22

Das Lokalblatt, das Frith mir am Abend brachte, trug bereits große Schlagzeilen. Er legte es vor mich auf den Tisch. Maxim war nicht im Zimmer; er war schon frühzeitig hinaufgegangen, um sich zum Essen umzuziehen. Frith blieb noch zögernd in der Tür stehen, als erwartete er, daß ich etwas sagen würde, und es kam mir dumm und auch unfreundlich vor, diese Angelegenheit, die allen Bewohnern des Hauses nahegehen mußte, einfach zu übergehen.

«Ist das nicht eine scheußlich unangenehme Geschichte, Frith?» sagte ich.

«Ja, Madam, in der Küche herrschte auch große Bestürzung darüber», erwiderte er.

«Es ist vor allem so traurig, daß Mr. de Winter das alles noch einmal durchmachen muß.»

«Ja, Madam, sehr traurig. Schrecklich, zum zweitenmal eine Leiche identifizieren zu müssen. Es besteht jetzt offenbar kein Zweifel mehr, daß das, was man im Boot gefunden hat, wirklich die sterblichen Überreste der verstorbenen Mrs. de Winter sind.»

«Nein, Frith, diesmal scheint ein Irrtum ausgeschlossen.»

«Als wir draußen darüber sprachen, fanden wir es alle sonderbar, daß sie sich vom Wetter so überraschen ließ. Sie war doch eine so erfahrene Seglerin.» «Ja, Frith, der Ansicht sind wir auch. Aber Unglücksfälle kommen ja vor. Und wie es sich genau abgespielt hat, das werden wir wohl niemals erfahren.»

«Nein, wahrscheinlich nicht, Madam. Aber es war doch ein großer Schock für uns. Die Nachricht hat uns sehr mitgenommen. Und dazu noch so unmittelbar nach dem Ball; es traf jeden unvorbereitet. Und wird es tatsächlich zu einer Gerichtsverhandlung kommen, Madam?»

«Ja, die üblichen Formalitäten.»

«Selbstverständlich, Madam. Ob einer von uns als Zeuge verhört werden wird?»

«Ich glaube nicht, Frith.»

«Ich wäre nur zu froh, etwas für Mr. de Winter tun zu können; das weiß Mr. de Winter ja auch.»

«Ja, Frith, das weiß er sicher.»

«Ich habe natürlich in der Küche sofort gesagt, daß über die Angelegenheit nicht weiter gesprochen werden soll; aber es ist so schwer, ihnen den Mund zu verbieten, besonders den Mädchen. Mit Robert werde ich natürlich leicht fertig. Ich fürchte, die Nachricht hat Mrs. Danvers sehr schwer getroffen.»

«Ja, Frith, das glaube ich auch.»

«Sie ging gleich nach dem Essen auf ihr Zimmer und ist seitdem nicht wieder heruntergekommen. Alice brachte ihr gerade eine Tasse Tee und die Zeitung hinauf, und sie sagt, Mrs. Danvers sähe sehr elend aus.»

«Es ist sicher am besten, wenn sie in ihrem Zimmer bleibt», sagte ich. «Es hat keinen Zweck, zu arbeiten, wenn sie sich nicht wohl fühlt. Alice soll ihr das bestellen. Die Köchin und ich werden uns schon einig werden.»

«Ja, Madam. Ich glaube ja nicht, daß sie richtig krank ist; es ist vermutlich nur die Aufregung, daß Mrs. de Winter gefunden worden ist. Sie hat so sehr an ihr gehangen.»

«Ja», sagte ich, «ich weiß.»

Als Frith gegangen war, überflog ich schnell die Zeitung, bevor Maxim herunterkam. Eine ganze Spalte auf der Titelseite war dem Ereignis gewidmet; und darüber hatten sie eine fast unkenntliche Photographie von Maxim gebracht, die mindestens fünfzehn Jahre alt sein mußte. Es war gräßlich, ihn aus einer Zeitung herausstarren zu sehen. Und am Schluß des Artikels standen ein paar Zeilen über mich, die zweite Frau von Maxim, und daß wir gerade einen Kostümball auf Manderley gegeben hätten. Es nahm sich in dem schwarzen Zeitungsdruck so roh und gefühllos aus. Dort stand, wie Rebecca, die als geistreiche Schönheit geschildert und deren allgemeine Beliebtheit besonders hervorgehoben wurde, vor einem Jahr ertrunken sei, und wie Maxim schon im Frühjahr darauf zum zweitenmal geheiratet und seine junge Frau unmittelbar nach der Hochzeit (behauptete der Schreiber) nach Manderley gebracht habe, wo ihr zu Ehren ein großes Kostümfest gegeben worden sei. Und wie dann am Morgen darauf die Leiche seiner ersten Frau in der Kajüte ihres Segelbootes auf dem Meeresgrund von dem Taucher entdeckt worden sei. Im großen und ganzen stimmte das alles ja, aber die kleinen Ungenauigkeiten, die die Geschichte aufpulverten, verliehen dem Artikel erst den Kitzel, den der große Leserkreis für seine Pennies verlangen durfte. Die Darstellung machte aus Maxim nahezu einen Lüstling, der seine nach Manderley brachte und ihr zu Ehren ein rauschendes Fest veranstaltete, nur um sein Glück vor der Welt zur Schau zu stellen.

Ich versteckte die Zeitung unter einem Kissen, damit Maxim sie nicht zu Gesicht bekam. Aber die Morgenausgaben konnte ich nicht vor ihm verbergen. Die Londoner Blätter hatten die Geschichte ebenfalls aufgegriffen. Beide brachten ein Bild von Manderley über dem Text. Mander-ley und Maxim waren allerletzte Neuigkeit. Er wurde Max de Winter genannt. Es klang schrecklich salopp und mondän. Alle Zeitungen hoben besonders hervor, daß die Entdeckung am Tag nach dem Kostümfest gemacht worden sei. Als erblicke man darin etwas Schicksalhaftes. Und in beiden Artikeln kam der Ausdruck

Ich dachte an das, was die Zeitungen schreiben würden, wenn sie die Wahrheit wüßten. Nicht eine Spalte, sondern fünf oder sechs. Plakate in den Londoner Straßen; Zeitungsjungen, die das furchtbare Wort mit vier Buchstaben ausrufen würden, das in dicker schwarzer Schrift von den Zeitungsplakaten schrie.

Nach dem Frühstück kam Frank herüber. Er sah bleich und müde aus, als ob er gar nicht geschlafen hätte. «Ich habe in der Telephonzentrale Bescheid gesagt, daß alle Anrufe für Manderley über das Büro geleitet werden sollen», sagte er zu Maxim. «Ganz gleich, wer es ist. Wenn sich noch mehr Reporter melden sollten, dann werde ich sie schon abfertigen. Und alle anderen auch. Ich möchte nicht, daß ihr beide mehr belästigt werdet als unbedingt notwendig. Ein paar von den lieben Nachbarn haben bereits angerufen, und ich habe allen die gleiche Auskunft gegeben: Mr. und Mrs. de Winter ließen herzlich für die freundliche Nachfrage danken und hofften, ihre Freunde würden es verstehen, daß sie in den nächsten Tagen keine Anrufe annehmen möchten. Deine Schwester hat um halb neun angerufen und wollte gleich herkommen.»

«O mein Gott ...» rief Maxim aus.

«Keine Sorge, ich habe es ihr gleich ausgeredet. Ich sagte ihr wahrheitsgemäß, ich glaubte nicht, daß sie im Augenblick von Nutzen sein könne und daß du niemanden sehen wolltest außer deiner Frau. Sie wollte auch wissen, wann die Verhandlung stattfindet, aber ich sagte ihr, der Termin stehe noch nicht fest. Ich fürchte, wir werden sie nicht daran hindern können, hinzugehen, da ja die Zeitungen darüber schreiben werden.»

«Diese verfluchten Reporter», sagte Maxim.

«Ich weiß», sagte Frank. «Man möchte ihnen manchmal den Hals umdrehen, aber andererseits können sie ja auch nichts dafür. Es ist schließlich ihr Beruf, und die Zeitung bezahlt sie für ihre Neugier. Wahrscheinlich fliegen sie auf die Straße, wenn sie nicht täglich irgendeine Sensation ausgraben. Aber du brauchst keinen von ihnen zu sehen und zu sprechen, Maxim, laß mich nur machen. Konzentriere du dich auf das, was du bei der Verhandlung sagen willst.»

«Da gibt es nicht viel zu überlegen», sagte Maxim.

«Da hast du natürlich recht, aber vergiß nicht, daß der alte Horridge der Vorsitzende ist. Er ist ein richtiger Tüftler und hält sich stundenlang mit Einzelheiten auf, die gar nichts mit der Sache zu tun haben, nur um den Geschworenen zu zeigen, was für ein scharfsinniger Kopf er ist. Du darfst dich nicht durch seine Methode aus dem Konzept bringen lassen.»

«Was gibt es denn da aus dem Konzept zu bringen? Ich brauche mich ja nur an die Tatsachen zu halten.»

«Selbstverständlich. Aber ich habe schon mehr als einer Verhandlung beigewohnt und weiß, daß man dabei leicht die Nerven verlieren kann. Und du mußt dich davor hüten, diesen alten Burschen gegen dich einzunehmen.»

«Frank hat recht», sagte ich. «Ich verstehe, was er meint. Je schneller und reibungsloser alles erledigt wird, desto besser ist es für alle Beteiligten. Und wenn diese ganze dumme Geschichte erst einmal vorüber ist, dann werden wir sie ebenso schnell vergessen wie alle anderen, nicht wahr, Frank?»

«Ja, natürlich», entgegnete Frank.

Ich vermied es immer noch, ihn anzusehen, denn ich war mehr denn je davon überzeugt, daß er die Wahrheit kannte. Er hatte sie immer gekannt, von Anfang an. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag auf Manderley, als er und Beatrice und Giles zum Mittagessen gekommen waren und Beatrice sich so taktlos über Maxims Gesundheit geäußert hatte. Und ich erinnerte mich, wie Frank in seiner unaufdringlichen Art das Thema gewechselt hatte und Maxim zu Hilfe gekommen war, so oft die Unterhaltung sich einem ähnlich verfänglichen Gesprächsstoff zuzuwenden drohte. Und jetzt verstand ich auch, warum er sich nur so unwillig über Rebecca ausfragen ließ; und auch seine komische, geschraubte Konversation, so oft wir etwas vertrauter miteinander zu reden begannen, wurde mir jetzt verständlich. Frank wußte alles, aber Maxim wußte das nicht. Und Frank wollte auch nicht, daß Maxim das wußte. Da standen wir also und sprachen miteinander, jeder mit seinem Geheimnis, das ihn von dem anderen trennte.

Das Telephon störte uns nicht mehr. Die Anrufe wurden alle ins Büro umgeleitet. Jetzt galt es nur zu warten. Bis zum Dienstag zu warten.

Mrs. Danvers sah ich gar nicht mehr. Der Menüzettel lag wie gewöhnlich auf dem Schreibtisch, und ich hatte nichts daran zu ändern. Ich erkundigte mich bei Clarice nach ihr. Sie erzählte mir, Mrs. Danvers gehe ihrer Arbeit wieder nach, spreche jedoch mit niemandem und nähme ihre Mahlzeiten allein auf ihrem Zimmer ein.

Ihre aufgerissenen Augen verrieten ihre Neugier, aber sie stellte mir keine Fragen, und ich beabsichtigte auch nicht, mich mit ihr zu unterhalten. Zweifellos sprach man in der Küche, im Pförtnerhaus und bei den Pächtersleuten von nichts anderem. Ganz Kerrith beschäftigte sich wahrscheinlich damit. Wir hielten uns nur im Haus und im Garten auf und machten nicht einmal mehr unsere Spaziergänge im Wald. Das Wetter war noch nicht umgeschlagen. Es war noch immer sehr heiß und drückend. Ständig lag ein Gewitter in der Luft, das sich nicht entlud, und der dunstige Abendhimmel versprach Regen, der nicht fallen wollte. Ich fühlte ihn, ich konnte den Regen förmlich riechen, wie er sich dort oben in den Wolken ansammelte. Die Verhandlung war nunmehr endgültig auf Dienstag nachmittag um zwei Uhr angesetzt.

Wir aßen am Dienstag um Viertel vor eins. Frank kam zu Tisch. Beatrice hatte glücklicherweise telephonisch abgesagt. Roger war mit Masern nach Hause gekommen; die ganze Familie durfte sich nicht aus dem Haus rühren. Ich konnte nicht umhin, diese Masern zu segnen. Maxim hätte es bestimmt nicht ertragen, Beatrice um sich zu haben.

Es wurde eine hastige, nervöse Mahlzeit. Keiner von uns sagte viel. Ich empfand wieder diesen bohrenden Schmerz. Ich mochte nichts essen, ich konnte einfach nichts herunterschlucken. Wir waren alle erleichtert, als wir uns erheben konnten und Maxim hinausging, um den Wagen anzulassen. Das Geräusch des Motors beruhigte mich. Es bedeutete, daß wir uns bewegen würden, etwas tun mußten. Nicht mehr dieses Herumsitzen auf Manderley. Frank folgte uns in seinem eigenen Wagen. Ich hielt während der ganzen Fahrt meine Hand auf Maxims Knie. Er schien völlig ruhig zu sein, auch nicht die Spur aufgeregt. Meine Hände waren dagegen eiskalt, und mein Herz klopfte eigentümlich unregelmäßig. Und die ganze Zeit über bohrte jener stechende Schmerz in mir. Die Verhandlung fand in Lanyon statt, einem Marktflecken sechs Meilen jenseits von Kerrith. Wir parkten den Wagen auf dem großen kopfsteingepflasterten Marktplatz. Ich sah einen Passanten Maxim forschend betrachten und dann seine Begleiterin am Ärmel zupfen.

«Ich glaube, ich bleibe lieber hier», sagte ich. «Ich möchte doch lieber nicht mit hineingehen.»

«Du hättest mich gar nicht erst hierher begleiten sollen», sagte Maxim. «Ich bin von Anfang an dagegen gewesen. Du wärst viel besser zu Hause geblieben.»

«Nein», sagte ich. «Aber ich werde hier im Wagen warten.»

Frank sah zu uns herein. «Kommt deine Frau nicht mit?» fragte er.

«Nein», entgegnete Maxim. «Sie möchte hier im Wagen bleiben.»

«Das finde ich sehr vernünftig», meinte Frank. «Es liegt wirklich kein Grund vor, warum sie dabei sein sollte. Außerdem wird es ja nicht lange dauern.»

«Ich sitze hier ganz gut», sagte ich.

«Ich werde einen Platz neben mir für Sie freihalten», sagte Frank, «falls Sie sich's doch noch anders überlegen sollten.»

Sie gingen zusammen weg und ließen mich allein. Es war ein Tag mit frühem Ladenschluß. Die Läden sahen grau und langweilig aus. Die Straßen waren fast menschenleer. Lanyon bekam auch nicht viele Feriengäste zu sehen; es lag zu weit vom Meer ab. Ich saß da und betrachtete die gegenüberliegenden Läden. Die Zeit verstrich Minute um Minute. Ich überlegte mir, was sie jetzt wohl taten, Frank und Maxim und Oberst Julyan. Ich stieg aus dem Wagen und ging auf dem Marktplatz auf und ab. Ich blieb vor einem Laden stehen und sah hinein. Dann ging ich wieder weiter. Ein Polizist musterte mich neugierig. Ich bog in eine Seitenstraße ein, um ihm aus den Augen zu kommen.

Plötzlich bemerkte ich, daß ich mich unwillkürlich dem Gebäude genähert hatte, in dem die Verhandlung stattfand. Die genaue Zeit war in den Zeitungen nicht bekanntgegeben worden, und deshalb fand ich nicht die Menschenmenge vor, die ich erwartet und gefürchtet hatte. Niemand war zu sehen. Ich ging die Stufen hinauf und öffnete die Tür.

Von irgendwoher tauchte ein Polizist auf. «Suchen Sie etwas?» fragte er.

«Nein», sagte ich, «nein.»

«Hier dürfen Sie nicht warten», sagte er.

«Entschuldigen Sie bitte», sagte ich und ging wieder auf die Straße zurück.

«Verzeihen Sie, Madam, sind Sie nicht Mrs. de Winter?»

«Ja», sagte ich.

«Das ist natürlich etwas anderes», sagte er. «Dann können Sie selbstverständlich hier bleiben. Möchten Sie vielleicht hier so lange Platz nehmen?»

«Danke schön», sagte ich.

Er führte mich in ein kleines, kahles Zimmer, in dem nur ein Schreibtisch und eine Bank standen. Es sah aus wie ein Warteraum auf dem Bahnhof. Ich saß dort mit den Händen im Schoß.

Fünf Minuten vergingen. Nichts ereignete sich. Dies war schlimmer, als draußen im Wagen zu warten. Ich stand auf und ging in den Flur hinaus. Der Polizist war noch da.

«Wie lange wird es wohl noch dauern?» fragte ich.

«Ich werde einmal nachhören, wenn Sie wünschen», sagte er.

Er verschwand in einem Seitengang. Gleich darauf kam er wieder zurück. «Es kann nicht mehr sehr lange dauern», sagte er. «Mr. de Winter hat soeben ausgesagt. Captain Searle und der Taucher und Doktor Phillips haben ihre Aussage bereits gemacht. Jetzt kommt nur noch Mr. Tabb, der Bootsbauer aus Kerrith, dran.»

«Dann wird es ja gleich vorüber sein», meinte ich.

«Ja, ich glaube auch, Madam», sagte er; und dann kam ihm plötzlich ein Gedanke: «Möchten Sie vielleicht die Aussage dieses letzten Zeugen anhören? Gleich an der Tür ist noch ein Platz frei. Sie können unbemerkt hineinschlüpfen.»

«Ja, danke», sagte ich, «das will ich gern.»

Die Verhandlung war bereits fast zu Ende. Maxim hatte schon ausgesagt. Es machte mir nichts aus, mit anzuhören, was jetzt noch kam. Ich hatte nur Maxim nicht hören wollen; das hätte mich zu sehr aufgeregt. Deswegen war ich auch nicht gleich mit ihm und Frank gegangen. Jetzt war es einerlei. Er hatte schon ausgesagt.

Ich folgte dem Polizisten, und am Ende des Korridors machte er eine Tür auf. Ich schlüpfte hinein und setzte mich auf den leeren Platz. Ich hielt den Kopf gesenkt, um niemanden ansehen zu müssen. Der Raum war kleiner, als ich gedacht hatte, und ziemlich heiß und stickig. Ich hatte mir so etwas wie einen Kirchenraum vorgestellt, groß und kahl mit vielen Bankreihen. Maxim und Frank saßen ganz vorn. Der Vorsitzende war ein hagerer, ältlicher Mann mit einem Kneifer auf der Nase. Ich blickte mich unter gesenkten Lidern verstohlen um. Viele von den Anwesenden hatte ich noch nie gesehen. Plötzlich machte mein Herz einen Sprung, als mein Blick auf Mrs. Danvers fiel. Sie saß ziemlich weit hinten, und neben ihr saß Jack Favell, Rebeccas Vetter. Das Kinn in die Hand gestützt, beugte er sich vor und fixierte Mr. Horridge, den Vorsitzenden. Fa-vell hatte ich hier nicht zu sehen erwartet. Ob Maxim wußte, daß er da war? James Tabb, der Bootsbauer, stand vor der Geschworenenbank, und der Vorsitzende richtete seine Fragen an ihn.

«Ja, Sir», erwiderte Tabb. «Ich baute Mrs. de Winters Boot um. Ursprünglich war es ein französisches Fischerboot, das sie für einen Spottpreis in der Bretagne gekauft und mit nach England gebracht hatte. Sie gab mir den Auftrag, es in einen Kajütensegler umzubauen.»

«Befand sich das Boot in einem seetüchtigen Zustand?» fragte der Vorsitzende.

«So, wie ich es ihr letzten April ablieferte, ja», antwortete Tabb. «Mrs. de Winter legte das Boot wie gewöhnlich im vorhergehenden Oktober in meiner Werft auf Kiel, und im März erhielt ich dann wie stets den Auftrag, das Boot zu überholen, was ich denn auch tat. Es war bereits das vierte Jahr, daß Mrs. de Winter das Boot segelte, nachdem ich es umgebaut hatte.»

«Ist Ihnen bekannt, ob das Boot schon jemals vorher gekentert ist?»

«Nein, Sir. Und Mrs. de Winter hätte es mir bestimmt mitgeteilt, wenn etwas Derartiges vorgekommen wäre. Mir gegenüber äußerte sie sich immer nur begeistert über die Eigenschaften des Bootes.»

«Ich nehme an, daß es für einen einzelnen nicht leicht zu segeln war.»

«Nun ja, Sir, man muß schon seine fünf Sinne beisammen haben, wenn man auf offenem Meer segeln will, das ist wahr. Aber Mrs. de Winters Boot war nicht eine von diesen empfindlichen Nußschalen, die jede Sekunde einen anderen Handgriff erfordern. Nein, es war ein stabiles, wetterfestes Schiffchen, das eine gehörige Portion Wind vertragen kann. Mrs. de Winter war schon bei stürmischerem Wetter draußen gewesen als an jenem Unglücksabend. Böig war es zwar, aber von Sturm keine Rede. Das habe ich schon damals immer gesagt, und deshalb hat es mich auch so gewundert, daß sie ausgerechnet bei einem solchen Wetter verunglückte.»

«Aber wenn Mrs. de Winter, wie man annimmt, in die Kajüte gegangen war, um etwas zu holen, und eine plötzliche Bö von der Landseite her das Boot erfaßte, hätte das nicht das Boot zum Kentern bringen können?»

James Tabb schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er eigensinnig. «Ich halte das für ausgeschlossen.»

«Es muß aber trotzdem so gewesen sein», sagte der Vorsitzende. «Ich glaube nicht, daß Mr. de Winter oder jemand von uns Ihrer Arbeit die Schuld an dem Unglück zuschiebt. Sie haben das Boot im Frühjahr überholt und es intakt und seetüchtig abgeliefert. Das wollte ich nur wissen. Unglücklicherweise scheint Mrs. de Winter die nötige Vorsicht einen Augenblick lang außer acht gelassen zu haben und büßte, als das Schiff kenterte, ihr Leben ein. Solche Unglücksfälle sind nicht ungewöhnlich. Ich wiederhole noch einmal, daß Sie keine Schuld trifft.»

«Entschuldigen Sie, Sir», sagte Tabb. «Das ist noch nicht alles. Wenn Sie erlauben, möchte ich noch eine Aussage machen.»

«Bitte», sagte Mr. Horridge.

«Es ist nämlich so, Sir. Nach dem Unglück äußerten sich einige Leute in Kerrith sehr abfällig über meine Arbeit. Man sagte mir nach, ich hätte Mrs. de Winter ein leckes Boot mit halb verfaulten Planken übergeben. Ich verlor sogar ein paar Kunden deswegen. Das war sehr unfair, aber das Boot war nun einmal gesunken, und was ich auch sagen mochte, beweisen konnte ich ja nichts. Dann strandete dieses Schiff, und Mrs. de Winters Boot wurde gefunden und gehoben. Gestern erlaubte mir Captain Searle, das Boot genauer zu untersuchen. Ich wollte mich nämlich überzeugen, daß meine Arbeit fehlerfrei gewesen war, obwohl das Boot ja schon über zwölf Monate auf dem Meeresboden gelegen hatte.»

«Das war ein sehr begreiflicher Wunsch. Ich hoffe, die Untersuchung hat Sie befriedigt.»

«Ja, Sir, das hat sie. Was meine Arbeit anbelangt, so ist das Boot in bester Ordnung. Ich habe jede Planke untersucht. Es lag auf Sandboden. Ich habe den Taucher ausdrücklich deswegen befragt. Es hat das Riff gar nicht berührt. Das Riff befand sich gute fünf Fuß weit ab. Da, wo das Boot lag, war reiner Sandboden, und ich habe auch nicht die geringste Spur einer Beschädigung durch eine Felsspitze entdecken können.»

Er machte eine Pause. Der Vorsitzende sah ihn fragend an.

«Und?» sagte Mr. Horridge. «War das alles, was Sie uns sagen wollten?»

«Nein, Sir», erwiderte Tabb nachdrücklich, «keineswegs. Was ich jetzt wissen möchte, ist das: woher kommen die Löcher in dem Schiffsboden? Das Riff war es nicht, denn das war zu weit weg. Und außerdem sind es nicht solche Löcher, wie ein Anprall auf Steine sie verursacht. Nein, diese Löcher sind mit einem Brecheisen oder auch einem Bootshaken gemacht worden.»

Ich starrte vor mich auf den Fußboden.

Warum sagte der Vorsitzende denn nichts? Warum dieses Schweigen? Als er endlich wieder sprach, klang seine Stimme wie aus weiter Ferne.

«Wie meinen Sie das?» fragte er. «Von welchen Löchern reden Sie?»

«Im ganzen sind es drei», erwiderte Tabb. «Eins vorne an der Steuerbordseite unter der Wasserlinie, die beiden anderen nebeneinander in der Mitte des Bootes unter den Fußplanken; und außerdem war der Ballast entfernt worden. Aber das ist noch nicht alles; die Flutventile waren nämlich aufgedreht.»

«Die Flutventile? Was ist denn das?» fragte der Vorsitzende.

«Das sind die Absperrhähne der Waschvorrichtung. Mrs. de Winter hatte sich einen kleinen Waschraum im hinteren Teil der Kajüte einrichten lassen, und vorne war ein Küchenausguß; und an beiden Stellen befindet sich ein solcher Hahn. Unterwegs müssen diese Hähne immer wieder geschlossen werden, damit kein Wasser eindringt. Als ich das Boot gestern untersuchte, fand ich beide Hähne voll aufgedreht.»

Es war zum Ersticken heiß. Warum öffnete niemand ein Fenster? In dem kleinen Raum, in dem so viele Menschen saßen, war kaum noch Luft zum Atmen.

«Mit den Löchern in dem Bootskörper und den offenen Hähnen, Sir, mußte das Boot sehr schnell sinken. In höchstens zehn Minuten, schätze ich. Das Boot hat meine Werft in tadellosem Zustand verlassen, Sir. Mrs. de Winter und ich waren beide stolz darauf. Ich bin der Ansicht, daß das Boot gar nicht gekentert ist. Es ist mit Vorbedacht zum Sinken gebracht worden.»

Ich muß versuchen, hinauszukommen. Ich will wieder ins Wartezimmer gehen. Hier konnte man ja nicht atmen, und meine Nachbarin erdrückte mich fast ... Vor mir hatte sich jemand erhoben, und ich hörte Stimmengewirr; alle sprachen durcheinander. Ich wußte nicht, was geschehen war, ich konnte nichts sehen. Es war so furchtbar heiß. Der Vorsitzende verlangte Ruhe und sagte dann etwas von . Ich konnte nichts sehen. Ein Frauenhut versperrte mir die Sicht. Maxim stand jetzt auf. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Ich durfte ihn nicht ansehen. Ich hatte schon einmal dieses Gefühl gehabt. Wann war das nur gewesen? Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern; doch, ja, es war neulich, als ich mit Mrs. Danvers oben am Fenster stand. Mrs. Danvers befand sich jetzt auch in diesem Raum und hörte auf das, was der Vorsitzende sagte. Da vorn stand Maxim. Die Hitze stieg vom Boden in stickigen Wellen zu mir auf. Sie berührte meine feuchten Hände, kroch mir in den Hals und legte sich auf mein Gesicht.

«Mr. de Winter, Sie haben die Aussage von Mr. Tabb, dem die Pflege des Bootes Ihrer verstorbenen Gattin anvertraut war, gehört. Wissen Sie etwas über diese Löcher in den Planken?»

«Nicht das geringste.»

«Können Sie sich erklären, wo die Löcher herrühren?»

«Nein, natürlich nicht.»

«Und Sie haben jetzt zum erstenmal davon gehört?»

«Ja.»

«Das ist also ein schwerer Schock für Sie?»

«Es war schon ein großer Schock, als ich erfahren mußte, daß ich mich damals bei der Identifizierung geirrt habe; und jetzt muß ich hören, daß meine Frau nicht ertrank, weil das Boot kenterte, sondern weil es angebohrt war, daß es also absichtlich zum Sinken gebracht wurde. Und da fragen Sie noch, ob das ein schwerer Schock für mich ist?»

Nein, Maxim, nein. Nicht so. Du wirst ihn gegen dich aufbringen. Du hast doch gehört, was Frank sagte. Du darfst ihn nicht gegen dich einnehmen. Nicht den Ton, nicht diese zornige Stimme, Maxim. Er wird dich nicht verstehen. Bitte, Liebster, bitte! Lieber Gott, laß ihn nicht in Wut geraten, laß Maxim nicht wütend werden!

«Mr. de Winter, bitte glauben Sie, daß wir alle das tiefste Mitgefühl für Sie haben. Zweifellos hat es Sie sehr hart getroffen, als Sie erfuhren, daß Ihre Frau nicht im offenen Meer, sondern in ihrer Kajüte ertrunken ist. Aber ich führe diese Untersuchung ja in Ihrem eigenen Interesse; ich versuche schließlich nicht zu meinem eigenen Vergnügen, ausfindig zu machen, wie und warum Ihre Gattin den Tod fand.»

«Das ist doch wohl bereits geklärt.»

«Ich hoffe, daß Sie recht haben. Mr. Tabb hat uns soeben erzählt, daß das Boot, in dem der Leichnam der verstorbenen Mrs. de Winter aufgefunden wurde, durch drei gewaltsam verursachte Löcher beschädigt ist. Und daß außerdem die Flutventile offenstanden. Wollen Sie seine Aussage in Zweifel ziehen?»

«Gewiß nicht. Als Bootsbauer weiß er ja, wovon er spricht.»

«Welchem Ihrer Angestellten oblag die Wartung des Bootes?»

«Meine Frau hat alles, was mit dem Boot zu tun hatte, selbst gemacht.»

«Ohne irgendwelche Hilfe?»

«Ja.»

«Das Boot lag im allgemeinen in dem kleinen Privathafen von Manderley?»

«Ja.»

«Ein Fremder, der sich an dem Boot zu schaffen machen wollte, wäre gesehen worden? Führt kein öffentlicher Fußweg zu dem Hafen?»

«Nein, keiner.»

«Der Hafen liegt sehr einsam und ist von Bäumen umgeben, nicht wahr?»

«Ja.»

«Es besteht also die Möglichkeit, daß ein Unbefugter zum Hafen gelangte, ohne gesehen zu werden?»

«Ja.»

«Mr. Tabb hat uns erzählt - und wir dürfen ihm wohl glauben -, daß das Boot sich in dem Zustand, in dem es gefunden wurde, höchstens fünfzehn Minuten über Wasser halten konnte.»

«Jawohl.»

«Deshalb brauchen wir uns von vornherein gar nicht mit der Theorie zu befassen, daß das Boot in böser Absicht beschädigt worden sein könnte, bevor Mrs. de Winter die Segelfahrt antrat. Wäre das der Fall gewesen, müßte es ja bereits an der Boje gesunken sein.»

«Zweifellos.»

«Deshalb müssen wir von der Annahme ausgehen, daß derjenige, der das Boot hinaussegelte, auch die Löcher in die Planken geschlagen und die Hähne aufgedreht hat.»

«Das nehme ich auch an.»

«Laut Ihrer Aussage war die Kajütentür verriegelt; die Bullaugen waren geschlossen, und die Überreste der Leiche lagen auf dem Boden. Dasselbe haben Doktor Phillips und Captain Searle auch gesagt.»

«Ja.»

«Und zu diesen Aussagen kommt jetzt die Aussage von Mr. Tabb, daß die Planken mit einem Brecheisen oder Bootshaken durchbrochen und die Flutventile geöffnet waren. Kommt Ihnen das nicht sehr sonderbar vor?»

«Allerdings.»

«Und Sie können sich das gar nicht erklären?»

«Nein, in keiner Weise.»

«Mr. de Winter, so unangenehm es mir ist, ich muß jetzt eine sehr persönliche Frage an Sie richten.»

«Bitte.»

«War das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrer verstorbenen Frau völlig ungetrübt und glücklich?»

Diese schwarzen Flecke, die vor meinen Augen tanzten und kreuz und quer durch die flimmernde Luft schossen -natürlich mußten sie jetzt kommen, und es war so heiß, so schrecklich heiß, und all die Menschen und die Gesichter um mich herum, und niemand öffnete ein Fenster. Die Tür, die mir so nahe gewesen war, erschien jetzt doch weiter fort, als ich gedacht hatte, und der Boden begann unter meinen Füßen zu schwanken.

Und dann vernahm ich plötzlich Maxims Stimme klar und ruhig aus dem trüben Dunst, der meine Augen verschleierte: «Bitte, helfen Sie meiner Frau hinaus; sie wird ohnmächtig.»

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