumsitzen geht mir auf die Nerven.» Er sah bleich und erschöpft aus, und es wunderte mich, daß die Unterhaltung mit Beatrice und Giles, seiner eigenen Schwester und seinem Schwager, ihn so angestrengt hatte.

«Warte hier, ich laufe rasch nach oben», sagte ich.

«Im Blumenzimmer findest du einen Haufen Gummimäntel, hol dir einen von da», sagte er ungeduldig. «Frauen brauchen immer eine halbe Stunde, wenn sie in ihr Schlafzimmer gehen. Robert, holen Sie bitte für Mrs. de Winter einen Mantel aus dem Blumenzimmer. Da muß mindestens noch ein halbes Dutzend Regenmäntel hängen, die irgendwelche Gäste im Laufe der Zeit hier vergessen haben.» Er stand bereits auf dem Weg und rief nach Jasper: «Komm her, du kleines Faultier, damit du etwas von deinem Fett los wirst.» Jasper sprang im Kreis herum und begann bei der Aussicht auf einen Spaziergang hysterisch zu bellen. «Still, Idiot», sagte Maxim. «Wo bleibt denn nur dieser Robert?»

Da kam er schon aus der Halle herbeigerannt mit einem Regenmantel über dem Arm, in den ich so eilig hinein-schlüpfte, daß ich mir den Kragen falsch zuknöpfte. Natürlich war er mir viel zu weit und zu lang, aber daran ließ sich ja nun nichts mehr ändern, und wir marschierten über den Rasen auf den Wald zu, Jasper in großen Sprüngen vor uns her.

«Ich kann meine Familie nur in kleinen Dosen genießen», sagte Maxim. «Beatrice ist einer von den besten Menschen der Welt, aber sie tritt unweigerlich immer ins Fettnäpfchen.»

Ich war mir nicht klar darüber, womit Beatrice eigentlich angeeckt war, und hielt es für besser, ihn nicht danach zu fragen. Vielleicht ärgerte er sich noch über das Gerede von seinem elenden Aussehen vor dem Mittagessen.

«Wie gefällt sie dir denn?» fuhr er fort.

«Sehr gut», antwortete ich. «Sie war furchtbar nett zu mir.»

«Und worüber habt ihr euch nach dem Essen unterhalten?»

«Oh, ich weiß nicht recht. Ich glaube, ich habe die Unterhaltung fast allein bestritten. Ich erzählte ihr von Mrs. Van Hopper und wie du und ich uns kennengelernt haben und all das. Sie sagte, ich wäre so ganz anders als sie sich's vorgestellt hatte.»

«Was hatte sie sich denn um Himmels willen für eine Vorstellung von dir gemacht?»

«Sie hat wohl gedacht, ich würde viel eleganter und nicht so unerfahren sein; ein mondänes Flittchen, sagte sie.»

Maxim schwieg einen Augenblick; er bückte sich und warf einen Zweig, damit Jasper ihn apportieren sollte. «Beatrice kann manchmal haarsträubend dumm sein», sagte er dann.

Wir stiegen den Abhang am Ende des Rasens hinauf und drangen in den Wald ein. Die Bäume standen sehr dicht, und es war fast ganz dunkel. Wir traten auf abgebrochene Zweige und vorjähriges Laub und ab und zu auf die jungen grünen Schößlinge des Farnkrautes und die knospigen Stengel der Glockenblumen, die bald blühen mußten. Jasper war jetzt ruhig und schnüffelte mit der Nase auf dem Boden. Ich hakte mich bei Maxim unter.

«Gefällt dir mein Haar eigentlich?» fragte ich.

Er sah erstaunt auf mich herunter. «Dein Haar?» sagte er. «Warum fragst du danach? Natürlich gefällt es mir. Was soll denn daran Besonderes sein?»

«Ach nichts», sagte ich, «ich dachte nur so.»

Wir gelangten zu einer kleinen Lichtung, von der in entgegengesetzter Richtung zwei Wege abgingen. Jasper lief ohne zu zögern auf den Weg, der nach rechts führte.

«Nicht dahin», rief Maxim. «Hierher, alter Knabe!»

Der Hund sah sich nach uns um, blieb stehen und wedelte mit dem Schwanz, lief aber nicht zurück. «Warum will er denn den anderen Weg laufen?» fragte ich.

«Wahrscheinlich aus Gewohnheit», entgegnete Maxim kurz. «Der Weg führt zu einer kleinen Bucht, wo wir ein Boot liegen hatten. Komm her, Jasper, hörst du?»

Schweigend bogen wir in den linken Weg ein, und als ich zurückblickte, sah ich, daß Jasper uns folgte.

«Dieser Weg führt in das Tal, von dem ich dir erzählte», sagte Maxim. «Jetzt wirst du gleich die Azaleen riechen. Der Regen hat auch sein Gutes, er wird den Duft noch verstärken.»

Er schien wieder wohlauf und guter Dinge zu sein, froh und vergnügt, wieder ganz der Maxim, den ich kannte und liebte, und er begann von Frank Crawley zu sprechen und was für ein prächtiger Mensch er sei, so zuverlässig und gewissenhaft und Manderley so treu ergeben.

So ist es viel besser, dachte ich, so ist es wieder wie in Italien! Und ich lächelte zu ihm auf und drückte seinen Arm, nur zu erleichtert darüber, daß der müde, abgespannte Zug aus seinem Gesicht verschwunden war; und während ich «ja» sagte und «wirklich?» und «denk doch nur, Maxim», wanderten meine Gedanken zu Beatrice zurück, und ich überlegte mir, warum ihre Gegenwart ihn so aufgebracht hatte, wodurch sie ihn nur geärgert haben mochte; und ich dachte auch an das, was sie mir von seiner Unbeherrschtheit erzählt hatte, wie jähzornig er werden könnte und daß er ein-, zweimal im Jahre geradezu explodiere.

Sie mußte ihn natürlich kennen; sie war ja seine Schwester. Aber es entsprach so gar nicht dem Bild, das ich mir von Maxim gemacht hatte. Ich konnte ihn mir wohl verstimmt, etwas launisch und auch reizbar vorstellen, aber nicht so heftig und aufbrausend, wie sie ihn geschildert hatte. Wahrscheinlich hatte sie übertrieben; die Menschen urteilten oft so falsch über ihre nächsten Angehörigen.

«Da», sagte Maxim plötzlich, «sieh dir das an!»

Wir standen auf dem Abhang eines bewaldeten Hügels, und der Weg zog sich vor uns in vielen Windungen an einem Bach entlang ins Tal hinab. Hier gab es keine finsteren Bäume mehr, kein wirres Gestrüpp, sondern Azaleen und Rhododendren, die den schmalen Pfad zu beiden Seiten einsäumten, nicht blutrot wie die Riesenbüsche an der Anfahrt, sondern lachsfarben, weiß und goldig gelb, Wesen der Schönheit und Anmut, die ihre lieblichen, zarten Köpfe im milden Sommerregen neigten.

Die ganze Luft war von dem süßen und betäubenden Duft erfüllt, und es schien mir, als ob er sich geradezu mit dem dahinfließenden Wasser und den fallenden Regentropfen vermischt und das feuchte, üppig wuchernde Moos unter unseren Füßen völlig durchtränkt hätte. Es war kein Laut zu hören bis auf das Plätschern des Baches und das sanfte Rauschen des Regens. Als Maxim plötzlich sprach, klang seine Stimme ebenfalls gedämpft, ganz weich und leise, als wollte er diese Stille um keinen Preis unterbrechen.

«Wir nennen es das Glückliche Tal», sagte er.

Wir standen ganz still und sahen schweigend auf die leuchtend weißen Blumengesichter, die uns am nächsten waren. Und dann begannen die Vögel zu singen. Zuerst eine Amsel, deren heller Ton sich klar und kühl über dem dahinplätschernden Bach emporschwang; und nach einer kleinen Weile erklang die Antwort von ihrem Gefährten, der sich hinter uns im Wald verborgen hielt, und bald darauf wurde die eben noch so stille Luft um uns her von einem vielstimmigen Gesang belebt, der uns noch verfolgte, als wir dann ins Tal hinunterliefen; und der Duft der Blüten folgte uns auch. Es war seltsam erregend, wie in einem verzauberten Garten. Ich hatte nicht gedacht, daß dieses Fleckchen Erde so schön sein könnte.

Weder der Himmel, der sich jetzt ganz bewölkt und verdunkelt hatte und so völlig anders aussah als am frühen Nachmittag, noch der unentwegt herniederrieselnde Regen vermochten den sanften Frieden des Tales zu stören. Ich hielt Maxims Hand und brachte kein Wort über die Lippen. Der Zauber des Glücklichen Tales nahm mich gefangen. Dies endlich war das eigentliche Herz von Mander-ley, dem Manderley, das ich so gut kennen und lieben lernen sollte. Vergessen war die lange Fahrt bei unserer Ankunft, die finstere Dichte des Waldes, die üppige, allzu stolze Pracht der Rhododendronbüsche; vergessen auch das riesige Haus, die Stille der großen Halle, in der das Echo jeden Schritt wiedergab, und das unheimliche Schweigen im Westflügel, in dem alles mit Tüchern zuge-deckt war. Dort war ich ein Eindringling; ich ging durch Räume, die mich nicht kannten, und schrieb an einem Tisch und saß auf einem Stuhl, der nicht mir gehörte. Hier war es ganz anders. Hier, im Glücklichen Tal, fühlte ich mich nicht mehr als Fremde. Wir kamen an das Ende des Weges, wo die Blütensträucher sich über unseren Köpfen zu einem Dach zusammenwölbten, und wir bückten uns, um beim Gehen nicht anzustoßen. Und als ich mich wieder aufrichtete und mir die Regentropfen aus dem Haar strich, sah ich, daß das Tal mit den Azaleen nun hinter uns lag und daß wir jetzt, wie Maxim es mir vor vielen Wochen an jenem Nachmittag in Monte Carlo beschrieben hatte, in einer kleinen, schmalen Bucht standen, den harten, weißen Kies unter unseren Füßen, und das Meer gegen die Küste anbranden hörten.

Maxim las die Betroffenheit in meinem Gesicht und lächelte auf mich herab.

«Nicht wahr, das überwältigt dich?» sagte er. «Es hat noch jeden unvermutet getroffen. Der Gegensatz kommt zu plötzlich, es tut fast weh.» Er nahm einen Stein auf und warf ihn für Jasper über den Strand. «Na, hol ihn, alter Bursche», rief er ihm zu, und Jasper rannte hinter dem Stein her, die langen schwarzen Ohren dem Spiel des Windes preisgegeben.

Der Zauber war verflogen, der Bann gebrochen. Wir waren wieder sterblich geworden, zwei Menschen, die am Strand ihren Spaß trieben. Wir warfen noch mehr Steine, gingen ganz nahe ans Wasser heran, ließen flache Steinchen darüber hüpfen und angelten nach Treibholz. Die Flut war zurückgekehrt und bespülte wieder den Strand. Die niedrigen Felsen waren schon nicht mehr zu sehen, und die Moosalgen auf den Steinen wurden von jeder neu heranrollenden Woge überschwemmt. Wir fischten ein langes, treibendes Brett auf und trugen es hinter die Flutgrenze auf den Strand. Maxim strich sich das Haar aus den Augen und wandte sich lachend nach mir um, und ich krempelte die Ärmel des Regenmantels hoch, die der Gischt völlig durchnäßt hatte. Und dann blickten wir uns um und sahen, daß Jasper verschwunden war. Wir riefen und pfiffen nach ihm, aber er kam nicht. Besorgt blickte ich zu der Höhlung der Bucht, wo die Wellen gegen die Felsen anbrandeten.

«Nein», sagte Maxim, «wir hätten ihn gesehen; abgestürzt kann er nicht sein. Jasper, du Idiot, wo bist du? Jasper! Jasper!»

«Vielleicht ist er zurückgelaufen?» meinte ich.

«Er stand ja vor einer Minute noch dort auf den Felsen und beschnupperte eine tote Möwe», entgegnete Maxim.

Wir gingen über den Strand zurück auf das Tal zu.

«Jasper! Jasper!» rief Maxim.

In der Ferne, jenseits der Felsen an der rechten Seite vom Strand, vernahm ich plötzlich ein kurzes, lautes Gebell. «Hast du gehört?» fragte ich, «er ist da hinaufgelaufen.» Ich begann in der Richtung des Gebells auf allen vieren die glitschigen Felsen emporzuklettern.

«Komm zurück!» rief Maxim scharf. «Wir wollen nicht da entlanggehen. Das dumme Vieh muß auf sich selber aufpassen.»

Ich zögerte und blickte von meinem Felsen hinunter. «Vielleicht ist er doch gefallen», sagte ich, «der arme kleine Kerl. Laß mich ihn doch holen.» Und wieder bellte Jasper, diesmal noch weiter weg. «Oh! hör doch nur», sagte ich, «ich muß ihn suchen. Der Weg ist doch sicher hier? Die Flut kann ihn doch nicht abgeschnitten haben, oder -?»

«Es ist ihm bestimmt nichts geschehen», erwiderte Maxim gereizt. «Laß ihn nur laufen; er findet seinen Weg schon allein zurück.»

Ich tat so, als ob ich ihn nicht mehr gehört hätte, und kroch weiter über die Steine. Große, gezackte Felsblöcke versperrten die Aussicht, und immer wieder glitt ich auf den nassen Felsen aus, während ich mich, so gut es ging, bemühte, die Richtung einzuhalten, aus der das Gebell gekommen war. Es war herzlos von Maxim, Jasper einfach im Stich zu lassen, dachte ich, und ich konnte es nicht begreifen. Überdies stieg die Flut zusehends höher. Schließlich war ich oben neben dem hohen Felsblock angelangt, der mir den Blick versperrt hatte, und sah mich um. Überrascht stellte ich fest, daß ich da in eine zweite Bucht hinunterblickte, derjenigen, aus der ich gerade gekommen war, fast zum Verwechseln ähnlich, nur größer und runder. Eine kleine steinerne Mole lag schützend vor der Bucht, die so einen kleinen natürlichen Hafen bildet, in dem eine Boje verankert lag, aber kein Boot. Der Strand bestand hier ebenfalls aus hellem Kies, er war nur viel abschüssiger und fiel plötzlich steil zum Meer ab. Der Wald zog sich bis zu der von dem angeschwemmten Tang bezeichneten Flutgrenze herunter, fast bis zu den Felsen hin, und am Rande des Waldes lag ein langgestrecktes, niedriges Gebäude, halb Land-, halb Bootshaus, das aus demselben Stein gebaut worden war wie die Mole.

Es war ein Mann am Strand, ein Fischer vermutlich, mit hohen Stiefeln und einem Südwester, und Jasper sprang um ihn herum und bellte ihn an und schnappte nach seinen Stiefeln. Der Mann nahm jedoch keine Notiz von ihm. Er bückte sich und scharrte im Kies. «Jasper!» rief ich, «hierher, Jasper!»

Der Hund sah auf und wedelte mit dem Schwanz, gehorchte mir aber nicht. Er fuhr fort, bellend um die einsame Gestalt dort auf dem Strand herumzutanzen.

Ich blickte zurück, von Maxim war noch immer keine Spur zu sehen, und ich kletterte von den Felsen zum Strand hinunter. Bei dem knirschenden Geräusch meiner Schritte auf dem Kies blickte der Mann auf, und an den merkwürdig kleinen Schlitzaugen und dem auffallend roten Mund erkannte ich, daß ich einen Schwachsinnigen vor mir hatte. Er lächelte mich an und entblößte dabei einen zahnlosen Gaumen. «'nMorgen!» sagte er. «Dreckig, was?»

«Guten Tag», erwiderte ich. «Ja, es ist schade, daß wir kein besseres Wetter haben.»

Er sah mich aufmerksam an und lächelte fortwährend. «Grab nach Muscheln», sagte er, «gibt keine Muscheln hier. Hab schon seit heute früh gegraben.»

«Oh», sagte ich, «das tut mir leid, daß Sie keine finden können.»

«Ja, das stimmt», sagte er, «keine Muscheln hier.»

«Komm, Jasper», sagte ich. «Es wird spät. Komm, alter Kerl.»

Aber Jasper benahm sich geradezu ärgerlich. Vielleicht war ihm der Wind und der Anblick des Wassers zu Kopf gestiegen, denn er wich vor mir zurück, bellte wie verrückt und begann den Strand auf- und abzujagen, ohne daß irgend etwas zu sehen war. Es war mir klar, daß er mir nicht freiwillig folgen würde, und eine Leine hatte ich ja nicht. Ich wandte mich an den Mann, der sich wieder gebückt hatte, um sein zweckloses Gescharre fortzusetzen.

«Haben Sie vielleicht ein Seil bei sich?» fragte ich ihn.

«Heh?» sagte er.

«Ob Sie vielleicht ein Seil bei sich haben?» wiederholte ich.

«Keine Muscheln hier», sagte er kopfschüttelnd, «grab schon den ganzen Vormittag.» Er nickte mir zu und wischte sich die fahlblauen, wäßrigen Augen.

«Ich möchte etwas haben, um den Hund festzubinden», erklärte ich. «Sonst folgt er mir nicht.»

«Heh?» sagte er und lächelte sein klägliches, idiotisches Lächeln.

«Schon gut», sagte ich, «es ist nicht so wichtig.» Er sah mich unsicher an, und dann beugte er sich vor und tippte mir auf die Brust.

«Ich kenne diesen Hund», sagte er, «von dem Haus kommt der.»

«Ja», sagte ich, «ich möchte gern, daß er mit mir zurückgeht.»

«Das ist nicht Ihrer», sagte er.

«Es ist der Hund von Mr. de Winter», sagte ich freundlich, «ich möchte ihn gern mit nach Hause zurücknehmen.»

«Heh?» sagte er.

Noch einmal rief ich Jasper, aber er jagte hinter einer Feder her, die vom Wind herumgewirbelt wurde. Ich überlegte, ob ich vielleicht in dem Bootshaus ein Seil finden würde, und ging den Strand hinauf darauf zu. Früher mußte da ein Garten gewesen sein, aber jetzt hatte das hoch aufgeschossene, von Brennesseln durchwachsene Gras alles überwuchert. Die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Sicherlich war auch die Tür versperrt, und ich schob den Riegel, ohne viel Hoffnung auf Erfolg, beiseite. Doch zu meiner Überraschung ließ sie sich nach anfänglichem Widerstand ganz leicht öffnen, und mit gebücktem Kopf, weil sie so niedrig war, ging ich hinein. Ich erwartete, die übliche Bootskammer vorzufinden, schmutzig und verstaubt, mit allem möglichen Gerümpel und Tauwerk und Holzklötzen und Rudern auf dem Fußboden. Staub gab es dort und stellenweise auch Schmutz, aber von Tauen und Blöcken war nichts zu sehen. Der Raum war vollständig möbliert und nahm die ganze Länge des Hauses ein. In der Ecke sah ich einen Schreibtisch, einen Eßtisch und Stühle und, an die Wand gerückt, eine Schlafcouch. Auch eine Anrichte stand dort mit Tassen und Tellern, und ein Bücherbord mit Büchern, und auf dem Bord standen ein paar Schiffsmodelle. Einen Augenblick lang glaubte ich, das Haus müsse bewohnt sein - vielleicht von dem Schwachsinnigen -, als ich mich aber näher umsah, bemerkte ich kein Anzeichen dafür, daß dieser Raum kürzlich benutzt worden war. In diesem verrosteten Kamin hatte lange kein Feuer mehr gebrannt; der staubige Boden wies keine Fußspuren auf, und das Porzellan auf der Anrichte war von der Feuchtigkeit ganz fleckig geworden. Ein eigentümlich modriger Geruch hing in dem Raum. Mäuse oder Ratten hatten den Stoffbezug des Schlafsofas angeknabbert, das war an den vielen spitzen Löchern und der ausgefransten Kante deutlich zu sehen. Es war feucht in dem Haus, feucht und eisig-kalt; dunkel und bedrückend. Es gefiel mir gar nicht, und ich hätte nicht dort bleiben mögen. Das hohle Geräusch des Regens auf dem Dach war gräßlich. Es schien im Raum selbst widerzuhallen, und ich hörte, wie das Wasser auch in den Kamin hinuntertropfte.

Ich sah mich nach irgendeinem Stück Schnur um, aber ich fand nichts, was ich für meine Zwecke hätte gebrauchen können. Am anderen Ende des Zimmers gab es noch eine zweite Tür, und ich ging darauf zu und öffnete sie, bereits etwas furchtsam, ein wenig verängstigt, denn ich hatte das sonderbare, unbehagliche Gefühl, daß ich etwas entdecken könnte, was ich gar nicht sehen wollte. Irgend etwas, das mir weh tun, das mich entsetzen würde.

Das war natürlich Unsinn, und der Raum, den ich jetzt betrat, war nur ein ganz gewöhnlicher Bootsschuppen. Da waren die Blöcke und die Seile, die ich zu finden erwartet hatte, zwei oder drei Segel, mehrere Fender, ein kleines Beiboot, Farbtöpfe, alle die Dinge, die man zum Gebrauch und zur Pflege eines Segelbootes benötigt. Auf einem der Borde lag eine Rolle Schnur neben einem verrosteten Taschenmesser. Damit konnte ich mich sehr gut für Jasper behelfen. Ich öffnete das Messer, schnitt mir ein Stück Schnur ab und ging dann wieder in das Zimmer zurück. Der Regen fiel noch immer auf das Dach und in den Kamin. Schnell verließ ich das kleine Haus, ohne mich umzusehen, ohne einen Blick auf das angenagte Schlafsofa, das stockfleckige Porzellan und die mit Spinnweben überzogenen Schiffsmodelle zu werfen. Ich schloß die knarrende Tür hinter mir und eilte wieder zum hellen Strand hinunter.

Der Mann scharrte nicht mehr im Kies, sondern stand da und beobachtete mich, Jasper neben sich.

«Komm her, Jasper», sagte ich, «komm her, sei ein gutes Tier!» Ich bückte mich zu ihm nieder, und jetzt ließ er es zu, daß ich ihn anfaßte und ihn am Halsband nahm. «Ich habe im Bootshaus etwas Schnur gefunden», sagte ich zu dem Mann.

Er antwortete nicht, und ich befestigte die Schnur locker an Jaspers Halsband.

«Guten Tag!» sagte ich und zog Jasper fort. Der Mann nickte und starrte mich mit seinen schmalen Idiotenaugen an. «Ich sah Sie dort hineingehen», sagte er.

«Ja», sagte ich, «das ist schon in Ordnung; Mr. de Winter wird bestimmt nichts dagegen haben.»

«Sie geht jetzt nicht mehr hinein», sagte er.

«Nein», sagte ich, «jetzt nicht mehr.»

«Sie ist ins Meer gegangen, nicht wahr?» sagte er. «Sie wird nie mehr zurückkommen?»

«Nein», sagte ich, «sie kommt nicht mehr zurück.»

«Ich habe nie kein Wort gesagt, nicht wahr?» sagte er wieder.

«Nein, natürlich nicht», sagte ich. «Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen.»

Er bückte sich wieder und grub weiter nach seinen Muscheln, während er leise vor sich hin murmelte. Ich ging über den Strand zu den Felsen zurück, wo Maxim, die Hände in den Taschen, auf mich wartete.

«Es tut mir leid», sagte ich, «aber Jasper wollte nicht folgen. Ich mußte mir erst etwas Schnur holen.»

Er drehte sich schroff um und schritt dem Wald zu.

«Wollen wir denn nicht über die Felsen zurückgehen?» fragte ich.

«Wozu das, jetzt sind wir ja einmal hier», entgegnete er kurz.

Wir gingen hinauf, am Bootshaus vorüber, und bogen dann in einen Waldweg ein. «Entschuldige bitte, daß es so lange gedauert hat», sagte ich. «Es war wirklich Jaspers Schuld. Er hat immerzu den Mann angebellt und war nicht davon abzubringen. Wer ist das denn?»

«Das ist nur Ben», erwiderte Maxim. «Er ist ganz harmlos, der arme Teufel. Sein Vater war einer von den Parkhütern; die Leute wohnen neben der Meierei. Wo hast du denn das Seil aufgetrieben?»

«Ich fand es in dem Bootshaus», sagte ich.

«War die Tür denn offen?» fragte er.

«Ja, ich brauchte sie nur aufzustoßen. Ich fand die Schnur in dem hinteren Raum, wo die Segel sind und das kleine Beiboot.»

«Oh», sagte er kurz, «oh, daher.» Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: «Dieses Bootshaus soll eigentlich verschlossen sein. Es ist ganz unzulässig, daß die Tür offen ist.»

Ich schwieg, da mich das ja nichts anging.

«Hat Ben dir erzählt, daß die Tür nicht verschlossen ist?»

«Nein, er schien überhaupt nicht zu verstehen, was ich ihn fragte.»

«Er stellt sich viel dümmer, als er wirklich ist», meinte Maxim. «Er kann sich ganz verständlich ausdrücken, wenn er will. Wahrscheinlich ist er schon ein Dutzend Male heimlich im Bootshaus gewesen und wollte dir das nur nicht sagen.»

«Das glaube ich nicht», erwiderte ich. «Das Zimmer sah völlig unbenutzt aus. Überall liegt dicker Staub, und es waren keine Fußspuren zu sehen. Es ist schrecklich feucht und modrig da drinnen. Die Bücher und die Möbel werden noch ganz verderben.

Und Ratten gibt es da auch; den Bezug von der Couch haben sie schon angefressen.»

Maxim erwiderte nichts. Er ging rasend schnell, und der Weg, der vom Strand zum Wald hinaufführte, war sehr steil. Es war so anders als im Glücklichen Tal. Die Bäume standen hier ganz dicht und sahen so finster aus, und keine einzige Azalee blühte am Wegrand. Der Regen tropfte schwer von den dicken Zweigen herunter, fiel mir auf den Kragen und rieselte mir in den Nacken. Ich erschauerte, es war ein unangenehmes Gefühl wie die Berührung von einer kalten Hand. Von der ungewohnten Kletterei über die Felsen taten mir die Beine weh, und Jasper, von seinem wilden Herumgetobe ebenfalls ermüdet, keuchte mit hängender Zunge hinter mir her.

«Komm her, Jasper, beeil dich gefälligst», sagte Maxim. «Kannst du ihm nicht etwas Beine machen? Zieh doch die Leine kürzer. Beatrice hatte recht, der Hund ist viel zu dick geworden.»

«Daran liegt es gar nicht», entgegnete ich. «Du läufst einfach zu schnell; wir können unmöglich Schritt mit dir halten.»

«Wenn du auf mich gehört hättest, anstatt plötzlich wie wild über die Felsen davonzustürzen, wären wir jetzt schon längst zu Hause», sagte Maxim. «Jasper hätte sehr gut allein zurückgefunden. Ich weiß wirklich nicht, warum du unbedingt hinter ihm herlaufen mußtest.»

«Ich dachte, er wäre vielleicht doch abgestürzt, und hatte Angst vor der Flut», sagte ich.

«Meinst du, ich hätte den Hund zurückgelassen, wenn die Flut tatsächlich gefährlich werden könnte?» hielt Maxim mir vor. «Ich rief dir doch noch zu, daß du nicht auf die Felsen hinaufklettern solltest, und jetzt bist du schlechter Laune, weil du müde bist.»

«Ich bin gar nicht schlechter Laune», sagte ich. «Jeder Mensch, selbst wenn seine Beine aus Eisen wären, würde bei diesem Marschtempo müde werden. Ich dachte, du würdest mir gleich nachkommen, als ich mich nach Jasper auf die Suche machte, anstatt einfach zurückzubleiben.»

«Warum sollte ich mich so anstrengen, nur um hinter diesem verdammten Köter herzurennen?» sagte er.

«Hinter Jasper her über die Felsen zu klettern war auch nicht anstrengender, als am Strand entlang hinter dem Treibholz herzulaufen», erwiderte ich. «Das sagst du nur, weil dir keine bessere Entschuldigung einfällt.»

«Mein gutes Kind, wofür sollte ich mich denn entschuldigen müssen?»

«Ach, ich weiß nicht», sagte ich müde. «Hören wir doch damit auf.»

«Nein, warum denn? Du hast ja damit angefangen. Was willst du damit sagen, daß mir keine bessere Entschuldigung einfällt? Entschuldigung wofür?» «Weil du nicht mit mir über die Felsen gegangen bist, vermutlich», sagte ich.

«So, und weshalb wollte ich nicht zu der anderen Bucht hinüber?»

«Ach Maxim, wie soll ich das wissen? Ich kann ja schließlich keine Gedanken lesen. Ich weiß nur, daß du es nicht wolltest, das ist alles. Ich konnte es deinem Gesicht ansehen.»

«Was konntest du meinem Gesicht ansehen?»

«Das habe ich dir doch gerade gesagt. Ich sah dir eben an, daß du nicht dorthin gehen wolltest. Aber bitte, laß uns damit aufhören. Ich habe das Thema reichlich satt.»

«Das sagen alle Frauen, wenn sie sich geschlagen geben müssen. Also schön, ich wollte nicht in die andere Bucht hinübergehen. Bist du damit zufrieden? Ich gehe niemals an diesen verfluchten Strand oder auch nur in die Nähe von diesem gottverdammten Bootshaus. Und wenn du meine Erinnerungen hättest, würdest du ebenfalls nicht dorthin gehen oder darüber reden oder auch nur daran denken. So, das kannst du jetzt hinunterschlucken, wenn du magst, und ich hoffe, es befriedigt dich.»

Sein Gesicht war ganz weiß, und seine Augen hatten wieder denselben verzweifelten und verlorenen Ausdruck wie bei unserer ersten Begegnung. Ich streckte ihm die Hand hin, faßte nach der seinen und hielt sie fest.

«Bitte, Maxim, bitte!» bat ich.

«Was willst du denn?» sagte er barsch.

«Ich möchte nicht, daß du so aussiehst», sagte ich. «Es tut mir so weh. Bitte, Maxim, laß uns doch diesen sinnlosen, dummen Streit vergessen. Es tut mir so leid, Lieber. Entschuldige bitte. Laß doch alles wieder gut sein.»

«Wir hätten in Italien bleiben sollen», sagte er. «Wir hät-ten niemals nach Manderley zurückkehren sollen. O Gott, was für ein Narr war ich doch, wieder hierher zu kommen!»

Er eilte ungeduldig zwischen den Bäumen davon und schritt noch schneller aus als zuvor. Ich mußte laufen, um Schritt mit ihm zu halten; atemlos und dem Weinen nahe rannte ich ihm nach und zog den armen Jasper an der Leine hinter mir her.

Endlich waren wir am Ende des Weges angelangt, dort, wo der andere Pfad zum Glücklichen Tal abzweigte. Wir waren denselben Weg hinaufgestiegen, in den Jasper zu Beginn unseres Spazierganges eingebogen war. Jetzt wußte ich, warum er da entlang laufen wollte: weil der Weg zu dem Bootshaus führte und zu dem Strand, den er am besten kannte; weil der Pfad ihm von früher her vertraut war.

Wir traten aus dem Wald und gingen schweigend über den Rasen auf das Haus zu. Maxims Gesicht war hart und ausdruckslos. Er ging sofort in die Halle, wo Frith uns entgegenkam, und auf die Bibliothek zu, ohne sich nach mir umzusehen.

«Wir wollen sofort Tee trinken», sagte Maxim zu Frith und schloß die Tür hinter sich.

Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Frith durfte sie nicht sehen. Er würde gleich daraus folgern, daß wir uns gestritten hatten, und all den anderen erzählen: «Mrs. de Winter hat soeben in der Halle geweint. Es sieht so aus, als ob da durchaus nicht alles glattgeht.» Ich wandte mich ab, damit Frith mein Gesicht nicht sehen konnte. Er kam jedoch auf mich zu und half mir aus dem Mantel.

«Ich werde Ihren Regenmantel im Blumenzimmer aufhängen, Madam», sagte er.

«Ja, danke, Frith», sagte ich, immer noch mit abgewandtem Gesicht.

«Ich fürchte, das war kein sehr schöner Nachmittag, um spazierenzugehen, Madam.»

«Nein», sagte ich, «nein, es war nicht sehr schön.»

«Ihr Taschentuch, Madam?» sagte er und hob etwas auf, was auf den Boden gefallen war. «Danke schön», sagte ich und steckte es ein.

Ich überlegte mir, ob ich nach oben oder zu Maxim in die Bibliothek gehen sollte. Frith trug den Mantel in das Blumenzimmer. Ich blieb zögernd in der Halle stehen und kaute an meinen Nägeln. Frith kam zurück. Er war offenbar darüber erstaunt, mich noch anzutreffen.

«In der Bibliothek brennt jetzt ein hübsches Feuer, Madam.»

Langsam ging ich durch die Halle auf die Bibliothek zu, öffnete die Tür und trat ein. Maxim saß in seinem Sessel, Jasper zu seinen Füßen, die alte Hündin in ihrem Korb. Er las nicht die Zeitung, obwohl sie auf der Armlehne des Sessels neben ihm lag. Ich lief auf ihn zu, kniete bei ihm nieder und schmiegte mich eng an sein Gesicht.

«Bitte, sei mir nicht mehr böse», flüsterte ich.

Er nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich mit seinen müden, gequälten Augen an. «Ich bin dir nicht böse», sagte er.

«Doch», sagte ich, «ich habe dich unglücklich gemacht. Das ist dasselbe, als ob ich dich erzürnt hätte. Du bist innerlich ganz zerrissen und aufgewühlt und verletzt. Ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen. Ich liebe dich so sehr.»

«Ja?» sagte er. «Tust du das?» Er hielt mich sehr fest, und seine Augen sahen mich forschend an, dunkel und ungewiß, die Augen eines Kindes, das leidet und Angst hat.

«Was ist denn nur, Liebster?» sagte ich. «Warum siehst du so gequält aus?»

Doch bevor er antworten konnte, hörte ich, wie die Tür aufging, und ich ließ mich auf meine Hacken zurückfallen und tat so, als hätte ich nur nach einem Holzscheit greifen wollen, um es ins Feuer zu werfen; während Frith, gefolgt von Robert, das Zimmer betrat und die kleine Zeremonie unserer Teemahlzeit ihren Anfang nahm.

Das Schauspiel des gestrigen Tages wurde genau wiederholt, das Heranrücken des Tisches, das Auflegen der schneeweißen Decke, das Hinstellen der verschiedenen Kuchenteller, und der Wasserkessel summte wieder über der kleinen Spiritusflamme, während Jasper, die Ohren erwartungsvoll zurückgelegt, mit dem Schwanz wedelte und mich dabei bettelnd ansah. Fünf Minuten mußten vergangen sein, bis wir wieder allein waren, und als ich zu Maxim aufblickte, sah ich, daß die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt und der abgespannte, verlorene Ausdruck verschwunden war und daß er sich gerade ein Sandwich nahm.

«Diese vielen Menschen zum Mittagessen sind mir einfach auf die Nerven gegangen», sagte er. «Die gute alte Beatrice geht mir mit ihrer Art immer etwas gegen den Strich. Als Kinder haben wir uns oft wie Hunde gebalgt. Und dabei mag ich sie wirklich gern, weiß Gott. Ich bin nur froh, daß sie nicht so in unserer Nähe wohnen. Dabei fällt mir ein, wir müßten nächstens mal hinüberfahren und Großmutter einen Besuch machen. Schenk mir bitte den Tee ein, Liebling, und verzeih mir, daß ich so grob zu dir war.»

Es war also überstanden. Der Zwischenfall war erledigt. Wir durften nur nicht wieder davon sprechen. Er lächelte mich über seine Tasse hinweg an und griff dann nach der Zeitung auf der Stuhllehne. Das Lächeln war meine Belohnung. Wie ein kleiner Klaps auf Jaspers Kopf, der etwa besagen sollte: «Ja, ja, du bist ein gutes Tier, aber leg dich jetzt hin und störe mich nicht mehr.» Wie Jasper behandelte er mich wieder. Ich hatte schon geglaubt, ihm etwas nähergekommen zu sein, und jetzt war er mir wieder so fern wie zuvor. Ich nahm ein Stück Gebäck und verteilte es an die beiden Hunde. Ich selbst mochte nichts essen, ich war gar nicht hungrig. Ich fühlte mich auf einmal sehr matt, sehr müde, von einer Art lähmender Erschöpfung befallen. Ich sah zu Maxim hinüber, aber er las in seiner Zeitung, die er gerade umgeblättert hatte. Meine Finger waren von dem buttrigen Gebäck ganz fettig geworden, und ich suchte in meiner Tasche nach einem Taschentuch. Ich zog es heraus, ein winziges, spitzengerändertes Etwas, und betrachtete es stirnrunzelnd, da es mir gar nicht gehörte. Dann fiel mir ein, daß Frith es von den Fliesen in der Halle aufgehoben hatte. Es mußte aus der Tasche des Regenmantels gefallen sein. Ich drehte es in meiner Hand hin und her und sah es mir genauer an. Es war schmutzig, und es hingen noch kleine Staubwolken von der Tasche daran. Es mußte also schon lange Zeit in der Tasche des Regenmantels gesteckt haben. In der einen Ecke war ein Monogramm, ein großes, schräges R, in das ein W hineingestickt war. Das R überragte den anderen Buchstaben, sein Schlußbogen zog sich von der Spitzenkante fort bis zur Mitte hin. Es war nur ein kleines Taschentuch, ein lächerlich kleines Stückchen Batist, das zu einer Kugel zusammengeknüllt und dann in die Tasche gesteckt und dort vergessen worden war.

Demnach war ich der erste Mensch, der den Mantel wieder anzog, seitdem das Taschentuch benutzt worden war. Die Frau, die ihn getragen hatte, mußte also schlank und groß und breiter um die Schultern gewesen sein als ich, denn mir war er ja zu weit und viel zu lang gewesen, und die Ärmel gingen mir bis über die Handgelenke. Ein paar Knöpfe fehlten; offenbar war es ihr gleichgültig gewesen, ob sie wieder angenäht wurden oder nicht. Sie hatte ihn wohl lose umgehängt getragen.

Es war auch ein roter Fleck auf dem Taschentuch, der offenbar von einem Lippenstift herrührte. Sie hatte mit dem Tuch die Lippen abgerieben und es dann zusammengeknüllt und in der Tasche vergessen. Ich wischte mir meine Finger an diesem Stückchen Batist ab, und als ich das tat, bemerkte ich, daß ihm noch immer ein süßlich fader Duft anhaftete.

Ein Duft, den ich wiedererkannte, ein Duft, den ich schon einmal gerochen haben mußte. Ich schloß die Augen und versuchte mich zu erinnern. Es war irgendein besonders zarter, feiner Wohlgeruch, auf dessen Ursprung ich mich nicht besinnen konnte. Sicherlich hatte ich ihn schon einmal eingeatmet, ja, mir war, als sei ich am selben Nachmittag schon mit ihm in Berührung gekommen.

Und dann wußte ich plötzlich, daß dieser schwache Duft, der dem Taschentuch noch immer anhaftete, derselbe war, den die welkenden Blütenblätter der Azaleen im Glücklichen Tal ausgeströmt hatten.

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