14

Ich befand mich wieder auf dem Korridor, in den ich mich an jenem ersten Morgen auf Manderley verirrt hatte. Ich war seitdem nicht dort gewesen und hatte auch gar keine Lust verspürt, den Westflügel aufzusuchen. Die Sonne strömte durch das Fenster in der Nische und malte ein goldenes Muster auf das dunkle Holzpaneel.

Es herrschte eine Totenstille, und ich nahm denselben dumpfigen Geruch einer unbenutzten Wohnung wahr, der mir schon das erste Mal aufgefallen war. Ich wußte nicht, welche Tür ich öffnen sollte. Die Lage der Räume war mir ja nicht bekannt. Dann fiel mir ein, daß Mrs. Danvers damals genau hinter mir aus einer Tür getreten war, die, wie ich jetzt nach kurzer Überlegung feststellte, sehr wohl in das Zimmer führen konnte, dessen Fenster auf den Rasen und auf das Meer hinaussahen. Ich drehte am Türknopf und ging hinein. Drinnen war es dunkel, da die Läden geschlossen waren. Ich tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an.

Ich stand in einem kleinen Vorraum, offenbar einem Ankleidezimmer, denn rundherum an den Wänden sah ich lauter große Kleiderschränke. Eine zweite offenstehende Tür führte in das benachbarte große Schlafzimmer. Ich ging hinüber und machte auch dort Licht. Zunächst bekam ich einen Schreck, weil das Zimmer einen ganz bewohnten Eindruck machte.

Ich hatte erwartet, Stühle und Tische und auch das große Doppelbett an der Wand verhüllt vorzufinden, aber nichts war zugedeckt. Auf dem Frisiertisch lagen sogar Kämme und Bürsten, standen Puderdosen und Parfümflakons. Das Bett war frisch bezogen; ich sah das weiße Leinen des Kopfkissenbezuges aufleuchten und das Laken unter der aufgeschlagenen Daunensteppdecke hervorlugen. Und überall standen Blumen: auf dem Frisiertisch, auf dem Nachttisch und auf dem marmornen Kaminsims. Ein seidener Morgenrock hing ausgebreitet über einem Stuhl, und davor standen ein Paar Pantoffeln. Eine Sekunde lang bildete ich mir in meiner Bestürzung ein, daß in meinem Gehirn irgendeine Veränderung vor sich gegangen wäre, daß ich in die Vergangenheit zurückblickte und das Zimmer vor mir sah, wie es vor ihrem Tode ausgesehen hatte . In der nächsten Minute würde Rebecca selbst ins Zimmer treten, sich vor den Spiegel am Frisiertisch setzen, irgendeine Melodie vor sich hin summen, nach ihrem Kamm greifen und sich das Haar kämmen. Das Ticken der Wanduhr brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor halb fünf. Meine Armbanduhr zeigte die gleiche Zeit an. Das Ticken hatte etwas so beruhigend Normales; es erinnerte mich an die Gegenwart und daran, daß der Teetisch auf dem Rasen bald für mich gedeckt würde. Langsam ging ich in die Mitte des Zimmers. Nein, es wurde nicht mehr benutzt. Niemand wohnte mehr darin. Selbst der Blumenduft konnte den muffigen Geruch nicht vertreiben. Die Vorhänge waren zugezogen und die Läden geschlossen. Rebecca würde dieses Zimmer nie wieder betreten. Mochte Mrs. Danvers auch Blumen auf den Kamin stellen und die Bettdecke zurückschlagen, sie würde sie damit nicht wieder lebendig machen. Rebecca war tot. Sie war schon vor einem Jahr gestorben und lag neben den anderen toten de Winters in der Familiengruft.

Ich konnte das Meeresrauschen deutlich hören. Ich trat ans Fenster und stieß die Läden auf. Ja, ich stand an demselben Fenster, an dem Mrs. Danvers und Favell vor einer halben Stunde gestanden hatten. Der helle Tagesschein ließ das künstliche Licht unecht und noch gelber erscheinen. Ich machte die Läden noch etwas weiter auf. Das Tageslicht warf einen weißen Schein auf das Bett und auf die Tasche mit dem Nachthemd, die auf dem Kopfkissen lag. Es fiel auf die Glasplatte des Frisiertischs und auf die Bürsten und Parfümflaschen.

Jetzt erst bemerkte ich, wie mir die Knie zitterten. Ich setzte mich auf den Sessel vor dem Toilettentisch. Mein Herz hatte aufgehört, so laut und heftig zu klopfen, es war schwer wie Blei. Ich sah mich mit einer Art blödem Staunen im Zimmer um. Ja, es war ein sehr schöner Raum; Mrs. Danvers hatte an jenem ersten Abend nicht übertrieben. Sicherlich war es das schönste Zimmer im ganzen Haus. Dieser formvollendete Marmorkamin, das geschnitzte Bett und die schweren Seidenvorhänge, auch die Wanduhr und die Messingleuchter vor mir auf dem Tisch waren Dinge, die ich geliebt und bewundert hätte, hätten sie mir gehört. Aber sie gehörten mir ja nicht, sie gehörten einer anderen. Ich streckte meine Hand aus und strich mit den Fingern über die Haarbürsten. Die eine sah viel gebrauchter aus als die andere. Ich fand das sehr verständlich. Man benutzte wohl niemals beide Bürsten gleichzeitig, und wenn sie gewaschen werden sollten, fiel es auf, daß die eine noch ganz sauber und fast unberührt war. Wie blaß und mager mein Gesicht im Spiegel aussah und wie strähnig mir das Haar von der Stirn hing! Sah ich denn immer so aus? Im allgemeinen hatte ich wohl doch etwas mehr Farbe? Bleich und unschön starrte mein Spiegelbild mich an.

Ich stand wieder auf und befühlte den Morgenrock auf dem Stuhl. Ich hob die Pantoffeln auf und hielt sie ein Weilchen in meiner Hand. Ich empfand eine Art Grauen, das immer stärker wurde, ein Grauen, das in Verzweiflung umschlug. Ich berührte die Steppdecke auf dem Bett und fuhr mit dem Finger den ineinander verschlungenen Buchstaben des Monogramms auf der Nachthemdtasche nach, einem mit Perlgarn gestickten R de W, das reliefartig von dem goldenen Seidenbrokat abstach. Das Nachthemd selbst war aprikosenfarben und so dünn wie Spinnweben. Ich zog es heraus und hielt es einen Augenblick an mein Gesicht. Es fühlte sich ganz kalt an. Aber es haftete ihm noch ein fader, süßlicher Parfümgeruch an, der mich wieder an den Duft der weißen Azaleen erinnerte. Ich faltete es zusammen und legte es in die Tasche zurück, und als ich das tat, bemerkte ich mit einem dumpfen Schmerzgefühl, daß es ganz zerknittert und das feine Gewebe an vielen Stellen schon brüchig war - das Hemd war nicht gewaschen worden, seitdem Rebecca es zum letztenmal getragen hatte ...

Von einem plötzlichen Impuls getrieben, ging ich in den kleinen Vorraum zurück, in dem die Schränke standen. Ich schloß den einen auf. Er hing voller Kleider, wie ich gedacht hatte, Abendkleider offenbar, denn unter den weißen Tüchern sah an dem einen Bügel ein Silberstreifen, an einem anderen ein Stückchen Goldbrokat hervor. Auch ein weinrotes Samtkleid sah ich und eine lange weiße Seidenschleppe, die am Boden schleifte. Und oben auf dem Bord lag ein Fächer aus Straußenfedern.

Im Schrank roch es merkwürdig muffig. Der zarte Azaleenduft, den ich im Freien als so wohlriechend empfunden hatte, war hier im Schrank ganz schal geworden und wehte mir von den parfümierten Kleidern zwischen den offenen Türen wie verbrauchter Atem entgegen. Ich machte den Schrank zu und ging wieder ins Schlafzimmer. Der Lichtschein aus dem offenen Fenster fiel noch immer auf die goldfarbene Bettdecke und ließ das große schräge R im Monogramm deutlich hervortreten.

Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich Mrs. Danvers. Ich werde niemals den eigenartigen, fast krankhaft erregten Ausdruck in ihrem Gesicht vergessen, diesen triumphierenden Blick, mit dem sie mich hämisch anstarrte. Ich fürchtete mich vor ihr.

«Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Madam?» fragte sie.

Ich versuchte sie anzulächeln und brachte es nicht fertig; ich versuchte zu sprechen und konnte es nicht.

«Ist Ihnen nicht gut?» sagte sie nähertretend mit freundlich gedämpfter Stimme. Ich fühlte ihren Atem auf meinem Gesicht und wich vor ihr zurück. Ich glaube, wenn sie mir noch näher gekommen wäre, wäre ich ohnmächtig geworden.

«Mir fehlt gar nichts, Mrs. Danvers», sagte ich schließlich. «Sie haben mich nur etwas erschreckt, weil ich Sie nicht kommen hörte. Ich habe unten vom Rasen aus gesehen, daß die Läden hier nicht dicht waren, und ging hinauf, um sie zu schließen.»

«Ich werde sie schließen», sagte sie und ging leise durch das Zimmer und schlug die Läden zu. In dem gelben künstlichen Licht sah das Zimmer jetzt wieder unwirklich und gespenstisch aus.

Mrs. Danvers kam zu mir zurück und blieb neben mir stehen. Sie lächelte, und ihre Haltung, die mir gegenüber sonst immer so überlegen herablassend gewesen war, bekam auf einmal etwas erschreckend Vertrauliches, geradezu Kriecherisches.

«Warum erzählen Sie mir, daß der Laden nicht dicht war?» sagte sie. «Ich hatte ihn geschlossen, bevor ich aus dem Zimmer ging. Sie haben ihn selbst wieder aufgemacht, nicht wahr? Sie wollten endlich das Zimmer sehen.

Warum haben Sie mich nicht schon früher darum gebeten, es Ihnen zu zeigen? Ich wäre jeden Tag bereit gewesen, Sie heraufzuführen. Sie hätten es mir nur zu sagen brauchen.»

Ich wollte fortlaufen, aber ich konnte mich nicht bewegen, als ob ich von ihr hypnotisiert wäre.

«Aber nun sind Sie ja hier, und jetzt lassen Sie mich Ihnen auch alles zeigen», sagte sie mit honigsüßer, widerlich falscher einschmeichelnder Stimme. «Ich weiß, daß Sie gern alles sehen möchten. Sie wollten es schon lange, nicht wahr, und waren nur zu scheu, es mir zu sagen. Ist es nicht ein entzückendes Zimmer? Sicher das hübscheste Zimmer, das Sie je gesehen haben.»

Sie faßte mich am Arm und führte mich zum Bett. Ich konnte mich ihrer nicht erwehren. Die Berührung ihrer Hand machte mich schaudern, und sie sprach in einem eindringlichen Flüsterton, den ich zugleich verabscheute und fürchtete.

«Hier schlief sie. Ein wunderschönes Bett, nicht wahr? Ich habe diese goldfarbene Überdecke darauf gelegt, weil sie sie am liebsten hatte. Hier in der Tasche ist ihr Nachthemd. Sie haben es sich schon angesehen, nicht wahr? Dieses Nachthemd hat sie zum letztenmal in der Nacht vor ihrem Tod getragen. Wollen Sie es nicht noch einmal anfassen?» sie nahm das Nachthemd aus der Tasche und hielt es mir hin. «Fühlen Sie nur», sagte sie, «wie weich und leicht es ist. Ich habe es nicht mehr gewaschen, seit sie es zum letztenmal getragen hat. Ich habe es hier auf das Kissen gelegt und ihren Morgenrock da auf den Stuhl, genau wie in der Nacht, als sie nicht mehr zurückkehrte -wie in der Nacht, in der sie ertrunken ist.» Sie faltete das Nachthemd zusammen und legte es in die Tasche zurück. «Ich bin auch ihre Zofe gewesen», sagte sie, während sie mich wieder am Arm nahm und zu dem Stuhl mit dem Morgenrock führte. «Wir haben es mit den verschiedensten Mädchen versucht, aber keine konnte es ihr recht machen. , sagte sie zu mir, Sehen Sie, das ist ihr Morgenrock. Sie war viel größer als Sie, das sieht man an der Länge. Halten Sie ihn sich doch mal an. Ja, Ihnen reicht er bis zu den Füßen. Sie hatte eine wunderbare Figur. Und das sind ihre Pantoffeln. , sagte sie immer. Sie hatte sehr kleine Füße für ihre Größe. Legen Sie mal die Hand hinein. Sie sind klein und schmal, nicht wahr?»

Lächelnd, ohne mich aus den Augen zu lassen, schob sie mir die Pantoffeln über die Hände. «Ja, sie hatte auffallend kleine Füße, das hätte man bei ihrer Größe nie gedacht. Und wie schlank sie dabei war! Wenn sie nicht neben mir stand, vergaß ich ihre Länge immer. Sie war auf den Zentimeter genauso groß wie ich. Aber wenn sie im Bett lag, sah sie beinahe winzig aus, mit dieser dichten schwarzen Lockenfülle, die ihr Gesicht wie ein dunkler Heiligenschein umrahmte.»

Sie stellte die Pantoffeln auf den Boden und hängte den Morgenrock wieder über den Stuhl. «Haben Sie sich ihre Bürsten angesehen?» fragte sie, während sie mich zur Frisiertoilette zurückführte. «Da liegen sie, so, wie sie sie immer hingelegt hat; ich habe sie absichtlich nicht gewaschen. Jeden Abend habe ich ihr das Haar gebürstet. rief sie, und ich stellte mich hier hinter den Sessel und bürstete ihr zwanzig Minuten lang das Haar. Sie trug es erst in den letzten Jahren so kurz; als sie heiratete, ging es ihr noch bis zu den Hüften. Damals hat Mr. de Winter es noch immer gebürstet. Wie oft bin ich hier ins Zimmer gekommen und habe ihn in Hemdsärmeln mit den beiden Bürsten in der Hand hin-ter dem Sessel stehen sehen. sagte sie und wandte sich lachend nach ihm um, und er bürstete das Haar so kräftig, wie sie es haben wollte. Sie zogen sich gerade zum Abendessen um, wissen Sie, und das ganze Haus war immer voller Gäste. , sagte er dann, ebenfalls lachend, während er mir die Bürsten zuwarf. Er war damals immer so vergnügt und lachte viel.»

Sie machte eine kleine Pause, hielt aber meinen Arm noch immer fest.

«Alle haben sie ihr Vorwürfe gemacht, als sie sich das Haar schneiden ließ», fuhr sie fort. «Aber das war ihr ganz egal. , meinte sie nur. Und zum Reiten und Segeln war das kurze Haar ja auch viel praktischer. Sie ist von einem berühmten Künstler zu Pferde gemalt worden. Das Bild war in der Akademie ausgestellt. Haben Sie es vielleicht gesehen?»

Ich schüttelte den Kopf. «Nein», sagte ich, «nein, ich kenne das Bild nicht.»

«Es soll das beste Porträt in der ganzen Ausstellung gewesen sein», sprach sie weiter, «aber Mr. de Winter mochte es nicht und wollte es nicht auf Manderley haben. Ich glaube, er fand, daß der Maler ihrer Schönheit nicht gerecht geworden ist. Ihre Kleider wollen Sie sich doch gewiß auch ansehen, oder?» fügte sie im selben Atemzug hinzu und führte mich, ohne meine Antwort abzuwarten, in das Ankleidezimmer, wo sie die Schränke der Reihe nach aufschloß.

«Hier bewahre ich ihre Pelze auf», sagte sie. «Da ist noch keine einzige Motte drin gewesen. Fühlen Sie mal den Zobelmantel da. Den hat Mr. de Winter ihr zu Weihnachten geschenkt. Sie hat mir einmal gesagt, was der ge-kostet hat, aber ich habe es wieder vergessen. Diesen Chinchillakragen hat sie abends besonders oft getragen, lose um die Schultern gehängt, wenn die Abende kühler wurden. In dem Schrank hängen nur ihre Abendkleider. Den haben Sie schon geöffnet, nicht wahr? Das Schloß ist ja nur eingeschnappt. Ich glaube, Mr. de Winter sah sie am liebsten in Silber, aber sie konnte eigentlich jede Farbe tragen. In diesem Samtkleid sah sie wunderschön aus. Halten Sie es sich mal ans Gesicht. Fühlen Sie, wie weich der Stoff ist? Und er riecht immer noch nach ihrem Parfüm. Man könnte fast glauben, sie hätte das Kleid gerade erst ausgezogen. Ich merkte immer, wenn sie vor mir in einem Zimmer gewesen war. Es hing dann immer noch ein leichter Duft von ihrem Parfüm in der Luft. Da in der Schublade liegt ihre Wäsche. Diese rosa Garnitur hat sie gar nicht mehr getragen. Als das Unglück passierte, trug sie natürlich ihren Segelanzug. Aber die Strömung hat ihr alles vom Leib gerissen. Als man sie nach den vielen Wochen fand, war sie ganz nackt.»

Ihre Finger gruben sich noch fester in meinen Arm. Sie beugte sich zu mir nieder, ihr bleiches Totenkopfgesicht unmittelbar vor mir, und sah mir tief in die Augen. «Die Felsen hatten sie fast ganz zerschmettert», flüsterte sie, «ihr schönes Gesicht völlig verstümmelt und beide Arme abgeschlagen. Mr. de Winter hat sie identifiziert. Er ist ganz allein nach Edgecoombe gefahren. Er war damals sehr krank, aber er bestand darauf, hinzufahren. Niemand konnte ihn davon abbringen, nicht einmal Mr. Crawley.»

Sie hielt inne, ohne ihren Blick von mir zu lassen. «Ich werde mir ewig Vorwürfe machen, weil ich mich für das Unglück verantwortlich fühle. Es war meine Schuld, weil ich an jenem Abend nicht zu Hause war. Ich war am Nachmittag nach Kerrith gegangen und länger dort geblieben, weil Mrs. de Winter nach London gefahren war und erst spät am Abend zurückerwartet wurde. Deshalb hatte ich es nicht so eilig mit der Rückkehr. Als ich um halb neun hier ankam, hörte ich, daß sie bereits um sieben Uhr zurückgekommen und gleich nach dem Essen wieder fortgegangen war. Zum Strand natürlich. Ich machte mir Sorgen. Vom Westen her kam nämlich ein Sturm auf. Sie wäre bestimmt nicht aus dem Haus gegangen, wenn ich dagewesen wäre. Sie hat immer auf mich gehört. , hätte ich ihr gesagt, , und sie hätte mir darauf höchstens mit einem geantwortet und wäre geblieben. Und wir hätten uns hier vor dem Schlafengehen noch etwas unterhalten, und sie hätte mir wie immer erzählt, was sie den ganzen Tag in London getan hatte.»

Mein Arm tat mir richtig weh und fühlte sich unter dem festen Druck ihrer Finger wie gelähmt an. Und immer noch war ihr Gesicht dicht vor mir, und ich sah, wie straff die Haut darüber gespannt war und wie scharf die Bak-kenknochen hervortraten. Und unter ihren Ohren entdeckte ich merkwürdige gelbe kleine Flecken.

«Mr. de Winter hatte bei Mr. Crawley im Verwalterhaus zu Abend gegessen», fuhr sie wieder fort. «Ich weiß nicht mehr genau, wann er nach Hause kam, aber ich glaube, es war nach elf. Und kurz vor Mitternacht fing es an, heftig zu stürmen, und sie war noch immer nicht da. Ich ging nach unten, aber alle Zimmer waren dunkel. Dann ging ich wieder nach oben und klopfte an die Tür des Ankleidezimmers, in dem noch Licht brannte. Mr. de Winter antwortete sofort. fragte er. Ich sagte ihm, daß ich mir Sorgen machte, weil Mrs. de Winter noch nicht wiedergekommen war, und nach einem kleinen Augenblick machte er mir im Schlafrock die Tür auf. , sagte er. Er sah müde aus, und ich wollte ihn nicht auch noch beunruhigen. Sie hatte ja auch schon öfters im Bootshaus übernachtet und war schon bei jedem Wetter mit dem Boot draußen gewesen. Vielleicht hatte sie gar nicht segeln, sondern nur nach dem Tag in der Stadt etwas frische Luft haben wollen, dachte ich. Ich sagte Mr. de Winter gute Nacht und ging in mein Zimmer zurück. Aber schlafen konnte ich nicht; ich machte mir doch immer wieder Gedanken, wo sie wohl sein mochte.»

Mrs. Danvers schwieg wieder. Ich wollte auch nichts mehr hören. Ich hatte nur den einen Wunsch, fortzugehen und dieses Zimmer zu verlassen. Aber sie konnte nicht mit dem Erzählen aufhören.

«Bis halb sechs Uhr morgens saß ich auf meinem Bett», sagte sie, «dann hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich stand auf, nahm meinen Mantel und ging durch den Wald zum Strand. Es wurde bereits hell, und der Wind hatte sich gelegt; aber es nieselte und die Luft war trübe und neblig. Als ich am Strand ankam, sah ich die Boje auf dem Wasser schwimmen und das kleine Ruderboot, aber das Segelboot war fort ...» Mir war, als könnte ich die Bucht im Morgengrauen vor mir liegen sehen, das feuchte Geriesel auf meinen Wangen spüren, und als könnte ich, durch den Frühnebel spähend, draußen auf dem Wasser undeutlich verschwommen die Umrisse der Boje erkennen.

Mrs. Danvers gab meinen Arm endlich frei. Ihre Stimme verlor jeden Ausdruck und klang wieder so eintönig und teilnahmslos, wie sie sonst zu sprechen pflegte.

«Einer von den Rettungsringen wurde am Nachmittag in Kerrith angeschwemmt», sagte sie, «und der andere am nächsten Tag von Krabbenfischern in den Felsen unterhalb der Landzunge gefunden. Verschiedene Teile der Takelage wurden von der Flut ebenfalls ans Ufer getrieben.»

Sie wandte sich von mir ab und schloß die Schublade. Sie rückte einige Bilder gerade und hob ein Wollflöckchen vom Teppich auf. Ich sah ihr zu und wußte nicht, was ich tun sollte.

«Jetzt wissen Sie», sagte sie, «warum Mr. de Winter die Räume hier im Westflügel nicht mehr benutzen mag. Hören Sie das Meer?»

Ja, selbst jetzt bei geschlossenen Fenstern und Läden konnte ich es hören, ein dumpfes drohendes Gemurmel, wenn die Wellen sich an den hellen Felsen in der Bucht brachen. Die Flut würde jetzt rasch steigen und den Strand bis nahe an das Bootshaus überschwemmen.

«Seit jener Nacht, in der sie ertrunken ist, hat er diese Räume nicht mehr betreten», sagte sie. «Er ließ seine Sachen aus dem Ankleidezimmer räumen, und wir mußten ihm eines der Zimmer am Ende des Korridors herrichten. Ich glaube nicht, daß er dort viel Schlaf gefunden hat. Er muß die Nächte im Lehnstuhl zugebracht haben, denn morgens lagen rundherum auf dem Boden Zigarettenstummel. Und tagsüber hörte Frith ihn häufig ruhelos in der Bibliothek hin und hergehen, hin und her, hin und her.»

Auch ich konnte die Zigarettenasche neben dem Sessel auf dem Boden sehen. Auch ich konnte diese ruhelosen Schritte hören - tap, tap, tap - von einem Ende der Bibliothek bis zum anderen. Mrs. Danvers schloß leise die Tür zwischen Schlafzimmer und Ankleideraum und drehte das Licht aus. Sie ging zur Tür, die zum Korridor führte, legte ihre Hand auf die Klinke und wartete, bis ich nachkam.

«Ich staube die Sachen in den Zimmern hier jeden Morgen selbst ab», sagte sie. «Wenn Sie sie wieder einmal an-sehen wollen, brauchen Sie es mir nur zu sagen. Sagen Sie mir durchs Haustelephon Bescheid. Ich werde schon verstehen. Den Mädchen habe ich streng untersagt, hier heraufzugehen. Kein Mensch außer mir betritt diese Zimmer.»

Ihr Verhalten bekam wieder etwas Kriecherisches, etwas aufdringlich Vertrauliches, das mir so widerwärtig war. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war falsch und unnatürlich. «Vielleicht mögen Sie gern herkommen und sich hier etwas aufhalten, wenn Mr. de Winter wieder einmal in London ist und Sie sich einsam fühlen. Sie brauchen es mir wirklich nur zu sagen. Sie sind so wunderschön, diese Zimmer. Wenn man sie so sieht, will man gar nicht glauben, daß sie nun für ewig fortgegangen ist, nicht wahr? Man könnte meinen, daß sie nur zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen ist und abends wieder zurückkommen muß.»

Ich zwang mich zu einem Lächeln. Ich konnte nicht sprechen. Meine Kehle war zu trocken.

«Und es geht einem ja nicht nur in diesen Zimmern so», sagte sie, «sondern eigentlich im ganzen Haus, im Morgenzimmer, in der Halle, selbst im kleinen Blumenzimmer; ich spüre ihre Gegenwart überall. Sie auch, nicht wahr?»

Sie starrte mich forschend an. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. «Manchmal, wenn ich hier den Korridor entlanggehe, bilde ich mir ein, daß ich sie kommen höre. Dieser leichte rasche Schritt - unter Tausenden würde ich ihn herauskennen. Und in der Galerie über der Halle ist es dasselbe. Ich habe sie an so vielen Abenden da oben an der Brüstung lehnen und hinunterblicken sehen und die Hunde rufen hören. Manchmal sehe ich sie jetzt auch noch da stehen. Und oft ist mir, als könnte ich das Rauschen ihrer Schleppe auf den Treppenstufen hören, wenn sie zum Essen nach unten geht.» Sie brach ab. Sie sah mich unverwandt, wie fragend an. «Glauben Sie, daß sie uns jetzt sehen kann, wie wir hier miteinander reden?» fragte sie dann langsam. «Glauben Sie, daß die Toten wiederkommen und die Lebenden beobachten?»

«Ich weiß nicht», sagte ich, «ich weiß nicht.» Meine Stimme klang hoch und schrill, ganz anders als sonst.

«Manchmal frage ich mich», flüsterte Mrs. Danvers wieder, «manchmal frage ich mich, ob sie wohl nach Manderley zurückkommt und Mr. de Winter mit Ihnen zusammen sehen kann?»

Wir standen noch immer an der Tür und starrten einander an. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren Augen wenden. Wie dunkel und tief sie in den Höhlen dieses bleichen Totenkopfgesichtes lagen, und wie bösartig und haßerfüllt sie mich anstarrten!

Schließlich machte Mrs. Danvers die Tür auf. «Robert ist jetzt wieder da», sagte sie. «Er ist vor einer guten Viertelstunde zurückgekommen. Ich habe ihm bereits aufgetragen, Ihren Tee zur Kastanie hinauszubringen.»

Sie trat zur Seite, um mich vorbeizulassen, und ich stolperte an ihr vorüber den Korridor entlang, ohne auf meine Füße zu achten. Ich konnte nichts mehr erwidern. Ich tappte mich wie eine Blinde die Treppe hinunter, bog um die Ecke und stieß die Tür auf, die zum Ostflügel führte. In meinem Schlafzimmer schloß ich die Tür hinter mir ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Dann warf ich mich aufs Bett und schloß die Augen. Mir war sterbenselend zumute.

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