4

Am Morgen danach wachte Mrs. Van Hopper mit schmerzendem Hals und fieberheißer Stirn auf. Ich rief ihren Arzt an, der sofort ins Hotel geeilt kam und die übliche Grippe feststellte. «Sie müssen im Bett bleiben, bis ich Ihnen erlaube, wieder aufzustehen», verordnete er. «Ihr Herz will mir gar nicht recht gefallen, und das wird auch nicht besser werden, wenn Sie sich nicht völlig ruhig halten. Mir wäre es lieber», fuhr er zu mir gewandt fort, «wenn Mrs. Van Hopper eine ausgebildete Pflegerin nähme. Die Arbeit wird für Sie viel zu schwer sein. Es ist ja nur für etwa vierzehn Tage.»

Ich fand das eigentlich unnötig und sagte es auch, aber zu meinem Erstaunen stimmte sie ihm bei. Ich glaube, sie freute sich schon über das Aufsehen, das es erregen würde, über das Mitgefühl ihrer Bekannten und die Krankenbesuche ihrer Freunde und deren Nachfragen und Blumengeschenke.

Die Pflegerin sollte ihr Medikamente geben und sie etwas massieren, auch mußte sie Diät halten. Als ich sie nach dem Eintreffen der Pflegerin verließ, saß sie in aufgeräumtester Stimmung gegen einen Kissenberg gelehnt, ihr bestes Bettjäckchen um die Schultern, ein bebändertes Frisierhäubchen auf dem Kopf und mit einer schon fast normalen Temperatur. Etwas beschämt über die Erleichterung, die ich empfand, telephonierte ich ihren Freunden und sagte die kleine Einladung ab, zu der sie sie für diesen Abend eingeladen hatte, und dann ging ich eine gute halbe Stunde früher als gewöhnlich zum Mittagessen hinunter. Ich erwartete, den Speisesaal leer zu finden, denn im allgemeinen fand sich niemand vor ein Uhr zum Essen ein. Er war auch leer, nur der Tisch neben dem unseren war besetzt. Mit dieser Möglichkeit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte angenommen, er sei nach Sospel gefahren. Zweifellos aß er so früh, weil er hoffte, uns dann um ein Uhr entgehen zu können. Ich befand mich schon mitten im Saal und konnte nicht mehr zurück. Ich war dieser Situation nur schlecht gewachsen und hätte viel darum gegeben, älter, anders zu sein. Ich ging starr vor mich hinblickend zu unserem Tisch, und gleich darauf zahlte ich schon den Zoll für meine Ungeschicklichkeit, indem ich die Vase mit den langstieligen Anemonen umwarf, als ich meine Serviette entfaltete. Das Wasser durchtränkte das Tischtuch und lief mir auf den Schoß. Der Kellner befand sich am entgegengesetzten Ende des Saales und hatte nichts bemerkt. In der nächsten Sekunde jedoch stand mein Nachbar mit einer trockenen Serviette an meiner Seite.

«Sie können nicht vor einem nassen Tischtuch sitzen», sagte er fast barsch, «es würde Ihnen den Appetit verderben. Machen Sie Platz.»

Er fing an, das Tischtuch abzutupfen, und jetzt bemerkte auch der Kellner, daß etwas los war, und kam hilfsbereit herbeigeeilt.

«Es macht mir gar nichts aus», sagte ich, «es tut wirklich nichts. Ich bin ganz allein.»

Er erwiderte nichts, und dann war der Kellner bereits angelangt und zauberte die Vase und die verstreuten Blumen hinweg.

«Lassen Sie», sagte Mr. de Winter plötzlich, «legen Sie noch ein Gedeck an meinem Tisch auf. Mademoiselle wird mit mir speisen.»

Ich sah in tiefster Verwirrung zu ihm auf. «Nein, nein», sagte ich, «das kann ich unmöglich.»

«Warum nicht?» fragte er.

Ich versuchte eine Ausrede zu finden. Ich wußte, er konnte keine Lust dazu haben, mit mir zu essen. Er forderte mich nur aus Höflichkeit auf. Seine einsame Mahlzeit würde durch mich gestört werden. Ich war fest entschlossen zu sagen, was ich dachte.

«Bitte seien Sie nicht höflich», bat ich. «Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber es ist ja gar nicht so schlimm, wenn der Kellner nur das Tischtuch etwas abtrocknet.»

«Aber ich bin ja gar nicht höflich», widersprach er. «Ich möchte wirklich gern mit Ihnen essen. Selbst wenn Sie nicht die Vase so tolpatschig umgestoßen hätten, hätte ich Sie darum gebeten.» Ich vermute, daß er den Zweifel in meinem Gesicht las, denn er lächelte. «Sie glauben mir nicht», sagte er, «aber egal, kommen Sie und setzen Sie sich. Wir brauchen ja nicht miteinander zu reden, wenn wir uns nicht dazu aufgelegt fühlen.»

Wir setzten uns, er reichte mir die Speisekarte, überließ mich ihrem Studium und beschäftigte sich weiter mit seinem Horsd'reuvre, als wenn nichts geschehen wäre.

Seine Fähigkeit, sich nach außen abzuschließen, war eine Besonderheit von ihm, und ich wußte, daß er nichts Ungewöhnliches darin sehen würde, wenn wir die Mahlzeit schweigend beendeten. Ich würde mich ganz ungehemmt fühlen können. Er würde mich nicht nach meinen Geschichtskenntnissen fragen.

«Wo ist denn Ihre Freundin?» fragte er. Ich erzählte ihm, daß sie Grippe hätte. «Das tut mir leid», sagte er, und dann nach einer kleinen Pause:

«Sie haben doch meine Zeilen erhalten? Ich habe mich über mich selbst geschämt. Mein Verhalten war unver-zeihlich. Ich bin wohl etwas verbauert durch mein langes Alleinsein, das ist meine einzige Entschuldigung. Deshalb finde ich es so nett von Ihnen, daß Sie trotzdem heute mit mir essen.»

«Sie waren gar nicht unhöflich», sagte ich, «oder wenigstens war es keine Unhöflichkeit, die sie verstanden hätte. Diese Neugier - sie meint gar nichts Böses damit, aber sie ist zu jedem so. Das heißt, zu jedem, der etwas darstellt.»

«Ich müßte mich also eigentlich sehr geschmeichelt fühlen», meinte er. «Aber aus welchem Grund glaubt sie, daß ich etwas darstelle?»

Ich zögerte einen Augenblick mit meiner Antwort.

«Wegen Manderley, glaube ich», sagte ich dann.

Er antwortete nicht, und ich empfand wieder jenes ungemütliche Gefühl, einen verbotenen Weg betreten zu haben. Ich überlegte, wie es wohl komme, daß jede Erwähnung seines Besitztums, das so viele Leute, sogar ich, dem Hörensagen nach kannten, ihn sofort zum Schweigen brachte und gleichsam eine Mauer zwischen ihm und anderen Menschen aufrichtete.

Wir aßen eine Weile, ohne zu sprechen, und ich erinnerte mich an eine Ansichtskarte, die ich einmal als Kind während eines Ferienaufenthaltes in Westengland beim Dorfkrämer gekauft hatte. Sie zeigte das Bild eines Hauses, natürlich nicht sehr künstlerisch und übertrieben bunt, aber selbst diese Mängel vermochten nicht, das Ebenmaß des Gebäudes zu zerstören, noch die Schönheit der breiten Freitreppe zu der Terrasse und der grünen Rasenflächen, die sich bis zum Meer hinstreckten. Ich zahlte zwei Pennies für die bunte Karte - die Hälfte meines wöchentlichen Taschengeldes - und fragte dann die runzlige Krämersfrau, was das Bild darstelle. Sie sah mich erstaunt über meine Unwissenheit an.

«Das ist Manderley», sagte sie, und ich weiß noch, wie ich den Laden verließ mit dem Gefühl, etwas Dummes gefragt zu haben, aber ohne klüger geworden zu sein als zuvor.

«Ihre Freundin -» fing er plötzlich wieder an, «ist doch sehr viel älter als Sie. Sind Sie miteinander verwandt? Kennen Sie sie schon sehr lange?» Offensichtlich zerbrach er sich noch den Kopf über uns.

«Eine Freundin ist sie eigentlich nicht», erklärte ich ihm, «ich bin nur ihre Angestellte. Ich soll unter ihrer Anleitung etwas werden, was man Gesellschafterin nennt; dafür zahlt sie mir neunzig Pfund im Jahr.»

«Ich wußte nicht, daß man sich Gesellschaft kaufen kann», sagte er. «Die Idee klingt mir recht primitiv, so nach orientalischem Sklavenmarkt.»

«Ich habe einmal nachgesehen, was im Konversationslexikon unter Gesellschafterin) steht», mußte ich zugeben, «und da stand:

«Sie haben nicht viel mit ihr gemeinsam», sagte er. Er lachte und sah plötzlich ganz anders aus, irgendwie jünger und weniger unnahbar. «Warum tun Sie das bloß?» fragte er mich.

«Neunzig Pfund sind eine Menge Geld für mich.»

«Haben Sie denn keine Verwandten?»

«Nein - sie sind alle gestorben.»

«Sie haben einen wunderschönen und sehr ungewöhnlichen Namen.»

«Mein Vater war ein wundervoller und sehr ungewöhnlicher Mensch.»

«Erzählen Sie mir von ihm.»

Ich blickte ihn über mein Glas Zitronenlimonade hinweg an. Es war nicht leicht, meinen Vater zu schildern, und im allgemeinen sprach ich nicht über ihn. Er war mein geheimer Besitz, er gehörte mir allein, so wie Manderley meinem Gegenüber gehörte. Da saß ich, so sehr noch das Schulmädchen, das noch am Tag zuvor steif, schweigend und verschüchtert neben Mrs. Van Hopper gesessen hatte, und jetzt, nur vierundzwanzig Stunden später, gehörte mir das Geheimnis meiner Familie nicht mehr; ich teilte es mit einem Mann, den ich nicht kannte. Irgendwie fühlte ich mich gezwungen, zu reden, weil seine Augen mich voller Verständnis ansahen. Meine Scheu fiel von mir ab und löste mir dabei die widerstrebende Zunge, und heraus stürzten sie alle, die kleinen Geheimnisse der Kindheit, ihre Freuden und Leiden. Ich hatte das Empfinden, als erfasse er nach meiner unzureichenden Schilderung etwas von der vitalen Persönlichkeit meines Vaters und auch etwas von dem Wesen meiner Mutter, deren Liebe zu ihm sie wie eine lebendige, lebenspendende Kraft erfüllte, so sehr, daß sie sich nur noch fünf Wochen hinschleppte und ihm dann folgte, nachdem er in jenem eisigen Winter von einer Lungenentzündung dahingerafft worden war. Ich entsinne mich, daß ich ein wenig atemlos, ein wenig verwirrt innehielt. Der Speisesaal war allmählich voll geworden; die Gäste unterhielten sich und lachten, ein diskretes Orchester spielte, Teller klapperten, und als ich auf die Uhr über der Tür blickte, sah ich, daß es zwei war. Anderthalb Stunden hatten wir da gesessen, und ich hatte die Unterhaltung fast allein bestritten.

Das brachte mich wieder in die Gegenwart zurück, und verlegen, mit heißen Händen und glühenden Wangen, begann ich Entschuldigungen zu stammeln. Er aber wollte nichts davon hören.

«Ich sagte Ihnen schon zu Anfang, daß Ihr Name wunderschön und ungewöhnlich ist», sagte er, «und wenn Sie mir verzeihen, will ich jetzt noch weitergehen und Ihnen sagen, daß er ebensogut zu Ihnen paßt wie zu Ihrem Vater. Ich habe diese Stunde mit Ihnen mehr genossen als irgend etwas seit einer sehr langen Zeit. Sie haben mich von mir selber befreit, von meiner Schwermut und Grübelei, die mich ein ganzes Jahr lang begleiteten.»

Ich sah ihn an und glaubte ihm, denn er schien mir jetzt weniger gehemmt als vorher, mehr gegenwartsnah, menschlicher und nicht mehr von einem Schatten verdüstert.

«Wissen Sie», sagte er dann, «wir beide haben etwas gemeinsam, Sie und ich. Wir stehen beide allein in der Welt. O ja, gewiß, ich habe eine Schwester, die ich aber nicht viel sehe, und eine uralte Großmutter, der ich dreimal im Jahr einen Pflichtbesuch abstatte, aber man kann weder die eine noch die andere als angenehme Gesellschaft bezeichnen. Ich werde Mrs. Van Hopper beglückwünschen müssen; die neunzig Pfund im Jahr sind nicht zu viel für Sie.»

«Sie dürfen nicht vergessen», sagte ich, «Sie haben ein Heim und ich nicht.»

Im selben Augenblick bereute ich schon, diese Worte ausgesprochen zu haben, denn der verschlossene, undeutbare Ausdruck trat wieder in seine Augen. Er senkte den Kopf, um sich eine Zigarette anzuzünden, und antwortete nicht gleich.

«Ein leeres Haus kann so einsam sein wie ein überfülltes Hotel», sagte er endlich. «Das Schlimme ist nur, daß es nicht so unpersönlich ist.» Er zögerte, und ich dachte schon, er würde nun doch anfangen, von Manderley zu sprechen; aber irgend etwas hielt ihn davon ab, irgendeine Angst, die sich in seinen Gedanken nach oben drängte und alles andere unterdrückte, denn mit dem Streichholz blies er gleichzeitig den Funken seiner neuen Aufgeschlossenheit aus.

«Die Vertraute des Herzens hat also einen freien Tag?» bemerkte er, wieder auf einer sachlichen Ebene, in einem ungezwungenen Ton von Kameradschaftlichkeit. «Was gedenkt sie damit anzufangen?»

Ich dachte an den holprigen Marktplatz in Monaco und an das Haus mit dem schmalen Fenster. Gegen drei konnte ich mit Skizzenblock und Zeichenstift dort sein, und ich sagte ihm das, ein wenig unsicher wohl, wie alle untalentierten Menschen, die einer hoffnungslosen Liebe frönen.

«Ich werde Sie im Wagen hinfahren», sagte er und achtete nicht auf meine Einwände.

Mrs. Van Hoppers Vorwurf, mich aufgedrängt zu haben, fiel mir wieder ein, und mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken, er könne womöglich mein Gerede von Monaco für einen Vorwand halten, eine Spazierfahrt zu erlisten. Es wäre typisch für sie gewesen, so etwas zu tun, und ich wollte um keinen Preis, daß er uns beide über einen Kamm scherte. Mein Zusammensein mit ihm hatte mir bereits erhöhtes Ansehen verliehen, denn als wir uns erhoben, stürzte der kleine Geschäftsführer herbei, um meinen Stuhl beiseite zu schieben. Er verbeugte sich lächelnd -völlig abweichend von seiner bisherigen gleichgültigen Haltung mir gegenüber -, hob mein Taschentuch, das zu Boden gefallen war, auf und hoffte, Mademoiselle sei mit dem Essen zufrieden gewesen. Selbst der Page an der Drehtür sah mich respektvoll an. Mein Begleiter hielt das natürlich für selbstverständlich; er ahnte ja nichts von dem schlecht aufgeschnittenen Schinken von gestern. Diese Veränderung bedrückte mich; sie ließ mich für mich selbst Verachtung empfinden. Ich dachte an meinen Vater und wie sehr er jeden Snobismus verurteilt hatte.

«Woran denken Sie?» Wir gingen zum Gesellschaftszimmer, und als ich aufblickte, fand ich seine Augen forschend auf mich gerichtet.

«Ärgern Sie sich über etwas?» fragte er.

Die Aufmerksamkeit des Geschäftsführers hatte meine Gedanken in eine bestimmte Bahn gelenkt, und als wir unseren Kaffee tranken, erzählte ich ihm von Madame Blaize, der Schneiderin. Sie hatte sich so darüber gefreut, daß Mrs. Van Hopper drei Kleider bestellte, und als ich sie nachher zum Fahrstuhl brachte, hatte ich mir vorgestellt, wie sie in der engen Wohnstube hinter dem stickigen kleinen Ladenraum daran nähte, während ein schwindsüchtiger Sohn sich untätig auf dem Sofa räkelte. Ich sah sie vor mir; mit müden Augen fädelte sie die Nadel ein, und der ganze Fußboden war mit Stoffschnipseln bedeckt.

«Und?» fragte er lächelnd, «Ihr Bild stimmte nicht?»

«Ich weiß es nicht», sagte ich, «ich habe es nie feststellen können.» Und ich erzählte ihm, wie ich nach dem Fahrstuhl klingelte und sie plötzlich anfing, in ihrer Handtasche zu wühlen, und mir einen Hundertfrancschein reichte. «Hier», flüsterte sie in einem unangenehm-vertraulichen Ton, «ich möchte mich hiermit gern ein wenig dafür erkenntlich zeigen, daß Sie mich Ihrer Dame empfohlen haben.» Als ich mich, feuerrot vor Verlegenheit, weigerte, das Geld anzunehmen, zuckte sie unfreundlich die Schultern. «Wie Sie wünschen», sagte sie, «aber ich versichere Ihnen, daß das durchaus üblich ist. Vielleicht würden Sie auch lieber ein Kleid haben; kommen Sie doch gelegentlich ohne Madame in meinen Laden, und ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, ohne daß es Sie einen Sou kosten soll.» Irgendwie -ich weiß nicht, warum - empfand ich bei ihren Worten dasselbe Übelkeitsgefühl, das ich als Kind beim Blättern in einem verbotenen Buch hatte.

Ich erwartete halb und halb, daß er mich auslachen würde; die Geschichte war so albern, ich wußte gar nicht, warum ich sie ihm eigentlich erzählt hatte; aber er blickte mich nachdenklich an, während er in seinem Kaffee rührte.

«Ich glaube, Sie haben einen großen Fehler begangen», sagte er nach einer Weile.

«Weil ich die hundert Francs ausschlug?» fragte ich entsetzt.

«Nein - um Himmels willen, wofür halten Sie mich denn? Ich finde, daß es ein Fehler war, mit Mrs. Van Hopper herzukommen. Sie sind nicht für eine solche Stellung geschaffen. Zunächst sind Sie viel zu jung dafür und auch nicht hart genug. Die Blaize mit ihren hundert Francs ist noch gar nichts, das war nur die erste von noch vielen ähnlichen Erfahrungen mit anderen Blaizes. Sie werden entweder nachgeben müssen und selbst eine Art Blaize werden oder so bleiben, wie Sie sind, und zugrunde gehen. Wer hat Sie auf den Gedanken gebracht, sich auf einen solchen Beruf einzulassen?» Es schien ganz natürlich, daß er mich ausfragte, und ich fand nichts dabei. Mir war, als kannten wir uns schon lange Zeit und seien uns jetzt nach vielen Jahren wieder begegnet.

«Haben Sie jemals über Ihre Zukunft nachgedacht?» fragte er, «und wohin das mit diesem Beruf führen wird? Angenommen, Mrs. Van Hopper wird der

Ich lächelte und sagte, daß ich mir nicht viel daraus machen würde. Es gab ja genug andere Mrs. Van Hoppers, und ich war jung und selbstsicher und kräftig. Aber während ich noch sprach, fielen mir jene Anzeigen in den besseren Zeitschriften ein, durch die irgendein menschenfreundlicher Verein um Unterstützung für junge Damen in verarmten Verhältnissen bat; und ich dachte an diesen bestimmten Typ von Familienpensionen, der auf derartige Anzeigen antwortet und vorübergehende Unterkunft gewährt, und dann sah ich mich selbst mit meinem unbrauchbaren Skizzenblock in der Hand stotternd auf die Fragen von unliebenswürdigen Stellenvermittlern antwor-ten. Vielleicht hätte ich Blaizes zehn Prozent doch annehmen sollen.

«Wie alt sind Sie?» erkundigte er sich, und als ich es ihm sagte, lachte er und erhob sich. «Das Alter kenne ich; es pflegt besonders halsstarrig zu sein, und Sie werden sich die Zukunft durch noch so viele Schreckgespenster nicht verleiden lassen. Schade, daß wir nicht miteinander tauschen können. Laufen Sie nach oben und setzen Sie Ihren Hut auf, ich werde inzwischen meinen Wagen holen.»

Als er mir mit den Augen bis zum Lift folgte, dachte ich an gestern, an Mrs. Van Hoppers eilfertiges Geschwätz und seine eisige Höflichkeit. Ich hatte ihn falsch beurteilt: er war weder hart noch ironisch, er war bereits mein jahrelanger Freund, der Bruder, den ich nie besessen hatte. An jenem Nachmittag war ich in einer glücklichen Stimmung. Sie ist mir noch deutlich gegenwärtig. Ich sehe noch die flockigen Wölkchen am Himmel und die Schaumkronen auf dem Meer; Monte Carlo wurde von einem Glanz erhellt, den ich vorher nicht wahrgenommen hatte; meine Augen mußten bis jetzt verschleiert gewesen sein. Der Hafen war ein tanzendes Etwas mit schaukelnden Papierschiffchen, und die Matrosen am Kai waren gutmütige, lächelnde Burschen, so ausgelassen wie der Wind. Wir fuhren an der Jacht vorbei, die Mrs. Van Hopper so sehr bewunderte, weil sie einem Herzog gehörte, und mit einer verächtlichen Handbewegung taten wir das blitzende Messing ab und sahen einander an und lachten wieder. Ich erinnere mich noch deutlich an mein schlecht sitzendes, aber bequemes Flanellkostüm, dessen Rock durch das häufigere Tragen dünner war als die Jacke; an meinen alten Hut mit seiner zu breiten Krempe und an meine Schuhe mit den niedrigen Absätzen und dem einfachen Spangenverschluß. Meine nicht ganz saubere Hand umklammerte ein Paar Stulpenhandschuhe. Nie hatte ich jünger ausgesehen, und niemals hatte ich mich älter gefühlt. Mrs. Van Hopper mit ihrer Grippe existierte nicht mehr für mich. Cocktailgesellschaften und Bridgeabende waren vergessen und mit ihnen die Belanglosigkeit meiner Person.

Jenes von Schüchternheit gepeinigte Mädchen war ein armseliges Geschöpf, und' ich dachte voller Geringschätzung an sie zurück, falls ich mich überhaupt noch mit ihr abgab.

Es war zu stürmisch, um zu zeichnen, übermütige Windstöße jagten sich um die Ecken meines alten Marktplatzes, und so besannen wir uns nicht lange, stiegen wieder in den Wagen und fuhren - ich weiß nicht wohin. Die Landstraße erklomm unermüdlich die bergigen Hügel, und das Auto kletterte ihr nach, und wir kreisten in die Höhe wie auf Vogelschwingen mit einer gefährlichen Geschwindigkeit, und ich freute mich über die Gefahr, weil das etwas Neues für mich war, weil ich jung war.

Ich lachte laut auf, und der Wind entführte das Lachen; aber als ich meinen Gefährten ansah, bemerkte ich, daß er nicht mehr lachte; schweigend und verschlossen saß er da, wieder der Mensch vom gestrigen Nachmittag, unnahbar in sein geheimnisvolles Ich gehüllt.

Ich sah auch, daß der Wagen jetzt nicht höher steigen konnte. Wir hatten den Gipfel erreicht, und unter uns wand sich schwindelerregend steil das Band der Straße, die wir gekommen waren. Er hielt an, und ich merkte, daß der Weg unmittelbar an einer senkrechten Felswand entlanglief, die in das gähnende Nichts wohl zweitausend Fuß hinabstürzte. Wir stiegen aus und blickten in den Abgrund. Das ernüchterte mich endlich. Ich wußte jetzt, daß kaum eine halbe Wagenlänge zwischen uns und dem Absturz gelegen hatte. Das Meer erstreckte sich wie eine riesige zerknitterte Landkarte bis zum Horizont und brandete gegen die scharf ausgezackte Küste. Uns traf ein anderes Son-nenlicht, und die Stille ringsum ließ es noch härter und strenger erscheinen. Unser Nachmittag hatte sich gewandelt, er glich nicht mehr dem zarten Gespinst von vorhin. Der Wind hatte sich gelegt, und es wurde plötzlich kalt.

Als ich dann das Schweigen brach, klang meine Stimme viel zu gleichgültig. Es war die törichte, nervöse Stimme eines Menschen, der sich unbehaglich fühlt. «Kannten Sie diese Stelle bereits?» fragte ich. «Waren Sie schon einmal hier?» Er sah auf mich nieder, als erkenne er mich gar nicht, und es wurde mir mit einem schmerzlichen Stich klar, daß er mich offenbar völlig vergessen hatte, vielleicht schon seit einiger Zeit, und daß er sich in dem Labyrinth seiner quälenden Gedanken so sehr verloren haben mußte, daß ich für ihn nicht mehr existierte. Sein Gesicht war das eines Schlafwandlers, und einen schrecklichen Augenblick lang schoß es mir durch den Kopf, er sei vielleicht nicht ganz normal, nicht ganz zurechnungsfähig. Es gab doch Menschen, die solche Zustände bekamen, ich hatte davon gehört, sie folgten seltsamen Gesetzen. Vielleicht war er einer von diesen, und hier standen wir, nur sechs Fuß breit vom sicheren Tod entfernt.

«Es wird spät, wollen wir zurückfahren?» sagte ich, und meine Gelassenheit, mein unsicheres kleines Lächeln hätten nicht einmal ein Kind getäuscht.

Meine Phantasie hatte mich natürlich in die Irre geleitet. Er litt durchaus nicht an Zuständen, denn als ich ihn zum zweitenmal ansprach, tauchte er ganz wach aus seiner Versunkenheit auf und begann sich zu entschuldigen. Ich glaube, ich war ganz bleich geworden, und er bemerkte es.

«Das war unverzeihlich von mir», sagte er, ergriff meinen Arm und führte mich zum Wagen zurück; wir stiegen wieder ein, und er schlug die Tür zu. «Haben Sie keine Angst, das Wenden ist hier viel leichter, als es aussieht», sagte er, und während ich mich in einer Anwandlung von Schwindel und Übelkeit mit beiden Händen an den Sitz klammerte, setzte er den Wagen behutsam, sehr behutsam, vor und zurück, bis die Straße wieder vor uns lag.

«Dann waren Sie also schon einmal hier?» fragte ich, als der Wagen den schmalen Weg hinunterfuhr und mein Angstgefühl sich löste.

«Ja», sagte er, und dann nach einer kleinen Pause: «Aber es ist mehrere Jahre her. Ich wollte sehen, ob es sich verändert hat.»

«Und hat es das?» fragte ich ihn.

«Nein», entgegnete er, «nein, es hat sich nicht verändert.»

Ich fragte mich, was ihn wohl zu dieser Flucht in die Vergangenheit getrieben haben mochte, weshalb er mich zum ahnungslosen Zeugen seiner Stimmung werden ließ. Welche Kluft von Jahren mochte zwischen ihm und jenem letzten Ausflug hierher liegen, was für Handlungen, was für Gedanken und welche Veränderungen in ihm selbst? Ich wollte es nicht wissen. Ich wünschte, ich wäre nicht mit ihm gefahren.

So rollten wir ohne anzuhalten, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, zu Tal; eine dichte Wolkenbank zog sich über die untergehende Sonne, und die Luft war kalt und klar. Plötzlich fing er an, von Manderley zu sprechen. Er sagte nichts von seinem Leben dort, nichts über sich selber, aber er erzählte mir, wie die Sonne an einem Frühlingstag in Manderley untergeht und die ganze Landzunge dann rosig erglüht. Das Meer, noch kalt vom langen Winter, sehe wie Schiefer aus, und von der Terrasse könne man beim Einsetzen der Flut den Wellenschlag in der kleinen Bucht hören. Die Narzissen stünden in voller Blüte und wiegten ihre goldenen Köpfe auf den schlanken Stengeln im Abendwind. Auf den abschüssigen Rasenflä-chen sproßten Krokusse, gelbe, rötliche und violette, aber zu dieser Zeit begännen sie schon zu welken und zu verblühen, wie auch die blassen Schneeglöckchen. Die Primel gedeihe wie Unkraut an jedem Fleck. Für die Glockenblume sei es noch zu früh im Jahr, sie verstecke sich noch unter dem vorjährigen Laub, aber wenn sie dann zum Vorschein komme, überstrahle sie das zarte Veilchen, selbst das Farnkraut im Wald müsse ihr weichen, und ihr leuchtendes Blau fordere geradezu den Himmel heraus.

Er habe sie niemals im Haus gewollt, sagte er. In Vasen büßten sie rasch ihre stolze Haltung ein, und wollte man sie in ihrer ganzen Pracht sehen, müsse man gegen Mittag, wenn die Sonne im Zenit stehe, durch den Wald gehen. Überhaupt kämen wilde Blumen in Manderley nie ins Haus. Er ziehe sich Blumen für diesen Zweck in dem umfriedeten Garten. Die Rose sei eine der wenigen Blumen, meinte er, die besser gepflückt aussehe als am Strauch. Rosen in einer Schale im Wohnzimmer besäßen einen Reichtum an Farbe und Duft, den sie im Freien niemals hätten. Es sei etwas Unfeines an Rosen in voller Blüte, etwas Oberflächliches und Grobes, wie an ungepflegten Frauen. Im Zimmer dagegen würden sie zu tiefgründigen, mysteriösen Wesen. Acht Monate im Jahr habe er auf Manderley Rosen im Haus. Ob ich Flieder liebte, fragte er mich. Am Rande des Rasens stehe ein Fliederbaum, dessen Duft bis in sein Schlafzimmer dringe. Seine Schwester, ein nüchterner, praktischer Mensch, beklage sich darüber, daß es zu viel Gerüche auf Manderley gebe, daß es einen betrunken mache. Vielleicht habe sie recht. Ihn störe das nicht. Es sei die einzige Art von Rausch, die ihm Vergnügen bereite. Zu seinen frühesten Erinnerungen gehörten große Fliederzweige in weißen Vasen, deren starker betörender Duft das Haus erfüllte.

Auf der linken Seite des kleinen Pfades, der durch das Tal zur Bucht hinunterführte, seien Azaleen und Rhodo-dendron gepflanzt, und wenn man hier an einem Maiabend nach dem Essen entlanggehe, dann stehe der Duft wie ein feuchter Dunst um die Büsche. Dann trete man etwas schwindlig und betäubt aus dem Tal heraus, und vor einem breite sich die harte weiße Fläche des Strandes und des stillen Meeres aus. Ein seltsamer, vielleicht zu plötzlicher Gegensatz ...

Während er so erzählte, wurde unser Wagen wieder einer von vielen; die Dämmerung war hereingebrochen, ohne daß ich es bemerkt hatte, und wir befanden uns mitten im Lichterschein und Straßengewühl von Monte Carlo. Der Lärm zerrte an meinen Nerven, und die Lichter kamen mir viel zu grell und viel zu gelb vor. Es war ein unvermittelter, unwillkommener Übergang.

Bald würden wir im Hotel angelangt sein, und ich suchte in der Wagentasche nach meinen Handschuhen. Ich fand sie, und meine Hand umschloß zugleich mit ihnen auch ein Buch, dessen schmale Form den Gedichtband verriet. Ich versuchte den Titel zu lesen, als der Wagen auch schon vor dem Hoteleingang anhielt. «Nehmen Sie es mit und lesen Sie drin, wenn Sie wollen», sagte er. Seine Stimme war wieder kühl und gelassen, jetzt, da die Fahrt vorüber und Manderley viele hundert Meilen entfernt war.

Ich freute mich und umklammerte das Bändchen zusammen mit den Handschuhen. Ich wollte nach diesem Tag etwas haben, das ihm gehörte.

«Auf Wiedersehen», sagte er, «ich muß den Wagen noch zur Garage bringen. Ich werde Sie abends im Speisesaal nicht mehr sehen. Ich esse auswärts. Aber danke für den heutigen Tag.»

Ich stieg allein die Treppe zum Hotel hinauf, mit der ganzen Niedergeschlagenheit eines Kindes, wenn ein schöner Ausflug vorüber ist. Der Nachmittag hatte mich für die Stunden, die noch blieben, verdorben, und ich dachte, wie lang es mir vorkommen würde, bis es Zeit zum Schlafengehen war, und wie öde mein einsames Abendessen. Ich brachte nicht den Mut auf, mich den Fragen der Pflegerin dort oben auszusetzen oder Mrs. Van Hoppers Neugier, und ich setzte mich daher in eine Ecke des Gesellschaftszimmers hinter eine Säule und bestellte mir Tee.

Der Kellner schien gelangweilt; kein Grund zur Eile, da ich ja allein war. Überdies war es gerade jene sich endlos dahinschleppende Tageszeit, kurz nach halb sechs, wenn der Hoteltee vorüber und die Cocktailstunde noch fern ist.

Ich fühlte mich ziemlich verlassen und mehr als ein wenig unzufrieden. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und griff nach dem Gedichtband. Das Buch sah zerlesen und abgenutzt aus und öffnete sich von selbst an einer offensichtlich häufig aufgeschlagenen Stelle.

Und durch der Jahre Bogengang.

Des Grübelns viel verschlungenen Pfad entlang Floh ich vor ihm. Der Tränen Schleier nicht

Und nicht des Lachens Fluß verbarg mich ihm.

Der Hoffnung steilen Berg hinan

Stürzt' ich, und strauchelnd fiel ich dann

In Grüfte tief, wo Furcht mit Schwermut stritt.

Doch näher, immer näher klang sein schwerer Schritt.

Ich kam mir vor wie jemand, der durch das Schlüsselloch einer verschlossenen Tür blickt, und mit etwas schlechtem Gewissen legte ich das Buch aus der Hand. Was für ein Gespenst der Vergangenheit mochte ihn heute nachmittag auf den Berg getrieben haben? Ich dachte an das Auto und die halbe Wagenlänge, die es nur vom Abgrund trennte, und dachte an sein ausdrucksloses Gesicht. Welche Schritte hörte er wohl im Geiste, welche flüsternde Stimme -was für Erinnerungen hatten sich seiner bemächtigt, und warum lag ausgerechnet dieses Gedicht in der Wagentasche?

Der mürrische Kellner brachte mir den Tee, und während ich den trockenen Toast aß, dachte ich an den Weg durch das Tal, den er mir am Nachmittag beschrieben, an den Duft der Azaleen und an die weiße Küste der Bucht. Wenn er das alles so sehr liebte, warum suchte er dann den falschen Glanz von Monte Carlo? Er hatte Mrs. Van Hopper erzählt, er sei ganz überstürzt hergefahren und habe noch gar keine weiteren Pläne. Und ich stellte mir vor, wie er jenen Pfad durch das Tal entlanglief, verfolgt von dem Gespenst seiner Erinnerungen.

Ich nahm das Buch wieder auf, und diesmal öffnete es sich an der Titelseite, und ich las die Widmung: «Max von Rebecca, den 17ten Mai», in einer merkwürdig schräg gestellten Schrift. Ein kleiner Tintenklecks hatte die leere gegenüberliegende Seite befleckt, als hätte die Schreiberin voll Ungeduld ihren Federhalter geschüttelt, um die Tinte reichlicher fließen zu lassen. Und dann war sie wohl ein wenig zu stark durch die Spitze geflossen, so daß der Name Rebecca sich tiefschwarz abhob, und das ausladende schiefe R drängte gleichsam die kleineren Buchstaben beiseite.

Ich schlug das Buch zu und legte es neben mich unter die Handschuhe. Dann beugte ich mich zu einem Stuhl in der Nähe, nahm ein altes Heft der Illustration auf und blätterte darin. Die Nummer enthielt ein paar schöne Photos von den Loire-Schlössern mit einem längeren Artikel darüber. Ich las ihn genau und verglich den Text mit den Bildern; doch als ich damit fertig war, merkte ich, daß ich kein Wort von dem Gelesenen verstanden hatte. Nicht Blois mit seinen schlanken Türmen und Zinnen starrte mir aus der Seite entgegen, sondern das Gesicht von Mrs. Van Hopper, wie sie am Tag vorher im Speisesaal, ihre mit Ravioli beladene Gabel hoch in der Luft, gesagt hatte:

«Eine grauenhafte Tragödie, die ganzen Zeitungen waren natürlich voll davon. Er soll niemals darüber reden und nie ihren Namen erwähnen. Sie ertrank nämlich in einer Bucht dicht bei Manderley ...»

Загрузка...