Ich bin froh, daß man nicht zweimal davon befallen werden kann, von diesem Fieber der ersten Liebe. Denn ein Fieber ist es und auch eine Last, was immer die Dichter sagen mögen. Sie sind nicht mutig, unsere Lebenstage, wenn wir einundzwanzig sind. Sie sind erfüllt von kleinen Feigheiten, von kleinen grundlosen Ängsten, und man ist so leicht verletzt, so schnell gekränkt, das erste unfreundliche Wort wirft einen um. Der erwachsene Mensch kann mit unbeschwertem Gewissen und heiterer Miene lügen, doch in jenen Tagen verbrannte selbst eine geringfügige Täuschung die Zunge und zündete den Scheiterhaufen im eigenen Innern an.
«Was haben Sie den Morgen über getrieben?» Ich höre sie noch, wie sie da gegen die Kissen lehnte mit der leichten Reizbarkeit eines Patienten, der nicht richtig krank ist und der zu lange im Bett gelegen hat, und ich spüre noch heute, wie das schuldbewußte Erröten meinen Hals fleckig färbte, während ich die Spielkarten aus der Nachttischschublade nahm.
«Ich habe mit dem Trainer Tennis gespielt», sagte ich, und schon als ich sie aussprach, versetzte mich diese Lüge in panischen Schrecken, denn was würde geschehen, wenn der Trainer zufällig am Nachmittag hereinplatzte, um sich bei ihr zu beklagen, daß ich seit mehreren Tagen einfach nicht zu meinen Stunden erschienen war! Tatsächlich hatte ich den Tennisplatz nicht ein einziges Mal betreten, seit-dem sie das Bett hütete, und das tat sie nun schon über zwei Wochen. Ich fragte mich, warum ich ihr gegenüber so zurückhaltend blieb und warum ich ihr eigentlich nicht erzählte, daß ich jeden Morgen mit de Winter spazierenfuhr und auch an seinem Tisch zu Mittag aß.
Ich habe viel von jener Zeit in Monte Carlo vergessen, von jenen morgendlichen Fahrten, wohin wir fuhren und sogar, was wir miteinander sprachen; aber ich habe nicht vergessen, wie meine Finger zitterten, wenn ich mir eilig den Hut aufsetzte, und wie ich den Flur entlang- und die Treppen hinunterlief, zu ungeduldig, um auf den langsam heraufsurrenden Lift zu warten, und dann hinaus, in einem Schwung durch die Drehtür, bevor der Portier mir noch behilflich sein konnte.
Er saß dann schon wartend am Steuer, in einer Zeitung lesend, und wenn er meiner ansichtig wurde, lächelte er, warf sie hinter sich auf den Rücksitz, öffnete die Tür und sagte: «Wie geht es der Vertrauten des Herzens heute morgen, und wohin möchte sie diesmal fahren?» Wenn er unentwegt nur im Kreis gefahren wäre, hätte es mir nichts ausgemacht.
«Es weht ein kalter Wind heute, Sie hängen besser meinen Mantel um.»
Daran erinnere ich mich, denn ich war noch jung genug, um es als Glück zu empfinden, etwas von ihm tragen zu dürfen - wie der kleine Schuljunge, der den Pullover seines Helden halten darf und ihn sich glühend vor Stolz um den Hals schlingt; und dieses Herleihen seines Mantels, selbst wenn ich ihn jedesmal nur ein paar Minuten um meine Schultern trug, war an sich bereits ein Triumph und erfüllte meinen Tag mit einem warmen Glanz.
Das gab es für mich nicht: müdes Schmachten und verstohlene Berechnung, wovon die Romane erzählen; Her-ausforderung und Flucht; gekreuzte Klingen, der schnelle Blick aus dem Augenwinkel, das ermunternde Lächeln. Die Kunst der Koketterie war mir fremd, und ich saß da mit der Autokarte auf dem Schoß, den Wind in meinem mattbraunen strähnigen Haar, glücklich in seinem Schweigen und doch begierig auf ein Wort von ihm. Ob er sprach oder nicht, konnte meiner Stimmung nichts anhaben. Mein einziger Feind war die Uhr am Armaturenbrett, deren Zeiger unerbittlich auf die Mittagsstunde zurückten. Wir fuhren ostwärts, wir fuhren westwärts durch die Unzahl der kleinen Dörfer, die wie Schnecken an der Steilküste des Mittelmeeres kleben - aber heute erinnere ich mich an keines mehr.
Das einzige, dessen ich mich noch entsinne, ist das Gefühl der Ledersitze, das Leinen der Karte auf meinem Knie, ihre ausgefransten Ränder, ihre brüchig gewordenen Faltnähte, und wie ich eines Tages, als ich auf die Uhr sah, bei mir selber dachte: «Dieser Augenblick jetzt, zwanzig Minuten nach elf, darf mir nie wieder verlorengehen», und ich schloß meine Augen, um diese Erfahrung noch eindringlicher zu erleben. Als ich sie wieder öffnete, waren wir bei einer Wegbiegung angelangt, und ein Bauernmädchen in schwarzem Brusttuch winkte uns zu; ich sehe sie noch deutlich vor mir, ihren staubigen Rock, ihr leuchtendes freundliches Lächeln, und in der nächsten Sekunde lag die Biegung hinter uns, und das Mädchen war verschwunden. Schon gehörte sie der Vergangenheit an; sie war nur mehr eine Erinnerung.
«Wenn es doch nur eine Erfindung gäbe», sagte ich unvermittelt, «um eine Erinnerung in einer Flasche zu verschließen wie ein Parfüm. Und sie dürfte niemals alt werden und ihren Duft verlieren. So oft man wollte, könnte man die Flasche entkorken, und es würde genauso sein, als ob man den Augenblick noch einmal durchlebte.» Ich sah zu ihm auf, neugierig, was er wohl dazu sagen mochte. Er wandte sich mir nicht zu, sondern achtete auf den Weg.
«Welche besonderen Augenblicke in Ihrem jungen Leben würden Sie denn gern entkorken wollen?» fragte er. Ich konnte es seiner Stimme nicht anhören, ob er mich neckte oder nicht. «Ich weiß nicht recht», begann ich, und dann platzte ich heraus, ohne auf meine Worte zu achten: «Ich würde gern diesen Augenblick aufbewahren und nie wieder vergessen.»
«Soll dies ein Kompliment für den schönen Tag oder für meine Fahrkunst sein?» sagte er, und als er wie ein gutmütig spottender Bruder lachte, schwieg ich, plötzlich überwältigt von der großen Kluft zwischen uns, die gerade seine Freundlichkeit gegen mich noch verbreiterte.
Ich wußte dann auch, daß ich Mrs. Van Hopper niemals von diesen morgendlichen Ausflügen erzählen könnte, denn ihr Lächeln würde mich ebenso kränken wie sein Lachen. Sie würde nicht schelten und auch nicht schockiert sein, sie würde nur ganz leicht die Augenbrauen heben, als könnte sie meiner Geschichte nicht recht Glauben schenken, und dann würde sie mit einem nachsichtigen Achselzucken sagen: «Mein liebes Kind, es ist außergewöhnlich reizend und nett von ihm, Sie spazierenzufahren; es fragt sich nur - sind Sie so sicher, daß Sie ihn nicht tödlich langweilen?» Und dann würde sie mir auf die Schulter klopfen und mich hinausschicken, um ihr Taxol zu kaufen. Wie entwürdigend es doch ist, jung zu sein, dachte ich und fing an, an meinen Nägeln herumzukauen.
«Ich wünschte», sagte ich heftig, beim Gedanken an sein Lachen immer noch gereizt und alle Zurückhaltung vergessend, «ich wünschte, ich wäre eine Frau von sechsunddreißig in einem schwarzseidenen Kleid und mit einer Perlenkette.»
«Sie würden dann nicht in diesem Wagen sitzen», sagte er, «und hören Sie auf, an den Nägeln zu kauen. Sie sind ohnehin schon häßlich genug.»
«Ich weiß, Sie halten mich für vorlaut und ungezogen», fuhr ich fort, «aber ich möchte doch gern wissen, warum Sie mich immer wieder auffordern, mit Ihnen zu fahren. Sie sind sehr gütig, das ist mir schon klar, aber warum lassen Sie Ihre Wohltätigkeit gerade an mir aus?»
Steif und aufrecht saß ich auf meinem Sitz, mit all der armseligen Großartigkeit der Jugend.
«Ich fordere Sie auf», erwiderte er ernsthaft, «weil Sie kein schwarzseidenes Kleid und keine Perlenkette tragen und weil Sie nicht sechsunddreißig sind.» Sein Gesicht war völlig ausdruckslos; ich wußte nicht, ob er sich innerlich über mich lustig machte oder nicht.
«Es ist ja ganz schön und gut», sagte ich, «daß Sie alles über mich wissen, was es zu wissen gibt. Viel ist es ja nicht, weil ich noch nicht so sehr lange lebe und nur wenig erlebt habe außer ein paar Todesfällen, aber Sie - von Ihnen weiß ich heute nicht mehr als am ersten Tag.»
«Und was wußten Sie damals?» fragte er.
«Daß Sie in Manderley lebten und - und daß Sie Ihre Frau verloren hatten.» Da, ich hatte es endlich ausgesprochen, das Wort, das mir seit Tagen auf der Zunge gelegen hatte. Ihre Frau. Ganz leicht kam es heraus, ohne jedes Zögern, als sei die bloße Erwähnung ihrer Person die selbstverständlichste Sache der Welt. Ihre Frau. Das Wort blieb in der Luft hängen, als ich es ausgesprochen hatte, und tanzte vor meinen Augen; und weil er es schweigend aufnahm, nichts dazu sagte, wuchs es zu etwas Hassens-wertem, Abscheulichem, ein verbotenes Wort. Und ich konnte es nicht zurückrufen, konnte es nie wieder ungesagt machen. Abermals sah ich die Schriftzüge auf der er-sten Seite des Gedichtbändchens und das merkwürdige schräge R. Mir war übel. Er würde mir nie verzeihen; dies war das Ende unserer Freundschaft.
Ich weiß noch, wie ich vor mich hin auf die Windschutzscheibe starrte, ohne die heransausende Landstraße zu sehen, und wie das ausgesprochene Wort in meinen Ohren klang. Das Schweigen wurde zu Minuten, die Minuten wurden Meilen, und ich dachte, jetzt ist alles vorbei. Ich werde nie mehr mit ihm ausfahren. Morgen wird er abreisen. Der Hoteldiener wird seine Koffer heruntertragen; ich werde im Gepäcklift einen kurzen Blick auf sie werfen können, auf ihre neuen Aufklebezettel, das Hin und Her, die Endgültigkeit des Aufbruchs. So tief war ich in mein Bild versunken - ich sah sogar, wie der Hausdiener sein Trinkgeld einsteckte und dem Portier etwas über die Schulter zurief -, daß es mir entging, daß der Wagen langsamer lief, und erst als wir anhielten, fand ich mich in die Gegenwart zurück. Er saß regungslos da, ohne Hut und mit dem weißen Schal um den Hals glich er mehr denn je irgendeinem Menschen aus dem Mittelalter, der in einem Rahmen lebte. Er gehörte nicht in diese helle Landschaft, er hätte auf den Stufen einer strengen Kathedrale stehen müssen, den Umhang zurückgeworfen, während zu seinen Füßen ein Bettler gierig nach goldenen Münzen griff.
Der Freund war verschwunden mit seinem herzlichen kameradschaftlichen Ton, und auch der Bruder, der mich verspottet hatte, weil ich an den Nägeln kaute. Dieser Mann war ein Fremder. Ich überlegte mir, warum ich wohl neben ihm im Wagen saß.
Endlich wandte er sich mir zu und redete. «Sie sprachen vorhin von einer Erfindung», sagte er, «irgendeine Einrichtung, um eine Erinnerung festzuhalten. Sie erzählten mir, Sie würden gern nach Wunsch die Vergangenheit noch einmal durchleben. Ich denke darüber sehr anders als Sie. Jede Erinnerung ist bitter, und ich ziehe es vor, sie hinter mir zu lassen. Voriges Jahr geschah etwas, das mein ganzes Leben änderte, und ich möchte jede Phase meines Daseins bis zu dieser Zeit vergessen. Jene Tage sind abgetan, ausgelöscht. Ich muß ganz von vorn zu leben beginnen. Als wir uns zum erstenmal begegneten, fragte mich Mrs. Van Hopper, warum ich nach Monte Carlo gekommen sei. Ich habe die Erinnerung, die Sie wiedererwecken wollen, fest verkorkt. Es gelingt natürlich nicht immer. Manchmal ist der Duft zu stark, um sich in eine Flasche sperren zu lassen, und zu stark auch für mich. Und dann versucht manchmal der Teufel in einem selbst, wie ein verstohlener Schlüssellochgucker den Korken zu ziehen. Ich tat das auf unserer ersten Ausfahrt. Als wir die Serpentinen hochgeklettert waren und über den Abgrund hinunterschauten. Ich war vor einigen Jahren mit meiner Frau an der gleichen Stelle gewesen. Sie fragten mich, ob es noch dasselbe sei, ob es sich verändert habe. Es war noch so wie damals, nur, wie ich zu meiner Freude feststellen konnte, merkwürdig unpersönlich. Nicht der geringste Anknüpfungspunkt an jene frühere Gelegenheit. Sie und ich, wir hatten keinen Eindruck hinterlassen. Vielleicht kam es daher, weil Sie bei mir waren. Wissen Sie, Sie haben die Vergangenheit in mir viel wirkungsvoller zum Schweigen gebracht als alles Licht von Monte Carlo. Wären Sie nicht gewesen, hätte ich mich längst schon wieder aufgemacht nach Italien und Griechenland und vielleicht noch weiter. Sie haben mir all dieses Umhergereise erspart. Hol der Teufel Ihre altjüngferliche kleine Ansprache! Und zum Teufel mit Ihrem Gefasel von meiner Güte und Wohltätigkeit! Ich bitte Sie, mich zu begleiten, weil ich Sie und Ihre Gesellschaft um mich haben will, und wenn Sie mir das nicht glauben wollen, können Sie meinen Wagen sofort verlassen und sich Ihren Weg allein nach Hause suchen. Machen Sie schon, öffnen Sie die Tür und scheren Sie sich raus!»
Ich saß ganz still, meine Hände im Schoß gefaltet, und wußte nicht, ob er es wirklich so meinte oder nicht.
«Nun», sagte er, «was wollen Sie tun?»
Wäre ich ein oder zwei Jahre jünger gewesen, hätte ich, glaube ich, geweint. Kindertränen haben keinen tiefen Brunnen und quellen leicht über. Aber auch ich fühlte die Tränen hochkommen, und als ich mich plötzlich in dem Rückspiegel an der Windschutzscheibe sah, bot sich mir das traurige Schauspiel meiner selbst mit ratlosen Augen und blutroten Wangen, das lange Haar wirr unter dem breiten Filzhut.
«Ich will nach Hause», sagte ich mit einer Stimme, die bedenklich zitterte, und ohne ein Wort setzte er den Motor in Gang, schaltete und wendete den Wagen in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Schnell legten wir den Weg zurück. Viel zu schnell, dachte ich, viel zu leicht, und die gefühllose Landschaft sah uns gleichgültig zu. Wir kamen zu der Wegbiegung, die ich als Erinnerung hatte einfangen wollen; das Bauernmädchen war nicht da, und die Farben waren stumpf, und es war also doch nichts anderes als irgendeine Kurve an irgendeiner Landstraße, die Hunderte von Autos durchfahren. Beim Gedanken daran bebten meine fest zusammengepreßten Lippen; mein erwachsener Stolz verließ mich, und frohlockend über ihren Sieg stiegen die Tränen in meine Augen und wanderten über meine Wangen.
Ich konnte ihnen nicht Einhalt gebieten, denn sie kamen ungefragt, und hätte ich in der Tasche nach meinem Taschentuch gesucht, hätte er es gesehen. Ich mußte sie regungslos fallen lassen.
Ob er seinen Kopf wandte, um mich anzusehen, weiß ich nicht, denn ich blickte mit starren, verschleierten Augen geradeaus auf den Weg, aber plötzlich streckte er seine Hand aus, nahm meine und küßte sie, ohne ein Wort zu sagen, und dann warf er mir sein Taschentuch auf den Schoß, aber ich schämte mich zu sehr, um es anzurühren.
Ich dachte an alle die Romanheldinnen, die hübsch aussehen, wenn sie weinen, und was für ein Gegensatz dazu ich war mit meinem fleckigen, geschwollenen Gesicht und den rotgeränderten Augen. Mein Vormittag nahm ein klägliches Ende, und der Tag, der sich noch vor mir erstreckte, war lang. Ich mußte mit Mrs. Van Hopper in ihrem Zimmer zu Mittag essen, denn die Pflegerin hatte Ausgang, und danach würde sie mich mit der unermüdlichen Energie von Genesenden zu endlosem Kartenspiel zwingen. Ich wußte, ich würde in dem Zimmer einfach ersticken. Später würden ihre Freunde zu einem Cocktail hereinkommen, den ich mixen mußte; ich hasse diese Pflicht, ich fühlte mich schüchtern und ungemütlich, von ihrem Papageiengeschnatter in eine Ecke gedrängt; und ich würde wieder den Prügelknaben abgeben und für sie erröten, wenn sie sich, angeregt durch ihre kleine Gesellschaft, im Bett aufsetzte und überlaut sprach, übertrieben lachte, nach dem Reisegrammophon griff und eine Platte auflegte und mit ihren schweren Schultern im Takt zuckte. Gereizt und bissig war sie mir lieber, wenn ihr Haar in Lockenwicklern steckte und sie mich schalt, weil ich ihr Taxol vergessen hatte. Das alles erwartete mich in der Hotelsuite, während er, nachdem er mich abgesetzt hatte, allein irgendwohin gehen konnte, zum Meer vielleicht; und es konnte geschehen, daß er sich in Erinnerungen verlor, von denen ich nichts wußte, an denen ich nicht teilhaben durfte.
Die Kluft zwischen uns gähnte weiter denn je, und er stand weit weg von mir auf der anderen Seite und kehrte mir den Rücken. Ich fühlte mich jung und klein und sehr verlassen, und jetzt fand meine Hand trotz meines Stolzes sein Taschentuch in meinem Schoß, und ich schneuzte meine Nase und ließ jeden Gedanken an mein Aussehen fahren. Jetzt war ja doch alles einerlei.
«Zur Hölle mit dem Unsinn!» sagte er plötzlich, wie ärgerlich oder gelangweilt, und er zog mich zu sich heran und legte seinen Arm um meine Schulter, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Ich erinnere mich, daß er sogar noch schneller fuhr. «Sie sind jung genug, um meine Tochter zu sein, und ich weiß nicht, wie ich mit Ihnen fertig werden soll. Sie können alles vergessen, was ich Ihnen heute sagte. Daran wollen wir nicht mehr denken. In der Familie werde ich immer Maxim genannt, und ich möchte gern, daß Sie mich auch so nennen. Ihre Förmlichkeit hat jetzt lange genug gedauert.» Er tastete nach dem Rand meines Hutes, ergriff ihn und warf ihn über seine Schultern auf den Rücksitz, dann beugte er sich zu mir und küßte mich auf das Haar. «Versprich mir, daß du niemals schwarze Seide tragen wirst», sagte er. Ich lächelte, und er lachte mich an, und der Morgen war wieder heiter, der Morgen strahlte und glänzte. Er hatte unsere Bekanntschaft auf eine neue Ebene gehoben; ich stand nicht so weit unter ihm, wie ich gedacht hatte. Geküßt hatte er mich auch, und es war ganz selbstverständlich gewesen, so beruhigend und tröstend, gar nicht dramatisch wie in Büchern oder peinlich. Es brachte eine neue Leichtigkeit in unser Verhältnis, es machte alles viel einfacher; die Kluft zwischen uns war doch überbrückt worden. Ich sollte ihn Maxim nennen. Und an diesem Nachmittag war das Kartenspiel mit Mrs. Van Hopper nicht so tödlich langweilig, wie es hätte sein können, wenn mich mein Mut auch verließ und ich ihr nichts von meinem Vormittag sagte, wie ich es mir, als ich mit meinem neuen Selbstbewußtsein das Hotel betrat, eigentlich vorgenommen hatte. Denn als sie endlich die Karten zusammenlegte und nach dem Käst-chen griff, bemerkte sie beiläufig: «Sagen Sie, ist Max de Winter noch im Hotel?» Ich zögerte einen Augenblick wie ein Schwimmer vor dem Sprung, verlor dann aber meine Sicherheit und einstudierte Überlegenheit und erwiderte: «Ja, ich glaube doch - jedenfalls erscheint er zu den Mahlzeiten immer noch im Speisesaal.»
Irgend jemand hat es ihr gesagt, dachte ich, irgend jemand hat uns zusammen gesehen; der Tennistrainer hat sich beschwert; der Geschäftsführer hat ihr etwas geschrieben, und ich erwartete ihren Angriff. Sie fuhr jedoch fort, die Karten in das Kästchen einzuordnen, gähnte ein wenig, während ich ihr zerwühltes Bett glattstrich. Ich reichte ihr die Puderdose, das Rouge und den Lippenstift, und sie stellte das Kartenkästchen beiseite und nahm den Handspiegel vom Nachttisch. «Gutaussehender Kerl», sagte sie, «aber launisch, möchte ich annehmen. Schwer, aus ihm klug zu werden. Ich finde ja, er hätte damals in der Halle wenigstens so tun können, als ob er mich nach Manderley einladen wollte, aber er war verschlossen wie eine Auster.»
Ich sagte nichts. Ich sah zu, wie sie den Lippenstift nahm und einen Bogen über ihren harten Mund malte. «Ich habe sie nie gesehen», sagte sie, während sie die Wirkung im Spiegel begutachtete, «aber ich glaube, sie muß einen ungewöhnlichen Liebreiz besessen haben. Sehr elegant und in jeder Hinsicht eine blendende Erscheinung. Sie pflegten phantastische Gesellschaften auf Manderley zu geben. Das Ende kam dann sehr plötzlich und tragisch, und ich glaube, er betete sie an. Ich brauche zu diesem leuchtenden Rot den dunkleren Puder, meine Liebe. Wollen Sie ihn mir bitte holen.»
Und wir beschäftigten uns dann mit Puder, Parfüm und Rouge, bis es klingelte und ihre Besucher kamen. Ich reichte die Cocktails herum, mechanisch, ohne viel zu sa-gen; ich wechselte die Platten auf dem Grammophon, ich leerte die Aschenbecher. Ich war gar nicht da, ich spürte in meinen Gedanken einem Phantom nach, dessen Schattengestalt endlich Form angenommen hatte. Die Züge waren verschwommen, die Farben unscharf, die Stellung der Augen und die Beschaffenheit des Haares noch nicht zu erkennen.
Diese Schattengestalt besaß eine Schönheit, die nicht verging, und ein Lächeln, das nicht vergessen war. Irgendwo weilte der Klang ihrer Stimme noch, die Erinnerung an ihre Worte. Es gab Plätze, die sie besucht, und Dinge, die sie berührt hatte. In meinem Schlafzimmer, unter meinem Kopfkissen, lag das Buch, das sie in der Hand gehalten hatte, und ich konnte sie sehen, wie sie jene erste leere Seite aufschlug und lächelte, als sie schrieb und die gespaltene Feder schüttelte. Max von Rebecca. Es mußte sein Geburtstag gewesen sein, und sie hatte das Buch mit ihren anderen Geschenken auf den Frühstückstisch gelegt. Und sie hatten zusammen gelacht, als er das Papier und die Schnur entfernte. Vielleicht beugte sie sich über seine Schulter, während er las. Max. Sie nannte ihn Max. Das war vertraut, heiter und ging leicht über die Lippen. Die Familie konnte ihn Maxim nennen, wenn sie dazu Lust hatte. Großmütter und Tanten; und Menschen wie ich: still und langweilig und jung, die keine Rolle spielten. Sie hatte sich für Max entschieden, das Wort war ihr Besitz, sie hatte es mit solcher Selbstverständlichkeit auf die erste Seite geschrieben in jener kühnen, schrägen Schrift, die das unberührte weiße Papier verletzte: ein Sinnbild ihrer selbst, so sicher, so zuversichtlich.
Wie oft mußte sie so an ihn geschrieben haben, in wie vielen verschiedenen Stimmungen!
Kleine Mitteilungen, auf Zettel gekritzelt, und Briefe, wenn er verreist war. Seite auf Seite, zärtlich intim, ihre Gemeinsamkeiten. Und ihre Stimme und ihr Echo in Haus und Garten, unbeschwert und vertraut wie die Schriftzüge in dem Buch. Und ich mußte ihn Maxim nennen.