Maxim ging hinein und schloß die Tür hinter sich.
Kurz darauf kam Robert, um den Teetisch abzuräumen. Ich stellte mich ans Fenster, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich überlegte mir, wie lange es wohl dauern würde, bis die Neuigkeit durchgesickert war, in der Küche, bei den Pächtern und in Kerrith.
Ich hörte das gedämpfte Gemurmel von Maxims Stimme aus dem Nebenraum. Die nervöse Spannung verursachte mir ein leichtes Übelkeitsgefühl. Das Schrillen des Telephons schien jede Nervenfaser zum Vibrieren gebracht zu haben. Ich hatte wie im Traum neben Maxim gesessen, seine Hand in meiner, mein Gesicht an seiner Schulter, und seiner Geschichte gelauscht; und ein Teil von mir hatte ihn in jener verhängnisvollen Nacht wie ein Schatten begleitet. Auch ich hatte auf Rebecca geschossen, auch ich hatte mit ihm in Wind und Wetter hinausgehorcht und Mrs. Danvers' Klopfen an der Tür gehört. All das hatte ich mit ihm durchgemacht, all das und noch viel mehr. Aber der andere Teil von mir saß hier auf dem Teppich, unbewegt und gelassen, und dachte immer nur das eine, wiederholte es immer wieder: er hat Rebecca nicht geliebt, er hat Rebecca nicht geliebt! Und jetzt, als das Telephon läutete, vereinten sich die beiden Teile meines Ichs, und ich war wieder das Ich, das ich immer gewesen war. Aber ein neues Gefühl war hinzugekommen, das ich vorher nicht gekannt hatte: trotz aller Zweifel und Ängste war mein Herz jetzt leicht und frei. Ich fürchtete Rebecca nicht länger; ich haßte sie nicht mehr. Jetzt, da ich wußte, daß sie böse und verdorben gewesen war, brauchte ich sie nicht länger zu hassen. Sie konnte mir nichts mehr anhaben. Jetzt konnte ich ins Morgenzimmer gehen und mich an ihren Schreibtisch setzen und ihre Sachen anfassen und ihre Schrift auf den Schildchen über den Fächern ansehen, ohne daß es mir etwas ausmachte. Rebeccas Macht hatte sich wie in Nebel aufgelöst. Sie würde mich nie mehr verfolgen, nie mehr hinter mir die Treppe hinaufgehen, neben mir am Tisch sitzen, nie mehr sich von der Galerie herabbeugen, um mich zu beobachten. Maxim hatte sie niemals geliebt. Ich haßte sie nicht mehr. Ihre Leiche war gefunden worden und ihr Boot mit dem prophetischen Namen
Ich durfte jetzt mit Maxim Zusammensein, ihn berühren, ihn in meinen Armen halten und ihn lieben. Ich würde nie mehr ein Kind sein. Nicht ich, ich, ich würde es in Zukunft heißen, sondern wir und uns. Wir würden zusammen sein, wir würden alles, was uns bevorstand, gemeinsam meistern, er und ich. Captain Searle und der Taucher und Mrs. Danvers und all die neugierigen Zeitungsleser aus Kerrith konnten uns jetzt nicht mehr einschüchtern. Unser Glück war nicht zu spät gekommen. Ich würde um Maxim kämpfen. Ich würde Lügen und Meineide schwören. Ich würde fluchen und beten. Rebecca hatte nicht gewonnen, Rebecca hatte verloren.
Robert hatte inzwischen den Tisch abgeräumt, und Maxim kam wieder herein.
«Das war Oberst Julyan», sagte er. «Er hat gerade mit Searle gesprochen. Er wird uns morgen begleiten. Searle hat ihm Bericht erstattet.»
«Warum Oberst Julyan, warum der?» fragte ich.
«Er ist der Polizeirichter von Kerrith. Er muß dabei sein.»
«Was sagt er denn?»
«Er fragte mich, ob ich eine Vermutung hätte, wessen Leiche das sein könne.»
«Und was sagtest du?»
«Ich sagte, daß ich es nicht wisse und daß ich immer angenommen hätte, Rebecca sei allein gewesen. Und dann sagte ich, ich wüßte von keinem Menschen, der an dem Abend mit ihr hätte segeln können.»
«Und erwiderte er etwas darauf?»
«Ja.»
«Was denn?»
«Er fragte mich, ob ich es für möglich hielte, daß mir bei der Identifizierung in Edgecoombe ein Irrtum unterlaufen sei.»
«Das sagte er? Das hat er dich jetzt schon gefragt?»
«Ja.»
«Und du?»
«Ich sagte, es sei nicht ausgeschlossen, ich wüßte nicht genau.»
«Er wird also morgen dabei sein, wenn ihr das Boot zu heben versucht? Er und Captain Searle und der Gerichtsarzt?»
«Und Inspektor Welch.»
«Inspektor Welch?»
«Ja.»
«Aber warum Inspektor Welch?»
«Das ist eine polizeiliche Maßnahme, die in solchen Fällen üblich ist.»
Ich sagte nichts dazu. Wir starrten einander an. In meinem Innern krampfte sich etwas zusammen.
«Vielleicht gelingt es ihnen nicht, das Boot zu heben», sagte ich dann.
«Vielleicht.»
«Dann würden sie doch auch die Leiche nicht untersuchen können, nicht wahr?»
«Ich weiß nicht», sagte Maxim.
Er blickte aus dem Fenster. Der Himmel war noch immer von einer weißen Wolkenschicht verhangen. Kein Lüftchen regte sich.
«Ich dachte, ein Südwest würde aufkommen, aber es ist völlig windstill», bemerkte er.
«Ja», sagte ich.
«Der Taucher wird morgen ein spiegelglattes Meer für seine Arbeit vorfinden.»
Das Telephon klingelte wieder. Der grelle Ton hatte etwas Furchteinflößendes. Maxim und ich sahen einander an. Dann ging er in den Nebenraum und schloß wieder die Tür hinter sich. Der krampfartige Schmerz wollte mich nicht verlassen, er verstärkte sich sogar, als das Klingeln eingesetzt hatte.
Maxim kam wieder zurück. «Es fängt schon an», sagte er leise.
Mich fröstelte beim Klang seiner Stimme. «Was meinst du?»
«Es war ein Reporter», sagte er, «vom County Chroni-cle. Er fragte, ob es stimme, daß Mrs. de Winters Boot gefunden worden sei.»
«Und was hast du geantwortet?»
«Ich sagte, ja, ein Boot sei gefunden worden, aber Nähe-res wisse man darüber noch nicht. Es sei nicht sicher, ob es sich um Rebeccas Boot handle.»
«Sonst hat er nichts gefragt?»
«Doch. Er wollte wissen, ob in dem Boot tatsächlich eine Leiche gefunden worden sei.»
«Nein!»
«Doch. Jemand muß nicht dichtgehalten haben. Searle ist zuverlässig, das weiß ich. Es wird wohl der Taucher gewesen sein oder einer von seinen Freunden. Solche Leute können ihren Mund nicht halten. Bis morgen früh wird ganz Kerrith Bescheid wissen.»
«Was sagtest du, als er wegen der Leiche fragte?»
«Ich sagte, ich wüßte nichts. Ich könnte ihm keine Auskunft geben, und er solle mich gefälligst mit seinen Anrufen verschonen.»
«Du wirst die Leute dadurch nur verärgern und sie gegen dich aufbringen.»
«Das kann ich nicht ändern. Ich lasse mich nicht interviewen. Ich will mich nicht von diesen Burschen mit neugierigen Fragen belästigen lassen.»
«Wir werden sie aber vielleicht brauchen können.»
«Wenn es hart auf hart kommt, werde ich meine Sache schon allein ausfechten», sagte er. «Ich verzichte auf solchen Beistand.»
«Der Reporter wird jetzt bestimmt jemand anders anrufen - Oberst Julyan oder Captain Searle.»
«Bei denen wird er auch nicht mehr Erfolg haben.»
«Wenn wir nur etwas tun könnten», sagte ich. «Wir haben noch so viele Stunden vor uns, und wir sitzen hier und vertrödeln die Zeit und warten auf morgen früh.»
«Wir können nichts tun», sagte Maxim.
Wir blieben in der Bibliothek sitzen. Maxim nahm ein Buch vom Tisch, aber ich wußte, daß er nicht darin las. Hin und wieder sah ich ihn seinen Kopf lauschend heben, als horche er auf das Läuten des Telephons. Aber kein weiterer Anruf erfolgte. Niemand störte uns. Zum Abendessen zogen wir uns wie gewöhnlich um. Es kam mir so unwahrscheinlich vor, daß ich gestern um diese Zeit mein weißes Kostüm angezogen und dort vor dem Spiegel die Lockenperücke aufgesetzt hatte. Frith, der seinen freien Nachmittag gehabt hatte, servierte. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer. Ich hätte gern gewußt, ob er wohl in Kerrith gewesen war und dort irgend etwas gehört hatte.
Nach dem Essen gingen wir wieder in die Bibliothek. Wir sprachen nicht viel. Ich saß zu Maxims Füßen und lehnte meinen Kopf an seine Knie. Seine Finger spielten in meinem Haar, aber nicht mehr so mechanisch wie früher. Es war nicht mehr das Streicheln, mit dem er Jasper bedachte. Ich fühlte seine Fingerspitzen auf meiner Kopfhaut. Hin und wieder beugte er sich zu mir herab und küßte mich. Oder er sagte etwas zu mir. Zwischen uns stand kein Schatten mehr, und wenn wir schwiegen, dann war es ein Schweigen der Zugehörigkeit. Ich wunderte mich, daß ich mich so glücklich fühlen konnte, obwohl unsere Zukunft im Finstern lag. Es war ein eigenartiges Glücksgefühl, nicht das, von dem ich geträumt und das ich erwartet hatte. Es war nicht das Glück, das ich mir in einsamen Stunden ausmalte, wenn ich nachts nicht schlafen konnte. Es war ein ruhiges, stilles Glück. Die Fenster in der Bibliothek standen weit offen, und ein düsterer Abendhimmel schaute zu uns herein.
Es mußte nachts geregnet haben, denn als ich am nächsten Morgen aufwachte, kurz nach sieben, und aus dem Fenster blickte, sah ich, daß die Rosen die Köpfe hängen ließen und der Rasen silbrig naß glänzte. Maxim hatte mich nicht geweckt, als er um fünf aufstand. Er mußte sich ganz geräuschlos in sein Ankleidezimmer geschlichen haben. Jetzt war er dort unten in der Bucht mit Captain Searle und Oberst Julyan und den Arbeitern vom Leichter. Der Kran würde Rebeccas Boot vom Meeresboden heben. Ich konnte ganz kühl und ruhig daran denken. Ich stellte sie mir alle da unten in der Bucht vor, und wie der kleine, dunkle Schiffskörper an die Oberfläche kam, verquollen und mit Tang und Muscheln bedeckt. Und wenn der Kran ihn dann in die Luft hob, würde das Wasser zu beiden Seiten herab ins Meer strömen. Die Planken würden ein graues weiches, an einigen Stellen sogar schwammiges Aussehen haben und nach Schlamm und den glatten schwarzen Algen riechen, die nur tief unten im Wasser wachsen, wo Ebbe und Flut ihnen nichts anhaben können. Vielleicht hing das Namensschild noch am Bug.
Ich nahm ein Bad, zog mich an und frühstückte wie gewöhnlich um neun. Auf meinem Teller lag ein Haufen Briefe. Dankschreiben von den Gästen des Kostümballes. Ich durchflog sie, ohne mich länger dabei aufzuhalten. Frith erkundigte sich, ob er das Frühstück für Maxim warmstellen sollte. Ich sagte ihm, ich wüßte nicht, wann er zurückkäme. Er sei schon sehr früh fortgegangen. Frith erwiderte nichts darauf. Er blickte nur sehr ernst und würdig drein. Wieder fragte ich mich, ob er wohl etwas erfahren habe.
Nach dem Frühstück ging ich mit dem Stoß Briefe ins Morgenzimmer hinüber. Es war nicht gelüftet worden und roch etwas stickig. Ich riß die Fenster weit auf und ließ die frische Luft herein. Die Blumen auf dem Kaminsims waren verwelkt. Einzelne Blütenblätter lagen auf dem Boden.
Ich läutete, und Maud, eines der Hausmädchen, kam herbeigeeilt.
«Hier ist heute morgen nicht aufgeräumt worden», sagte ich. «Nicht einmal die Fenster haben Sie aufgemacht. Und die Blumen sind verwelkt. Nehmen Sie sie bitte mit hinaus.»
Maud sah mich schuldbewußt an. «Es tut mir sehr leid, Madam», sagte sie. Dann nahm sie die Vasen vom Kaminsims.
«Ich möchte nicht, daß das noch einmal vorkommt», sagte ich.
«Ja, Madam», sagte sie und ging mit den Vasen hinaus. Ich hatte nicht gedacht, daß es so leicht wäre, streng zu sein, und ich begriff nicht, warum es mir früher so schwergefallen war. Mrs. Danvers' Menüzettel lag auf dem Schreibtisch. Kalter Lachs in Mayonnaise, Kalbskoteletts in Aspik, Huhn in Gelee und ein Souffle. Lauter Überbleibsel von dem kalten Büffet vom Ball. Offenbar beabsichtigte Mrs. Danvers, uns nur die Reste vorzusetzen, die sie schon gestern aufgetischt hatte. Die Küche schien es sich sehr leicht zu machen. Ich strich die Liste durch und klingelte nach Robert. «Sagen Sie Mrs. Danvers, wir möchten etwas Warmes zu essen haben», sagte ich. «Wenn vom Kostümfest noch so viel übrig ist, so ist das kein Grund, es uns immer wieder vorzusetzen.»
«Sehr wohl, Madam», sagte Robert.
Ich folgte ihm hinaus und ging in das kleine Blumenzimmer, um die Blumenschere zu holen. Dann ging ich in den Rosengarten und schnitt ein paar Knospen ab. Die Luft hatte sich inzwischen erwärmt. Es drohte ein ebenso heißer und schwüler Tag zu werden wie gestern. Ob sie wohl noch alle in der Bucht oder ob sie schon nach Kerrith zurückgefahren waren? Ich würde es ja bald erfahren.
Bald würde Maxim nach Hause kommen und mir erzählen. Was auch geschehen mochte, ich mußte ruhig und gefaßt bleiben. Ich durfte keine Furcht in mir aufkommen lassen. Ich schnitt die Rosen und kehrte ins Morgenzimmer zurück. Der Teppich war inzwischen gebürstet und die Blumenblätter entfernt worden. Ich ordnete die Blumen in den Vasen, die Robert mit frischem Wasser gefüllt hatte. Als ich damit fertig war, klopfte es.
«Herein!» rief ich.
Es war Mrs. Danvers. Sie hielt den Menüzettel in der Hand. Unter ihren Augen lagen schwarze Ringe, und sie sah müde und auffallend bleich aus.
«Guten Morgen, Mrs. Danvers», sagte ich.
«Ich verstehe nicht», fing sie an. «Warum haben Sie das ganze Menü durchgestrichen und mich durch Robert benachrichtigt?»
Ich sah von meinen Rosen auf. «Die Koteletts und der Lachs waren gestern schon auf dem Tisch», sagte ich. «Ich möchte heute eine warme Mahlzeit haben. Wenn man diese kalten Reste nicht in der Küche essen will, dann werfen Sie sie lieber fort. In diesem Haus wird eine solche Verschwendung getrieben, daß es auf ein bißchen mehr wirklich nicht ankommt.»
Sie starrte mich sprachlos an. Ich machte mir mit den Rosen zu schaffen.
«Sagen Sie mir nicht, daß Sie nichts anderes wüßten, Mrs. Danvers», fuhr ich fort. «Im Laufe der Jahre müssen Sie ja schließlich eine Unmenge Menüs zusammengestellt haben.»
«Ich bin es nicht gewohnt, mir etwas von Robert sagen zu lassen», entgegnete sie. «Wenn Mrs. de Winter etwas am Menü geändert haben wollte, pflegte sie es mir direkt durch das Haustelephon mitzuteilen.»
«Es interessiert mich leider nicht sehr, was Mrs. de Winter zu tun pflegte», sagte ich. «Wie Sie wissen, bin ich jetzt Mrs. de Winter. Und wenn ich Ihnen etwas durch Robert bestellen lassen will, dann werde ich das auch tun.»
In diesem Augenblick trat Robert wieder ins Zimmer und meldete: «Der County Chronicle möchte Sie sprechen, Madam.»
«Sagen Sie, ich sei nicht zu Hause.»
«Sehr wohl, Madam.»
«Also, Mrs. Danvers, gibt es sonst noch etwas?» sagte ich, als Robert gegangen war.
Sie starrte mich immer noch wortlos an. «Wenn Sie nichts mehr zu fragen haben, dann gehen Sie bitte jetzt und besprechen Sie das warme Essen mit der Köchin», sagte ich. «Ich habe noch zu tun.»
«Was wollte der County Chronicle von Ihnen?» fragte sie.
«Ich habe nicht die geringste Ahnung, Mrs. Danvers.»
«Ist es wahr», sagte sie langsam, «was Frith gestern in Kerrith gehört hat? Daß Mrs. de Winters Boot gefunden sein soll?»
«So, erzählt man sich das?» sagte ich. «Ich habe noch nichts davon gehört.»
«Aber Captain Searle, der Hafenmeister von Kerrith, war doch gestern nachmittag hier», entgegnete sie. «Robert erzählte es mir. Und Frith sagt, daß man in Kerrith behauptet, der Taucher, der das gestrandete Schiff untersuchte, sei auf Mrs. de Winters Boot gestoßen.»
«Möglich», sagte ich. «Aber warten Sie lieber, bis Mr. de Winter zurückkommt, dann können Sie ihn fragen.»
«Warum ist Mr. de Winter heute so früh fortgegangen?»
«Das dürfte Sie ja wohl nichts angehen», sagte ich.
Ihr Blick ließ mich nicht los. «Frith sagt, es gehe sogar ein Gerücht um, in der Kajüte befinde sich eine Leiche», beharrte sie. «Wie kann das denn möglich sein? Mrs. de Winter war doch bestimmt allein.»
«Es hat keinen Zweck, daß Sie mich fragen, Mrs. Danvers, ich weiß auch nicht mehr als Sie.»
«Nicht?» erwiderte sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich drehte mich um und trug die eine Vase zum Tisch am Fenster.
«Ich werde in der Küche wegen des Essens Bescheid sagen», sagte sie und blieb einen Augenblick zögernd stehen. Ich schwieg. Da verließ sie das Zimmer. Sie kann mich nicht mehr erschrecken, dachte ich. Sie hat gleichzeitig mit Rebecca ihre Macht über mich verloren. Was sie jetzt auch sagen oder tun mochte, es würde mich nicht mehr berühren. Wenn sie jedoch die Wahrheit über die Leiche im Boot herausbekommen sollte und auch Maxims Feindin wurde - was dann? Ich mußte daran denken, was Maxim jetzt wohl tat. Warum der County Chronicle wohl wieder angerufen hatte? Das alte Übelkeitsgefühl kehrte zurück. Ich trat ans Fenster und lehnte mich hinaus. Es war sehr heiß, und es lag ein Gewitter in der Luft. Die Gärtner waren wieder beim Grasschneiden. Ich hielt es nicht länger im Haus aus, und ich ging auf die Terrasse. Jasper trottete hinter mir her. Er hoffte wohl, wir würden einen Spaziergang machen. Langsam schritt ich auf der Terrasse hin und her, bis Frith gegen halb zwölf herauskam und mir mitteilte, Mr. de Winter sei am Telephon. Ich ging durch die Bibliothek in das kleine Zimmer nebenan. Meine Hände zitterten, als ich den Hörer aufnahm.
«Bist du es?» fragte er. «Hier ist Maxim. Ich spreche vom Büro aus. Ich bin mit Frank zusammen.»
«Ja?» sagte ich.
Eine kleine Pause. «Ich bringe Frank und Oberst Julyan um ein Uhr zum Essen mit», sagte er dann.
«Ja», sagte ich.
Ich wartete. Ich wartete, daß er weitersprach. «Man hat das Boot heben können», sagte er. «Ich komme gerade aus Kerrith.»
«Ja», sagte ich.
«Searle war da und Oberst Julyan und Frank und die anderen», sagte er. Ich vermutete, daß Frank neben ihm stand und daß seine Stimme deshalb so kühl und fremd klang.
«Also du weißt Bescheid», sagte er. «Wir kommen um eins.»
Ich legte den Hörer auf. Er hatte mir nichts erzählt. Ich wußte noch immer nicht, was geschehen war. Ich ging wieder zur Terrasse zurück und sagte Frith, daß wir zwei Gäste haben würden.
Die nächste Stunde schleppte sich endlos hin. Ich ging nach oben und zog mir ein dünneres Kleid an. Dann ging ich wieder hinunter und setzte mich in den Salon und wartete. Um fünf vor eins hörte ich einen Wagen vorfahren und dann Stimmen in der Halle. Ich strich mir das Haar vor dem Spiegel glatt. Mein Gesicht war totenblaß. Ich kniff mir die Wangen, um etwas Farbe zu bekommen, und wartete, daß sie eintreten würden. Maxim kam als erster ins Zimmer, gefolgt von Frank und Oberst Julyan. Ich erinnerte mich, Oberst Julyan auf dem Kostümball als Cromwell gesehen zu haben. Er ging gebeugt und sah jetzt ganz anders, kleiner aus.
«Guten Tag», sagte er. Er sprach mit der ruhigen Stimme eines Arztes.
«Laß Frith den Sherry bringen», sagte Maxim. «Ich möchte mir noch mal die Hände waschen.» «Das will ich auch tun», sagte Frank. Bevor ich klingeln konnte, erschien Frith bereits mit dem Sherry. Oberst Julyan lehnte mit einer Handbewegung ab. Ich schenkte mir ein wenig ein, um etwas in der Hand halten zu können. Oberst Julyan trat neben mich ans Fenster.
«Das ist wirklich eine ganz fatale Geschichte, Mrs. de Winter», sagte er freundlich. «Ich habe das größte Mitgefühl für Sie und Ihren Gatten.»
«Das ist sehr lieb von Ihnen», sagte ich und begann an meinem Glas zu nippen. Dann stellte ich es hin, weil ich fürchtete, er könnte bemerken, wie meine Hand zitterte.
«Die Sache wäre gar nicht so kompliziert, wenn Ihr Mann nicht vor einem Jahr jene andere Leiche identifiziert hätte», sagte er.
«Ich verstehe nicht ganz», sagte ich.
«Haben Sie denn noch nicht gehört, was wir heute morgen gefunden haben?» fragte er.
«Ich weiß nur, daß der Taucher eine Leiche in der Kajüte entdeckte.»
«Ja», sagte er. Und dann fuhr er mit einem Blick über die Schulter zur Tür hin fort: «Ich fürchte, es kann kein Zweifel mehr bestehen, daß es sich um Rebecca de Winter handelt. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten quälen, aber Doktor Phillips und Ihr Mann fanden genügend Anhaltspunkte, um diesmal jeden Irrtum auszuschließen.»
Er brach plötzlich ab und trat von mir weg. Maxim und Frank kamen wieder ins Zimmer.
«Das Essen ist angerichtet, wollen wir gleich hinübergehen?» sagte Maxim.
Ich ging ihnen durch die Halle voraus ins Eßzimmer. Mein Herz war schwer wie Blei. Oberst Julyan saß zu meiner Rechten, Frank zu meiner Linken. Ich wagte nicht, Maxim anzusehen. Frith und Robert begannen den ersten Gang zu servieren. Wir sprachen vom Wetter. Frith stand hinter meinem Stuhl. Wir dachten alle an ein und dasselbe, aber Friths Anwesenheit zwang uns, Theater zu spielen. Wahrscheinlich dachte Frith auch daran, und der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß es doch viel einfacher gewesen wäre, die Regeln der Konvention in den Wind zu schlagen und ihn mitsprechen zu lassen, falls er etwas zu sagen hätte. Robert brachte den Wein. Unsere Teller wurden ausgewechselt und der zweite Gang serviert. Mrs. Danvers hatte meine Anordnung, für ein warmes Gericht zu sorgen, befolgt. Es gab einen Pot au feu.
«Ich glaube, der Kostümball hat allen großen Spaß gemacht», sagte Oberst Julyan. «Mrs. Lacy sah blendend aus.»
«Ja», sagte ich.
«Und wie gewöhnlich machte sie sich ihr Kostüm selber», sagte Maxim.
«Es muß verdammt schwer sein, mit solchen orientalischen Gewändern fertig zu werden», sagte Oberst Julyan. «Und doch hört man immer wieder, daß sie viel bequemer und kühler sind als irgend etwas, was die europäischen Frauen tragen.»
«Wirklich?» sagte ich.
«Ja, man behauptet es wenigstens. Wahrscheinlich halten diese faltenreichen Dinger die Sonnenstrahlen besser ab.»
«Wie merkwürdig», sagte Frank. «Man sollte annehmen, daß gerade das Gegenteil der Fall ist.»
«Offenbar nicht», sagte Oberst Julyan.
«Kennen Sie den Osten?» fragte Frank.
«Ja, den Fernen Osten kenne ich. Ich war fünf Jahre in China stationiert und danach in Singapore.»
«Kommt da nicht der Curry her?» fragte ich.
«Doch, ja, in Singapore haben wir sehr gute Curryspeisen bekommen.»
«Ich esse Curry auch sehr gern», sagte Frank.
«Ach, was man in England bekommt, ist gar kein richtiger Curry, das ist nur ein kümmerlicher Ersatz.»
Die Teller wurden weggenommen, und Frith reichte uns das Souffle und Fruchtsalat. «Mit den Himbeeren ist es wohl für dieses Jahr vorbei», sagte Oberst Julyan. «Wir haben eine ungewöhnlich gute Ernte gehabt. Meine Frau hat mehr Marmelade eingekocht als je zuvor.»
«Ich kann mich nicht so recht für Himbeermarmelade begeistern», sagte Frank, «ich finde, es sind immer zuviel Kerne drin.»
«Sie müssen einmal unser Eingemachtes probieren», sagte Oberst Julyan. «Ich glaube, bei uns werden Sie sich nicht über zuviel Kerne beklagen müssen.»
«Die Apfelbäume sind in diesem Jahr zum Brechen voll», sagte Frank. «Ich habe erst vor ein paar Tagen zu Maxim gesagt, wir würden eine Rekordernte erzielen. Wir werden eine ganze Menge nach London schicken können.»
«Finden Sie denn, daß sich das lohnt?» fragte Oberst Julyan. «Nachdem man die Extraarbeit und die Verpackung und die Fracht bezahlt hat, schaut dann überhaupt noch etwas dabei heraus?»
«Himmel, ja!»
«Wie interessant, das muß ich meiner Frau erzählen.»
Das Souffle und der Fruchtsalat hielten uns nicht lange auf. Robert reichte Käse und Salzgebäck, und gleich darauf brachte Frith den Kaffee und Zigaretten. Danach ver-ließen beide das Zimmer. Wir tranken schweigend unseren Kaffee. Ich sah nicht von meiner Tasse auf.
«Ich sagte Ihrer Frau schon, bevor wir zu Tisch gingen, de Winter», fing Oberst Julyan in dem früheren vertraulichen Ton an, «daß das einzig Dumme an der ganzen unerfreulichen Geschichte ist, daß Sie seinerzeit die Leiche jener fremden Frau identifizierten.»
«Ja, eben», bestätigte Maxim.
«Unter den damaligen Umständen finde ich den Irrtum nur zu begreiflich», warf Frank schnell ein. «Als die Behörde ihn aufforderte, nach Edgecoombe zu kommen, schrieb sie ihm bereits so, als sei gar kein Zweifel mehr an der Identität möglich. Und Maxim war überdies noch krank. Ich wollte ihn begleiten, aber er bestand darauf, allein zu fahren. Er war gar nicht in dem Zustand, ein klares Urteil abgeben zu können.»
«Das ist Unsinn», sagte Maxim. «Mir fehlte gar nichts.»
«Na ja, das ist jetzt unwichtig», unterbrach Oberst July-an. «Sie haben nun einmal diesen Irrtum begangen, und jetzt bleibt nichts anderes übrig, als ihn zuzugeben. Diesmal ist ein Zweifel wohl tatsächlich ausgeschlossen.»
«Ja», sagte Maxim.
«Ich wünschte, ich könnte Ihnen die Formalitäten und die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung ersparen», sagte Oberst Julyan. «Aber ich fürchte, das wird nicht möglich sein.»
«Natürlich nicht», sagte Maxim.
«Jedenfalls glaube ich nicht, daß es sehr lange dauern wird; Sie brauchen ja nur Ihre Identifizierung zu bestätigen, und dann muß Tabb, der ja das Boot überholte, als Ihre Frau es aus Frankreich mitbrachte, eine Erklärung abgeben, daß das Boot seetüchtig und in Ordnung war, als er es zuletzt auf seiner Werft hatte. Es handelt sich ja bei all dem nur um Formalitäten, die wir allerdings nicht umgehen können. Nein, was mich am meisten bekümmert, ist, daß es durch alle Zeitungen gehen wird. Das ist sehr unerquicklich für Sie und Ihre Frau.»
«Na ja, das läßt sich nun nicht ändern», sagte Maxim.
«Zu dumm, daß dieses deutsche Schiff ausgerechnet hier stranden mußte», sagte Oberst Julyan. «Sonst wäre alles beim alten geblieben, und kein Hahn hätte danach gekräht.»
«Ja», sagte Maxim.
«Der einzige Trost ist nur, daß wir jetzt wissen, daß Mrs. de Winter einen schnellen und barmherzigen Tod hatte und sich nicht so lange hat quälen müssen, wie wir ja bisher annehmen mußten. An Schwimmen war ja unter diesen Umständen gar nicht zu denken.»
«Nein», sagte Maxim.
«Sie ist wahrscheinlich in die Kajüte gegangen, um etwas zu holen, und als das Boot sich dann in einer Bö umlegte, verklemmte sich die Tür, so daß sie nicht rechtzeitig ans Steuer konnte», sagte Oberst Julyan. «Schrecklich!»
«Ja», sagte Maxim.
«Halten Sie das nicht auch für die wahrscheinlichste Lösung, Mr. Crawley?» wandte sich Oberst Julyan an Frank.
«O ja, zweifellos», sagte Frank.
Ich sah hoch und erhaschte den Blick, den Frank Maxim zuwarf. Er wandte seine Augen gleich wieder ab, aber nicht so schnell, daß ich nicht den Ausdruck in ihnen lesen und deuten konnte. Frank wußte alles. Und Maxim wußte nicht, daß Frank alles wußte. Ich rührte in meiner Kaffeetasse. Meine Hände waren feucht und heiß.
«Früher oder später unterläuft uns allen mal ein Irrtum», sagte Oberst Julyan. «Und dann müssen wir das eben aus-baden. Mrs. de Winter muß doch ebensogut wie wir gewußt haben, wie unbeständig der Wind dort in der Bucht bläst und daß man das Steuer nicht unbeaufsichtigt lassen darf. Schließlich segelte sie nicht zum erstenmal dort draußen. Sie muß das Risiko gekannt haben, und als sie es trotzdem wagte, hat es sie eben getötet. Eine bittere Lehre für jeden.»
«Ein Unglück kann so leicht passieren», sagte Frank. «Selbst den erfahrensten Leuten. Denken Sie doch nur an die vielen Jagdunglücke.»
«Gewiß, aber meistens ist es da das Pferd, das bei einem Sprung stürzt. Wenn Mrs. de Winter nicht die Unvorsichtigkeit begangen hätte, das Steuer sich selbst zu überlassen, wäre das Unglück niemals passiert. Es ist mir wirklich ganz unbegreiflich, wie sie das tun konnte. Ich habe sie so oft bei den Sonnabendregatten von Kerrith beobachtet, und ich habe sie niemals einen wirklichen Fehler machen sehen. So etwas würde man doch nur einem Anfänger zutrauen, und dazu dort am Riff!»
«Es war eine sehr böige Nacht», bemerkte Frank. «Irgend etwas in der Takelage mag in Unordnung geraten sein. Vielleicht klemmte etwas, und sie wollte nur schnell ein Messer holen.»
«Selbstverständlich ist das möglich, aber Gewißheit werden wir nie erlangen, und sie würde uns ja auch nicht viel nützen. Wie gesagt, ich wünschte, ich könnte Ihnen diese Gerichtsverhandlung ersparen, aber ich kann es wirklich nicht. Ich will versuchen, sie bereits auf Dienstagmorgen zu legen und es so kurz wie möglich zu machen. Eine reine Formalität. Ich fürchte nur, wir werden die Zeitungsleute nicht ausschließen können.»
Ein neuerliches Schweigen. Ich fand, daß es an der Zeit war, meinen Stuhl zurückzuschieben und mich zu erheben.
«Wollen wir in den Garten gehen?» fragte ich und ging voraus auf die Terrasse. Oberst Julyan streichelte Jasper.
«Er hat sich gut herausgemacht», lobte er.
«Ja», sagte ich.
«Diese Rasse ist sehr anhänglich», meinte er.
«Ja», sagte ich.
Wir standen schweigend herum. Dann zog er seine Uhr.
«Ich möchte Ihnen für das ausgezeichnete Mittagsmahl danken», sagte er. «Ich habe heute noch ziemlich viel zu erledigen, und ich hoffe, Sie entschuldigen mich, wenn ich jetzt so hastig aufbreche.»
«Aber natürlich», sagte ich.
«Es tut mir so leid, daß sich dies ereignen mußte. Ich habe das größte Mitgefühl für Sie. Ich finde, Sie trifft es fast noch härter als Ihren Mann. Aber wenn diese Verhandlung erst vorbei ist, dann müssen Sie alles schleunigst vergessen.»
«Ja», sagte ich, «das wollen wir versuchen.»
«Mein Wagen steht auf der Anfahrt. Vielleicht kann ich Mr. Crawley mitnehmen. Crawley, wenn Sie wollen, kann ich Sie vor Ihrem Büro absetzen.»
«Sehr freundlich von Ihnen, Oberst», sagte Frank. Er trat auf mich zu und gab mir die Hand. «Ich sehe Sie hoffentlich bald wieder», sagte er.
«Ja», sagte ich. Ich sah ihn nicht an, denn ich fürchtete, auch er könnte in meinen Augen lesen, und ich wollte ihm nicht verraten, was ich wußte. Maxim begleitete unsere Gäste zum Wagen. Als sie abgefahren waren, kehrte er zu mir zurück und nahm meinen Arm. Wir standen nebeneinander und blickten über den grünen Rasen zum Meer und zu dem Leuchtturm auf der Landzunge hinunter.
«Es wird schon alles gutgehen», sagte er. «Ich bin ganz ruhig und zuversichtlich. Du hast ja selbst gesehen, wie Julyan sich bei Tisch verhielt. Die Gerichtsverhandlung wird keinerlei Schwierigkeiten bieten. Es wird bestimmt alles gutgehen.»
Ich schwieg und klammerte mich an seinen Arm.
«Es bestand von Anfang an gar kein Zweifel, wer die Leiche war», fuhr er fort. «Doktor Philips hätte die Identität auch ohne mich feststellen können. Es war ein ganz einfacher, klarer Fall. Von dem Schuß war keine Spur mehr zu sehen. Die Kugel hatte keinen Knochen gestreift.»
Ein Schmetterling flatterte auf seinen taumelnden Wegen an uns vorüber.
«Du hörtest ja, was sie sagten; man nimmt an, daß das Unglück sie in der Kajüte überraschte. Das Gericht wird zu derselben Ansicht kommen. Phillips wird es ihnen so darlegen.» Maxim hielt inne. Ich schwieg immer noch.
«Mir macht es nur deinetwegen etwas aus», sagte er. «Sonst bereue ich nichts. Und wenn sich alles wiederholte, würde ich nicht anders handeln. Ich bin froh, daß ich Rebecca tötete. Mein Gewissen wird sich deshalb niemals regen. Aber du - was du darunter zu leiden hast, das bedrückt mich. Ich habe dich während des Essens dauernd angesehen und nur an dich gedacht. Der drollige, rührend junge Ausdruck in deinem Gesicht, den ich so liebte, ist für immer verschwunden. Er wird nie wiederkehren. Den habe ich auch getötet, als ich dir von Rebecca erzählte. Innerhalb eines einzigen Tages hast du ihn verloren. Du bist so viel älter geworden ...»