15

Maxim rief am nächsten Morgen an, um mitzuteilen, daß er abends gegen sieben Uhr zurückkommen werde. Frith sprach mit ihm. Maxim bat ihn nicht, mich an den Apparat zu rufen. Ich hörte das Telephon klingeln, während ich noch frühstückte, und in der Annahme, daß Frith gleich ins Eßzimmer kommen und sagen würde: «Mr. de Winter möchte Sie sprechen, Madam», legte ich meine Serviette zusammen und stand auf. Und dann kam Frith und richtete mir aus, was Maxim gesagt hatte.

«Mr. de Winter hat bereits aufgelegt, Madam», sagte er, als er mich meinen Stuhl zurückschieben und zur Tür gehen sah. «Er hat mir sonst nichts aufgetragen, nur, daß er um sieben Uhr wieder hier sein wird.»

Ich kehrte an den Tisch zurück. Frith mußte mich für sehr dumm halten, weil ich so eifrig aus dem Zimmer stürzen wollte.

«Es ist gut, Frith, danke schön», sagte ich.

Ich setzte mich wieder und nahm mir noch etwas von den Eiern und dem Schinken. Jasper lag zu meinen Füßen, und die alte Hündin schnarchte in ihrem Korb in der Ecke. Ich überlegte mir, was ich heute mit meinem Tag anfangen sollte. Ich hatte sehr schlecht geschlafen, vielleicht nur deshalb, weil Maxim nicht da gewesen war. Ich hatte mich unruhig hin- und hergewälzt und war immer wieder aufgewacht, und jedesmal, wenn ich auf die Uhr gesehen hat-te, stellte ich fest, daß die Zeiger kaum vorgerückt waren. Und als ich endlich eingeschlafen war, hatte ich verschiedene unzusammenhängende Träume. Wir gingen zusammen durch einen Wald, Maxim und ich, und er lief mir immer ein Stückchen voraus. Ich konnte ihn nicht einholen. Nicht einmal sein Gesicht konnte ich sehen, nur seine Gestalt, wie er mit langen Schritten vor mir herging. Ich mußte wohl im Schlaf geweint haben, denn als ich am Morgen aufwachte, war das Kissen ganz naß, und meine Augenlider waren geschwollen. Ich sah häßlich und elend aus. Um nicht zu blaß zu wirken, rieb ich mir etwas Rouge auf die Wangen, aber es half nichts, es machte es nur noch schlimmer. Es gab mir ein clownhaftes Aussehen. Die Kunst des Schminkens war mir noch fremd. Als ich durch die Halle ins Eßzimmer ging, bemerkte ich, wie Robert mich anstarrte.

Gegen zehn - ich streute den Vögeln auf der Terrasse gerade ein paar Krumen hin - läutete das Telephon wieder. Diesmal wurde ich verlangt. Frith kam und sagte, daß Mrs. Lacy mich zu sprechen wünsche.

«Guten Morgen, Beatrice», sagte ich.

«Hallo, meine Liebe, wie geht es dir?» sagte sie mit ihrer fast männlich tiefen Telephonstimme, die so typisch für sie war, rasch, bestimmt und geradezu, und ohne meine Antwort abzuwarten. «Ich wollte heute nachmittag mal rüberfahren und Großmutter besuchen. Zum Mittagessen bin ich bei Bekannten, keine zwanzig Meilen von Mander-ley entfernt. Soll ich dich abholen, und wir fahren dann zusammen hin? Es wird ja schließlich Zeit, daß du die alte Dame mal kennenlernst.»

«Ja, sehr gern, Beatrice», sagte ich.

«Sehr gut, also dann hole ich dich um halb vier Uhr herum ab. Giles hat übrigens Maxim bei dem Essen in Lon-don getroffen. Sehr schlechte Küche, sagte er, aber ausgezeichnete Weine. Also bis nachher, meine Liebe.»

Ein Knacken in der Leitung; Beatrice hatte den Hörer aufgelegt. Ich ging in den Garten zurück. Ich freute mich über ihren Anruf und ihren Vorschlag, der alten Dame zusammen einen Besuch zu machen. Da hatte ich doch etwas, auf das ich warten konnte und das die Eintönigkeit dieses Tages unterbrechen würde. Mir waren die Stunden bis zum Abend schon sehr lang vorgekommen. Die Ferienstimmung war mir vergangen, und ich hatte nicht die geringste Lust, wieder mit Jasper durch das Glückliche Tal an den Strand zu gehen und Steine ins Wasser zu werfen. Mein Freiheitsrausch war verflogen und mit ihm auch das kindliche Verlangen, in Sandalen über den Rasen zu laufen. Häuslich wie eine gute Familienmutter setzte ich mich mit einem Buch und der Times und meinem Strickzeug in den Rosengarten und machte es mir gähnend in der warmen Sonne bequem, während die Bienen zwischen den Blumen umhersummten.

Das Mittagessen bot an diesem langen Vormittag eine willkommene Unterbrechung. Friths undurchdringliche Ruhe und Roberts etwas blödes Gesicht ließen mich die Zeit besser vergessen, als Zeitung und Buch es vermocht hatten. Und um halb vier, pünktlich auf die Minute, hörte ich den Wagen von Beatrice um die Kurve in der Einfahrt biegen und vor der Freitreppe anhalten. Bereits fertig angezogen, die Handschuhe in der Hand, lief ich hinaus, um sie zu begrüßen. «Da bin ich, meine Liebe, herrliches Wetter, was?» sie schlug die Wagentür zu und kam mir die Treppe herauf entgegen. Sie deutete einen Kuß an, indem sie mich mit ihren Lippen irgendwo nahe am Ohr streifte.

«Du siehst gar nicht gut aus», sagte sie gleich mit einem musternden Blick. «Viel zu schmal im Gesicht und gar keine Farbe. Was ist denn los mit dir?» «Nichts», sagte ich kleinlaut. Ich wußte nur zu gut, was mit meinem Gesicht los war. «Ich habe nie viel Farbe.»

«Ach Unsinn», meinte sie. «Das letzte Mal sahst du sehr viel besser aus.»

«Wahrscheinlich fängt meine italienische Bräune an zu verblassen», sagte ich, während ich in den Wagen stieg.

«Hm», sagte sie kurz. «Du bist genauso schlimm wie Maxim. Ihr könnt beide nicht vertragen, daß man euer Aussehen kritisiert. Knall die Tür ordentlich zu, sonst schließt sie nicht.» Der Wagen schoß vorwärts und sauste mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit durch die Kurve. «Oder fängst du vielleicht an, Kinder zu bekommen?»

«Nein», sagte ich verlegen, «nein, ich glaube nicht.»

«Keine Übelkeit am Morgen oder so was?»

«Nein.»

«Na ja, das ist ja auch nicht immer notwendig. Mir ging es glänzend, als ich Roger erwartete, ich hab mich in den ganzen neun Monaten so wohl gefühlt wie ein Fisch im Wasser. Noch am Tag, bevor er ankam, spielte ich meine Runde Golf. Weißt du, es ist ganz verkehrt, sich wegen dieser Naturereignisse zu genieren. Es ist viel besser, du sagst es mir, wenn du irgendwelche Vermutungen hast.»

«Nein, wirklich nicht, Beatrice», sagte ich. «Ich kann dir beim besten Willen noch nichts erzählen.»

«Ich muß ja sagen, ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du uns nicht zu lange auf den Sohn und Erben warten ließest. Es würde Maxim so guttun. Du unternimmst doch hoffentlich nichts dagegen?»

«Natürlich nicht», sagte ich. Was für eine merkwürdige Unterhaltung!

«Ach, du brauchst nicht schockiert zu sein», meinte sie. «Du mußt dich überhaupt nicht daran stoßen, was ich sa-ge. Die jungen Frauen sind heutzutage doch gar nicht mehr so auf Nachkommenschaft erpicht. Es ist ja auch verflucht lästig, wenn man Fuchsjagden mitmachen will und sich gleich die erste Saison mit einem Kind verdirbt. Wenn beide passionierte Reiter sind, genügt das schon, um eine Ehe kaputtzumachen. Aber bei dir besteht diese Gefahr ja nicht. Babies stören ja nicht beim Zeichnen. Wie geht's übrigens damit?»

«Ich hab mich in letzter Zeit leider wenig darum gekümmert.»

«Ach, es ist doch jetzt so schönes Wetter, um draußen zu sitzen. Zum Malen braucht man doch nicht mehr als einen Klappstuhl und einen Kasten Buntstifte, oder? Haben dir eigentlich die Bücher Spaß gemacht, die ich dir schickte?»

«Ja, natürlich», sagte ich. «Du hast dir wirklich ein wunderschönes Geschenk für mich ausgedacht, Beatrice.»

Sie schien das gern zu hören. «Freut mich, daß du Spaß daran hast.»

Der Motor dröhnte. Beatrice hatte das Gaspedal bis auf den Boden durchgetreten und schnitt jede Kurve in einer atemberaubenden Weise. Zwei Autofahrer, an denen wir vorbeisausten, machten empörte Gesichter, und ein Fußgänger auf dem Sommerweg drohte mit seinem Stock hinter uns her. Mir fing an heiß zu werden, und ich verkroch mich tiefer in meinen Sitz. Beatrice dagegen schien nichts bemerkt zu haben.

«Im nächsten Semester kommt Roger nach Oxford», sagte sie. «Gott weiß, was er dort mit sich anfangen wird. Ich finde es ja eigentlich eine furchtbare Zeitverschwendung, und Giles auch, aber wir wußten nicht, womit wir ihn sonst beschäftigen sollten. Er ist natürlich ganz wie Giles und ich, hat für nichts anderes Gedanken als für Pferde. Was denkt sich denn der Kerl da vorne? Könntest du nicht ein Zeichen geben, wenn du abbiegen willst, alter Trottel?»

Wir überholten das Auto vor uns und entgingen dabei nur knapp einem Zusammenstoß. «Habt ihr in letzter Zeit viel Besuch gehabt?» fragte sie.

«Nein, wir haben kaum einen Menschen gesehen», sagte ich.

«Auch viel vernünftiger», meinte sie. «Ich finde diese großen Gesellschaften furchtbar öde. Wenn du einmal zu uns kommst, wirst du dich bestimmt wohl fühlen. Wir haben nur nette Nachbarn und sind seit langem wirklich gut miteinander befreundet. Wir laden uns gegenseitig zum Essen und zum Bridge ein und kümmern uns nicht weiter um Fremde. Du spielst doch auch Bridge?»

«Ja, aber nur mäßig, Beatrice.»

«Oh, daran werden wir uns nicht stoßen, wenn du nur wenigstens eine Ahnung davon hast. Ich ärgere mich nur über die Leute, die es nicht lernen wollen. Was zum Teufel soll man denn mit solchen Menschen im Winter nachmittags oder überhaupt nach dem Abendessen anfangen? Man kann doch nicht einfach dasitzen und schwatzen.»

Ich sah zwar nicht ein, warum man das nicht können sollte, aber ich fand es bequemer, nichts zu entgegnen.

«Roger fängt jetzt endlich an, etwas manierlicher zu werden, und wir haben viel Spaß an seinen Freunden, die er übers Wochenende mitbringt. Du hättest letzte Weihnachten dabei sein müssen. Wir führten Scharaden auf und haben uns großartig amüsiert. Giles war so richtig in seinem Element. Er verkleidet sich für sein Leben gern, und wenn er ein paar Glas Champagner intus hat, ist er einfach unwiderstehlich komisch. Ich behaupte ja immer, daß er seinen Beruf verfehlt hat und zur Bühne hätte gehen sollen. Wir haben uns natürlich niemals etwas auf unsere Schauspielkünste eingebildet», sagte sie, «es kam uns ja dabei nur auf den Unsinn an, den wir machen konnten. Manderley dagegen, da hat man wirklich Platz, eine richtig nette Aufführung zu machen. Ich erinnere mich noch an die historischen Bilder bei einem Kostümfest, zu dem Maxim richtige Schauspieler aus London hatte kommen lassen. Für so was braucht man natürlich lange Proben und Vorbereitungen.»

«Ja», sagte ich.

Sie sagte eine Weile nichts mehr, und wir fuhren schweigend weiter. «Wie geht's Maxim eigentlich?» fragte sie dann.

«Sehr gut, danke.»

«Vergnügt und glücklich?»

«O ja, doch ja, ich glaube schon.»

Eine schmale Dorfstraße nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich überlegte mir, ob ich ihr von Mrs. Danvers und diesem Favell erzählen sollte. Ich wollte nur nicht, daß sie Maxim gegenüber versehentlich damit herausplatzte.

«Beatrice», sagte ich kurz entschlossen. «Hast du schon mal etwas von einem Mr. Favell gehört? Jack Favell?»

«Jack Favell?» wiederholte sie. «Doch, der Name kommt mir bekannt vor. Warte mal, Jack Favell - aber natürlich, ein widerlicher Kerl, ich habe ihn einmal getroffen, schon ewig her.»

«Er kam nämlich gestern, um Mrs. Danvers zu besuchen.»

«Ach, wirklich? Na ja, es ist vielleicht ganz natürlich.»

«Wieso natürlich?» fragte ich.

«Ich habe so die vage Idee, daß er ein Vetter von Rebecca ist», sagte sie.

Das überraschte mich sehr. Dieser Mann ihr Verwandter? Unter einem Vetter Rebeccas hatte ich mir etwas ganz anderes vorgestellt. Jack Favell war also ihr Vetter. «Ach so», sagte ich, «das ahnte ich allerdings nicht.»

«Er ist wahrscheinlich häufig auf Manderley zu Besuch gewesen», sagte Beatrice. «Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich nehme es wenigstens an. Ich selbst war früher ziemlich selten dort.» Sie sprach merkwürdig abweisend, als wolle sie das Thema nicht weiter ausspinnen.

«Ich konnte nicht viel mit ihm anfangen», sagte ich.

«Nein», meinte Beatrice, «das kann ich dir nicht verdenken.»

Ich wartete, ob sie wohl noch etwas sagen würde, aber sie verstummte. Ich hielt es für klüger, ihr nichts davon zu erzählen, daß Favell mich gebeten hatte, seinen Besuch zu verschweigen. Das hätte sonst womöglich noch irgendwelche Ungelegenheiten heraufbeschworen. Außerdem waren wir gerade an unserem Ziel angelangt: ein weißes Parktor und dahinter ein geharkter Kiesweg, der zum Haus führte.

«Vergiß nicht, daß die alte Dame fast blind ist», sagte Beatrice. «Und geistig ist sie jetzt natürlich auch nicht mehr so auf der Höhe. Ich habe der Pflegerin unseren Besuch angekündigt, wir kommen also nicht unvorbereitet.»

Das Haus war ein großer, spitzgiebeliger roter Backsteinbau, spätviktorianisch, schätze ich. Schön war es jedenfalls nicht. Aber ich sah auf den ersten Blick, daß es eins von den Häusern war, das von einer Unzahl von Dienstboten in peinlichster Ordnung gehalten wird. Und das alles für eine einzelne alte Dame, die fast blind war.

Ein adrettes Hausmädchen öffnete uns die Tür.

«Guten Tag, Norah, wie geht es Ihnen?» sagte Beatrice.

«Danke, gut, Madam, ich hoffe, es geht Ihnen auch gut.»

«O ja, wir blühen und gedeihen alle. Wie steht's denn mit der alten Dame, Norah?»

«Unterschiedlich, Madam. Mal hat sie einen guten Tag und mal einen schlechten. An sich können wir nicht klagen. Sie wird sich sicher über Ihren Besuch freuen.» Sie sah mich neugierig an.

«Das ist Mrs. Maxim», sagte Beatrice.

«Ja, Madam - wie geht es Ihnen?» sagte sie zu mir.

Wir schritten durch eine kleine Diele und ein mit Möbeln überfülltes Wohnzimmer und kamen auf die Veranda, die auf einen viereckigen, kurzgeschnittenen Rasen hinaussah. Auf der Treppe, die in den Garten hinabführte, standen große Steintöpfe mit Geranien. In einer Ecke erblickte ich den Korbsessel auf Rädern, in dem Beatrices Großmutter in einem Berg von Kissen und Decken saß. Als wir auf sie zutraten, fiel mir die große, fast unheimliche Ähnlichkeit mit Maxim auf. Genauso, dachte ich, würde ein sehr alter und blinder Maxim aussehen. Die Pflegerin erhob sich von dem Stuhl neben ihr und legte ein Lesezeichen in das Buch, aus dem sie gerade vorgelesen hatte. Sie lächelte Beatrice zu.

«Guten Tag, Mrs. Lacy», sagte sie.

Beatrice schüttelte ihr die Hand und stellte mich vor. «Die alte Dame sieht ja ganz wohl aus», sagte sie. «Es ist mir ein Rätsel, wie sie das mit ihren sechsundachtzig Jahren fertigbringt. Hallo, da sind wir, Granny», wandte sie sich dann mit erhobener Stimme zu ihrer Großmutter, «gesund und fröhlich wie immer.»

Die alte Dame blickte in unsere Richtung. «Du bist ein gutes Kind, Bee, und es ist lieb von dir, mich zu besuchen. Wir sind ja hier so langweilig und können dir nichts Amüsantes bieten.»

Beatrice beugte sich über sie und küßte sie auf die Wange. «Ich habe dir Maxims Frau mitgebracht», sagte sie. «Sie hat dich schon immer gern kennenlernen wollen, aber sie und Maxim haben so viel vorgehabt.»

Beatrice stupste mich in den Rücken. «Gib ihr einen Kuß», flüsterte sie mir zu, und ich beugte mich also auch nieder und berührte die faltige Wange mit meinen Lippen.

Die Großmutter betastete mein Gesicht mit ihren Fingern. «Du liebes Kind, wie nett von dir, zu kommen», sagte sie. «Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Aber wo hast du Maxim gelassen?»

«Maxim ist in London», sagte ich, «er kommt erst heute abend zurück.»

«Das nächste Mal mußt du ihn aber mitbringen», sagte sie. «Setz dich, mein Kind, hier in den Stuhl, wo ich dich sehen kann, und du, Bee, setz dich hier auf die andere Seite. Wie geht's dem lieben Roger? Er ist ein ungezogener Junge, mich überhaupt nicht zu besuchen!»

«Im August wird er bestimmt einmal herüberkommen», rief Beatrice. «Er ist jetzt fertig mit Eton und soll in Oxford studieren.»

«Du meine Güte, dann ist er ja schon ein richtiger junger Mann; ich werde ihn bestimmt gar nicht wiedererkennen.»

«Er ist schon größer als Giles», berichtete Beatrice, und sie fuhr fort, ihrer Großmutter von Giles und Roger und ihren Pferden und Hunden zu erzählen. Die Pflegerin brachte ihr Strickzeug heraus und fing an, eifrig mit den Nadeln zu klappern. Dann wandte sie sich mit ihrem professionellen strahlenden Lächeln zu mir.

«Wie gefällt es Ihnen auf Manderley, Mrs. de Winter?»

«Sehr gut, danke», antwortete ich.

«Ja, es ist ein herrliches Fleckchen Erde, nicht wahr?» sagte sie, ohne eine Sekunde ihre Nadeln stillzuhalten. «Es ist natürlich gar nicht daran zu denken, daß wir wieder einmal hinüberfahren. Das würde ihr zuviel werden. Es ist wirklich schade. Ich habe unsere Ausflüge nach Mander-ley immer so genossen.»

«Sie müssen einmal allein zu uns kommen», sagte ich.

«Oh, danke schön, das würde ich zu gern einmal tun. Mr. de Winter geht es gut, nehme ich an?»

«Doch, danke, sehr gut.»

«Sie haben Ihre Hochzeitsreise in Italien gemacht, nicht wahr? Wir haben uns so über die hübsche Postkarte gefreut, die Mr. de Winter uns geschickt hat.»

Ich konnte nicht genau feststellen, ob sie das «wir» als Pluralis majestatis benutzte oder ob sie die alte Dame mit sich selbst als eine Person betrachtete.

«Ach, hat er eine Karte geschickt? Ich erinnere mich gar nicht.»

«Doch ja, es war ein richtiges Ereignis. Wir freuen uns sehr über so etwas. Wir haben nämlich ein Album, da kleben wir alle Familienandenken hinein. Natürlich nichts Unerfreuliches.»

«Wie reizend», sagte ich.

Ich erhaschte einzelne Brocken von Beatrices Unterhaltung auf der anderen Seite. «Wir mußten den alten Marksman erschießen», hörte ich sie sagen. «Erinnerst du dich noch an den alten Marksman? Das beste Jagdpferd, das ich je gehabt habe.»

«Ach nein, doch nicht unseren alten Marksman?» fragte die Großmutter.

«Ja, ja, der arme alte Kerl; er erblindete auf beiden Augen.»

«Der arme Kerl!» wiederholte die alte Dame.

Ich fand es nicht gerade sehr taktvoll, von Blindheit zu sprechen, und warf einen Blick auf die Pflegerin. Sie war immer noch mit ihren klappernden Nadeln beschäftigt.

«Reiten Sie auch Fuchsjagden, Mrs. de Winter?» erkundigte sie sich.

«Nein, leider. Ich habe es noch nie getan», sagte ich.

«Vielleicht kommen Sie noch auf den Geschmack. Unsere Nachbarn hier sind alle leidenschaftliche Jagdreiter.»

«Ja.»

«Mrs. de Winter ist eine große Malfreundin», teilte Beatrice der Pflegerin mit. «Ich habe ihr schon gesagt, daß sie auf Manderley haufenweise nette Motive zum Zeichnen finden müßte.»

«Ja, zweifellos», pflichtete die Pflegerin ihr bei und hielt einen Augenblick mit dem wilden Nadeltanz inne. «Was für ein hübscher Zeitvertreib. Ich hatte eine Freundin, die hat geradezu Wunder mit ihrem Bleistift vollbracht. Wir waren einmal über Ostern zusammen in der Provence, und sie hat so bezaubernde Sachen gemacht.»

«Wie nett», sagte ich.

«Wir sprechen gerade über Zeichnen», rief Beatrice ihrer Großmutter ins Ohr. «Du hast bestimmt noch gar nicht gewußt, daß wir ein Malgenie in der Familie haben.»

«Wer ist ein Malgenie?» fragte die alte Dame. «Ich kenne keines.»

«Deine neue Enkelin», sagte Beatrice. «Frag sie doch einmal, was ich ihr zur Hochzeit geschenkt habe.»

Ich lächelte und wartete auf die Frage. Die alte Dame wandte ihren Kopf in meine Richtung. «Was erzählt Bee mir da?» sagte sie. «Daß du malst, habe ich nicht gewußt. Wir haben noch nie einen Künstler in der Familie gehabt.»

«Beatrice macht nur Spaß», sagte ich. «Ich bin gar keine richtige Künstlerin. Ich zeichne nur ein wenig zu meinem Vergnügen. Ich habe niemals Unterricht gehabt. Aber Beatrice hat mir ein paar wunderschöne Bücher geschenkt.»

«So», sagte sie etwas verdutzt. «Bücher hat dir Beatrice geschenkt? Das nenne ich aber Eulen nach Athen tragen. In der Bibliothek von Manderley gibt es doch wahrhaftig Bücher genug.» Sie lachte herzlich über ihren Scherz, und wir stimmten alle ein. Ich hoffte, daß das Thema damit erledigt wäre, aber Beatrice mußte noch weiter darauf herumreiten. «Du verstehst nicht, Granny», sagte sie. «Es waren ja keine gewöhnlichen Bücher, sondern vier dicke Wälzer über Kunst.»

Die Pflegerin beugte sich vor, um auch ihre Fassung von der Geschichte loszuwerden. «Mrs. Lacy hat nur erzählt, daß Mrs. de Winter sehr gern zu ihrem Vergnügen zeichnet. Deshalb hat sie ihr vier wunderschöne Bände, alle nur über Malerei, zur Hochzeit geschenkt.»

«Was für ein komischer Einfall», meinte die alte Dame. «Ich halte nicht viel von Büchern als Hochzeitsgeschenk. Mir hat kein Mensch Bücher geschenkt, als ich heiratete. Ich hätte sie auch bestimmt nicht gelesen.»

Sie lachte wieder. Beatrice sah etwas gekränkt aus. Ich lächelte ihr zu, um sie aufzumuntern, aber ich glaube nicht, daß sie es bemerkte. Die Pflegerin hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen.

«Ich will meinen Tee haben», sagte die alte Dame plötzlich quengelig. «Ist es noch nicht halb fünf? Warum bringt denn die Norah nicht den Tee?»

«Was? Schon wieder hungrig, nachdem wir so gut zu Mittag gegessen haben?» sagte die Pflegerin, indem sie sich erhob und ihre Pflegebefohlene mit ihrem strahlenden Lächeln bedachte. Sie klopfte die Kissen zurecht und stopfte die Decken fest.

Maxims Großmutter ließ alles geduldig über sich ergehen. Sie schloß nur ihre Augen, als ob sie müde sei. So sah sie Maxim ähnlicher denn je. Ich konnte mir vorstellen, wie hübsch sie in ihrer Jugend ausgesehen haben mußte, groß und schlank. Ich sah sie durch die Ställe von Manderley gehen und den Pferden Zucker geben, und wie sie den langen Rock hochhob, um ihn nicht durch den Schmutz schleifen zu lassen. Sie mußte jetzt hier allein mit der Pflegerin in diesem rotleuchtenden Giebelhaus leben, bis es auch für sie an der Zeit war, zu sterben. Was mochte sie jetzt fühlen, welche Gedanken mochten sie bewegen? Wußte sie, daß Beatrice mit einem Gähnen auf ihre Uhr sah? Erriet sie wohl, daß wir nur gekommen waren, weil wir es für richtig, für unsere Pflicht hielten, und damit Beatrice auf dem Heimweg mit einem Seufzer der Erleichterung sagen konnte: «So, jetzt habe ich mein Gewissen für drei Monate beruhigt»?

Dachte sie wohl noch manchmal an Manderley zurück? Erinnerte sie sich an die Mahlzeiten an dem Eßtisch, an dem ich jetzt ihren Platz einnahm? Ließ sie sich wohl damals ihren Tee auch manchmal zur Kastanie hinausbringen? Ich wünschte, ich hätte ihr meine Hände aufs Gesicht legen und die Last der Jahre von ihr nehmen können; ich hätte sie wieder jung sehen mögen, so wie sie einstmals war, mit rosigen Wangen und kastanienbraunem Haar, lebhaft und energisch wie die Enkelin an ihrer Seite, und sie wie Beatrice sich über Fuchsjagden, Hunde und Pferde unterhalten hören, anstatt mit geschlossenen Augen so teilnahmslos dazusitzen, während die Pflegerin ihr die Kissen im Rücken aufschüttelte.

«Heute gibt's eine besondere Überraschung für uns», sagte die Pflegerin. «Sandwiches mit Brunnenkresse. Das mögen wir doch gern, nicht wahr?»

«Ist denn heute wieder Kressentag?» sagte Maxims Großmutter, hob den Kopf etwas vom Kissen und blickte zur Tür. «Das haben Sie mir gar nicht gesagt. Wo bleibt denn nur Norah mit dem Tee?»

«Ich würde nicht für tausend Pfund am Tag in Ihrer Haut stecken wollen, Schwester», sagte Beatrice leise.

«Oh, ich bin es gewohnt, Mrs. Lacy», erwiderte die Pflegerin lächelnd. «Ich habe hier eine sehr angenehme Stellung. Natürlich haben wir manchmal auch unsere schlechten Tage, aber es könnte noch viel schlimmer sein. Sie ist wirklich nicht schwierig, gar nicht wie viele andere Patienten, die ich gehabt habe. Und die Dienstboten sind auch sehr freundlich und hilfsbereit, und das ist eigentlich die Hauptsache. Na, da kommt ja Norah.»

Wir rückten unsere Stühle an den kleinen Tisch; die Pflegerin machte die Sandwiches für die alte Dame zurecht.

«Hier haben wir jetzt unseren Teller, ist das nicht eine Freude?»

Ein kleines Lächeln flog über das müde Gesicht. «Ich hab Kressentag sehr gern», sagte sie.

Der Tee war kochend heiß, man verbrühte sich den Mund daran. Die Pflegerin schlürfte ihn in kleinen Schlucken.

«Hatten Sie gutes Wetter in Italien?» fragte sie mich.

«Ja, es war sehr warm», antwortete ich.

Beatrice wandte sich an ihre Großmutter. «Sie haben himmlisches Wetter während ihrer Flitterwochen in Italien gehabt», sagte sie. «Maxim war ganz braun gebrannt.»

«Warum ist Maxim heute nicht da?» fragte die alte Dame.

«Aber das habe ich dir doch schon gesagt, Liebste, Maxim mußte nach London fahren», erklärte Beatrice etwas ungeduldig. «Irgendein offizielles Essen, weißt du. Giles mußte auch hin.»

«Ach so. Warum sagtest du denn, daß Maxim in Italien ist?»

«Er war in Italien, Granny, im April. Jetzt sind sie beide wieder in Manderley.» Sie blickte zur Pflegerin hinüber und zuckte die Achseln.

«Mr. und Mrs. de Winter sind jetzt wieder in Mander-ley», wiederholte die Pflegerin.

«Es ist jetzt herrlich dort», sagte ich und beugte mich zu der alten Dame vor. «Die Rosen stehen in voller Blüte; zu dumm, daß ich dir keine mitgebracht habe.»

«Ja, ich mag Rosen», sagte sie abwesend, und dann blinzelte sie mich mit ihren trüben blauen Augen forschend an: «Wohnen Sie denn auch auf Manderley?»

Ich schluckte. Es entstand eine kleine Pause. Dann unterbrach Beatrice mit ihrer lauten, ungeduldigen Stimme das Schweigen: «Aber, Granny, Liebste, du weißt doch genau, daß sie dort lebt. Sie und Maxim sind doch verheiratet.»

Ich bemerkte, daß die Pflegerin ihre Tasse abstellte und einen aufmerksamen Blick auf die alte Dame warf. Sie war in ihre Kissen zurückgesunken, ihre Finger zupften an ihrem Tuch, und um ihren Mund begann es zu zucken. «Ihr redet alle so viel, ich verstehe gar nichts mehr.» Dann sah sie wieder zu mir hin und schüttelte verwundert den Kopf. «Wer sind Sie denn, meine Liebe? Ich habe Sie ja noch nie gesehen. Ihr Gesicht kommt mir gar nicht bekannt vor; ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals auf Manderley gesehen zu haben. Bee, wer ist denn dieses Mädchen? Warum hat Maxim nicht Rebecca mitgebracht? Ich hab Rebecca so gern. Wo ist sie?»

Ein langes peinliches Schweigen. Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Die Pflegerin erhob sich rasch und trat an den Korbstuhl.

«Ich will Rebecca», wiederholte die alte Dame. «Was habt ihr mit Rebecca getan?» Beatrice stand so ungeschickt auf, daß Tassen und Teller klirrten. Sie war ebenfalls sehr rot geworden und preßte die Lippen fest aufeinander.

«Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt, Mrs. Lacy», sagte die Pflegerin, die etwas von ihrer Selbstbeherrschung verloren zu haben schien. «Wir sind jetzt ein wenig müde; und wenn wir einmal den Faden verloren haben, dann dauert es oft Stunden, bis wir ihn wieder gefunden haben. Und wir regen uns dabei immer so sehr auf. Es tut mir sehr leid, daß das gerade heute geschehen mußte, aber Sie werden das schon verstehen, Mrs. de Winter.» Sie wandte sich entschuldigend an mich.

«Aber natürlich», sagte ich, «ich halte es auch für besser, wenn wir jetzt gehen.»

Beatrice und ich ergriffen unsere Taschen und Handschuhe und gingen durch das Wohnzimmer und die Diele zur Tür hinaus, ohne das Hausmädchen zu rufen. Beatrice startete wortlos den Wagen, und wir fuhren über den glatten Kiesweg durch das weiße Tor auf die Landstraße hinaus.

Ich starrte vor mich hin. Es war mir nicht um mich selbst zu tun. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte mir dieser Zwischenfall gar nichts ausgemacht. Ich dachte nur an Beatrice; ihr mußte es sehr peinlich und unangenehm sein.

Als wir das Dorf hinter uns hatten, drehte sie sich zu mir um. «Es tut mir schrecklich leid, Liebste», begann sie. «Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.»

«Mach doch keine Geschichten, Beatrice», unterbrach ich sie hastig. «Es macht mir wirklich nichts aus. Ich fand gar nichts dabei.»

«Ich habe ja nicht ahnen können, daß sie so etwas tun würde», fuhr Beatrice fort, «sonst wäre es mir natürlich auch nicht im Traum eingefallen, dich mitzunehmen. Es tut mir furchtbar leid.»

«Es braucht dir aber gar nicht leid zu tun. Bitte, sprich doch nicht mehr darüber.»

«Ich hatte ganz vergessen, wie sehr sie an Rebecca hing», sagte Beatrice dann langsam. «Sie hat immer ein großes Theater mit Granny gemacht und sie öfters nach Manderley geholt. Die arme liebe Granny war damals natürlich noch viel munterer als jetzt. Sie konnte sich über alles, was Rebecca sagte, vor Lachen schütteln. Sie war ja auch wirklich sehr amüsant, und die alte Dame genoß das sehr. Sie hatte ein erstaunliches Talent - Rebecca, meine ich -, mit Menschen umzugehen. Granny hat sie eben noch nicht vergessen. Meine Liebe, du wirst mir für diesen kleinen Ausflug gewiß nicht danken.»

«Es macht mir nichts aus, wirklich nicht», wiederholte ich mechanisch. Wenn Beatrice doch nur das Thema fallenlassen wollte - es interessierte mich gar nicht. Schließlich, war es denn so wichtig? War denn überhaupt irgend etwas wichtig?

«Giles wird außer sich sein», sagte Beatrice. «Er wird mir Vorwürfe machen, daß ich dich mitgenommen habe. Ich höre ihn förmlich. Das wird noch einen netten Krawall geben.»

«Erzähl ihm doch nichts davon», entgegnete ich. «Mir wäre es viel lieber, es bliebe unter uns. Sonst spricht's sich nur herum, und dann wird die ganze Geschichte aufgebauscht.»

«Giles wird es mir vom Gesicht ablesen, daß irgend etwas los ist. Ich habe noch nie etwas vor ihm verbergen können.»

Ich schwieg. Das einzige, woran ich jetzt dachte, war, daß Maxim hiervon nie etwas zu hören bekommen durfte. Vielleicht würde ich es eines Tages Frank Crawley erzählen, aber jetzt noch nicht - irgendwann später einmal.

Bald darauf hatten wir die Abzweigung erreicht, die über den kleinen Hügel nach Kerrith führte. Die grauen Dächer des Städtchens waren schon zu sehen, und dort hinten, rechts in der Talsenke, lag der dunkle Wald von Mander-ley, und in der Ferne leuchtete glitzernd die See.

«Hast du es furchtbar eilig, nach Hause zu kommen», fragte Beatrice.

«Nein, warum?»

«Würdest du es mir sehr übelnehmen, wenn ich dich schon am Parktor absetzte? Wenn ich nämlich jetzt wie der Teufel rase, dann erwische ich Giles noch, wenn er mit dem Londoner Zug ankommt, und er kann sich das Bahnhofsauto sparen.»

«Doch, natürlich», sagte ich. «Ich gehe das Stück sehr gern zu Fuß.»

«Das ist nett von dir», sagte sie dankbar.

Ich hatte den Eindruck, daß der Nachmittag ihr auf die Nerven gegangen war und daß sie allein sein wollte. Vermutlich scheute sie auch eine Fortsetzung der Teestunde auf Manderley. Ich stieg am Tor aus dem Wagen, und wir küßten uns zum Abschied.

«Sieh zu, daß du ein bißchen dicker wirst bis zum nächsten Mal», sagte sie. «Es steht dir nicht, so dünn zu sein. Grüß Maxim von mir und trag mir das mit Granny nicht nach.» Sie verschwand in einer Staubwolke, und ich wandte mich zum Tor.

Während ich den Weg entlangging, überlegte ich mir, ob er sich wohl sehr verändert hatte, seit Maxims Großmutter hier als junge Frau am Pförtnerhaus vorbeikutschiert war und die Pförtnerin gegrüßt hatte, so wie ich es jetzt tat.

Ich dachte nicht an die alte Frau, die jetzt in Decken gehüllt in ihren Kissen lag. Ich sah sie vor mir in ihrer Jugend, als Manderley ihr Heim gewesen war; ich sah sie durch den Garten wandern, und um sie herum hüpfte in fröhlichen Sprüngen auf seinem Steckenpferd ein kleiner Junge, Maxims Vater. Er trug einen Samtkittel und einen steifen weißen runden Kragen. Und dann sah ich noch die alte Dame, wie sie vor ein paar Jahren am Stock über die Terrasse von Manderley schritt, und Arm in Arm mit ihr eine lachende junge Frau, groß, schlank und auffallend schön, die, wie Beatrice gesagt hatte, das Talent besaß, sich bei allen Menschen beliebt zu machen, die jeder gern hatte, dachte ich, die jeder lieben mußte.

Als ich schließlich den langen Weg hinter mich gebracht hatte, sah ich Maxims Wagen vor der Treppe stehen. Mir wurde leicht ums Herz, und ich lief schnell ins Haus. Sein Hut und seine Handschuhe lagen in der Halle auf dem Tisch. Ich ging auf die Bibliothek zu, und beim Näherkommen hörte ich Stimmen; die eine übertönte jetzt die andere. Ich zögerte einen Augenblick vor der geschlossenen Tür.

«Sie können ihm von mir bestellen, daß ich ihm verbiete, Manderley noch einmal zu betreten, verstehen Sie? Von wem ich es erfahren habe, dürfte dabei ganz unwichtig sein. Es genügt, daß ich weiß, daß sein Wagen gestern nachmittag hier gesehen worden ist. Wenn Sie ihn unbedingt wiedersehen wollen, dann tun Sie das gefälligst anderswo. Ich wünsche ihn nicht mehr auf meinem Grund und Boden anzutreffen, verstanden? Vergessen Sie das nicht, ich sage es Ihnen zum letztenmal!»

Ich schlich mich auf Zehenspitzen zur Treppe, und als ich die Tür hinter mir aufgehen hörte, huschte ich hastig hinauf und versteckte mich in der Galerie. Mrs. Danvers kam aus der Bibliothek heraus und schloß die Tür leise zu. Ich duckte mich hinter das Geländer, um nicht gesehen zu werden, aber vorher hatte ich noch einen kurzen Blick von ihrem Gesicht erhascht: es war verzerrt und grau vor Wut - mir schauderte.

Sie ging mit lautlosen Schritten durch die Halle und verschwand durch die Tür, die in die hinteren Räume führte.

Ich wartete einen Augenblick, bevor ich langsam wieder hinunterstieg. Ich öffnete die Tür zur Bibliothek und ging hinein. Maxim stand am Fenster, den Rücken zum Zimmer gekehrt, und betrachtete einen Brief in seiner Hand. Mein erster Impuls war, mich unbemerkt wieder hinauszusteh-len und mich in mein Schlafzimmer zurückzuziehen. Er mußte mich aber gehört haben, denn er drehte sich mit einer ungeduldigen Bewegung um.

«Was ist denn jetzt schon wieder?» sagte er.

Ich lächelte und streckte ihm meine Hände entgegen. «Hallo!» begrüßte ich ihn.

«Ach, du bist es ...»

Ich sah auf den ersten Blick, daß ihn irgend etwas schrecklich erzürnt haben mußte. Seine Lippen bildeten einen harten Strich, und seine Nasenflügel waren weiß und bebten. «Wie hast du dir die Zeit vertrieben?» fragte er mich. Er küßte mich auf den Scheitel und legte seinen Arm um meine Schulter. Ich hatte das Gefühl, daß es sehr lange her war, seit wir uns gestern getrennt hatten.

«Ich habe deine Großmutter besucht», sagte ich. «Beatrice hat mich in ihrem Wagen abgeholt.»

«Wie geht's denn der alten Dame?» «O danke, gut.»

«Wo ist denn Bee geblieben?»

«Sie wollte Giles noch von der Bahn abholen.»

Wir setzten uns nebeneinander auf die Fensterbank. Ich nahm seine Hand in meine. «Ich fühlte mich so allein», sagte ich. «Ich habe dich schrecklich vermißt!»

«Hast du das?» fragte er.

Wir sagten eine Weile nichts, ich hielt nur seine Hand.

«War es sehr heiß in London?» fragte ich dann.

«Ja, schrecklich. Ich kann diesen Lärm und Gestank dort nicht ausstehen.»

Ich war neugierig, ob er mir erzählen würde, was soeben zwischen ihm und Mrs. Danvers vorgefallen war, und ich hätte gern gewußt, wer ihm Favells Anwesenheit verraten hatte.

«Bedrückt dich irgend etwas?» fragte ich.

«Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir», sagte er. «Diese lange Wagenfahrt zweimal in vierundzwanzig Stunden ist etwas viel.»

Er erhob sich, ging ins Zimmer und steckte sich eine Zigarette an. Da wußte ich, daß er mir nichts von seiner Unterhaltung mit Mrs. Danvers erzählen wollte.

«Ich bin auch müde», sagte ich leise. «Es war heute ein merkwürdiger Tag.»

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